Massive Proteste bei VW und Thyssen. Ernüchternde Prognosen zum Wirtschaftswachstum. Wird Deutschland wieder zum „kranken Mann Europas“?
Die Betriebsversammlung von VW geriet zu einer großen und lautstarken Protestkundgebung. Ein Protest mit Ansage, nachdem die Sparpläne der Konzernspitze bekannt geworden waren. Und nachdem ruchbar wurde, dass selbst Werksschließungen in Deutschland nicht mehr ausgeschlossen sein könnten. Und auch die Beschäftigungssicherung, die eigentlich noch bis 2029 vereinbart ist, sollte kein Tabu mehr sein. Dass das Betriebsrat, Gewerkschaften und natürlich die Belegschaften selbst auf die Barrikaden bringt, war logische Konsequenz. „Mit uns ist das nicht zu machen“, erklärte Betriebsratschefin Daniela Cavallo und kündigt erbitterten Widerstand an. Zumal aus Sicht des Betriebsrats nicht die Belegschaften, sondern Managementfehler Schuld an der Misere von Europas größtem Autobauer sind.
Deutsche Konzerne sparen
Ein paar Tage zuvor gab es auch in Duisburg Bilder einer erbosten und aufgebrachten Belegschaft. Bei Thyssenkrupp Steel richtete sich der Zorn der Belegschaft gegen den Einstieg des tschechischen Milliardärs Daniel Kretinsky. Der soll mit seiner Holding EPCG zunächst 20 Prozent von Thyssenkrupp Steel übernehmen, mit der Perspektive auf 50 Prozent. Die Stahlsparte soll auf „grünen Stahl“, produziert mit „grünem Wasserstoff“, umgebaut werden, was immense Investitionen erfordert, weshalb der Konzern schon lange nach einem Investor gesucht hat. Kretinsky und seine Holding EPCG sind im Stromhandel aktiv, der kommt aber bislang vor allem aus fossiler Energie, vor allem Braunkohle. Nicht nur das rief Misstrauen hervor, sondern auch das Gebaren des Investors bei anderen Engagements.
Auch bei Europas größtem Chemiekonzern BASF lauten die Überschriften: Sparprogramm, Stellenabbau. Zuletzt wurden Zahlen bekannt, wonach BASF Ludwigshafen rund vier Millionen Euro Verlust einfährt – täglich. Als Konsequenz wurden besonders energieintensive Anlagen bereits abgeschaltet. Gleichzeitig investiert der Konzern Milliardenbeträge in neue Anlagen – nur eben nicht in Deutschland.
Auto, Stahl, Chemie – an den Grundpfeilern des Industriestandortes Deutschland bebt es. Und die Wachstumsprognosen für diesen wurden Anfang September erneut nach unten korrigiert. Das Ifo-Institut nennt zu geringe Investitionen, schlechte Auftragslage und zu geringe Konsumnachfrage als Gründe. Demnach soll es wohl nur noch ein Nullwachstum geben, nachdem man ursprünglich noch von einem zumindest kleinen Wachstum von 0,4 Prozent ausgegangen war. Nächstes Jahr soll es nur wenig aufwärts gehen, 0,9 Prozent (statt ursprünglich erwarteten 1,5 Prozent).
Die grundsätzliche Entwicklung ist nun schon eine geraume Zeit im Gang und die Gründe sind vielfältig: Dekarbonisierung, Digitalisierung, demografischer Wandel, Corona-Pandemie, Energiepreisschock und eine veränderte Rolle Chinas in der Weltwirtschaft, listet beispielsweise das Ifo auf. Die Liste ließe sich ergänzen, etwa durch die Rolle der USA, die mit Inflation Reduction Act (IRA) eine massive Investitionswelle ausgelöst haben, nicht zuletzt mit dem Ziel, die US-amerikanische Wirtschaft klima- und damit zukunftsfest aufzustellen. Europa hatte zwar mit seinem Green Deal zeitlich die Nase vorn, das Paket des IRA wiegt aber allein durch den Umfang der Investitionen ungleich schwerer.
Unter diesen Rahmenbedingungen gibt die deutsche Wirtschaft im Vergleich zu den anderen großen Industrienationen und im europäischen Vergleich kein gutes Bild ab. Im vergangenen Jahr ist die Wirtschaft geschrumpft. Während alle andere auf einem zumindest leichten Wachstumskurs waren, stand bei Deutschland ein Minus vorn. In diesem Jahr wurde ein ums andere Mal die Wachstumsprognose nach unten korrigiert. Dass Deutschland in diesem Jahr am schlechtesten von allen wichtigen Volkswirtschaften abschneiden würde, hatte der Internationale Währungsfonds IWF schon zu Jahresbeginn erwartet. Aus dessen Sicht ist ein wesentlicher Grund, dass Deutschland auch am stärksten vom Krieg in der Ukraine betroffen war, insbesondere in der Folge massiv gestiegenen Energiepreise zu finden. Die sind in Deutschland ohnehin hoch und schlagen bei energieintensiven Industrien umso mehr durch. Den Wettbewerbsnachteil dadurch kritisiert die Wirtschaft auch seit Jahr und Tag.
„Die deutsche Wirtschaft steckt fest, und sie dümpelt in einer Flaute“, fasst Ifo-Konjunkturchef Timo Wollmershäuser die Lage zusammen. Eine strukturelle Krise, weil seit geraumer Zeit zu wenig investiert wird, vor allem in der Industrie, gleichzeitig die Produktivität stagniert.
All das hat in den letzten Tagen zu düsteren und pessimistischen Schlagzeilen geführt, von „Katzenjammer in der deutschen Wirtschaft“, über „Deutschland versinkt immer mehr in der Wirtschaftskrise“ bis zu „Das nächste verlorene Jahr“. Die Frage bleibt, warum sich die Entwicklung so eingestellt hat.
Zum Jahreswirtschaftsbericht 2024, den die Bundesregierung kürzlich verabschiedet hat, kommentiert Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne), dass die deutsche Wirtschaft über die vielfältigen Krisen, ausgelöst durch den Krieg in der Ukraine, „langsamer hinwegkommt als gehofft“. Es gebe ein historisch niedriges Wachstum des Welthandels. Dies treffe die starke Exportwirtschaft in Deutschland besonders. Hinzu kämen Kaufkraftverluste durch hohe Inflation und weniger Investitionen wegen hoher Zinsen. Die Sparquote ist gestiegen, die Binnennachfrage gesunken.
Ampel-Paket für die Wirtschaft
Mit den Beratungen über den Haushalt 2025 haben sich die Spitzen der Ampel-Regierung auch auf ein Konjunkturpaket verständigt, um Wirtschaftswachstum anzukurbeln. Dabei geht es um Steuervorteile für Unternehmen, Anreize für das Arbeiten im Alter und Maßnahmen zum Bürokratieabbau. Wenn das alles greift, soll es – so die Erwartung – für 0,5 Prozent Wachstum gut sein. Ob das reicht, dass Deutschland die Rote Laterne wieder abgeben kann?
Im Gegensatz zu den aktuellen internationalen Rankings in Sachen Wachstum schneidet Deutschland beim Globalen Innovationsindex (GII) 2023 gar nicht so schlecht ab. Der GII, der von den Vereinten Nationen als Maßstab für die Messung von Innovationen anerkannt ist, vergleicht 132 Nationen. Deutschland behält Platz acht (wie 2022, 2021 war es Platz zehn).
Spannender als die Platzierung ist die Analyse der Faktoren, die hinter dem Ranking stehen. Sie zeigt die Aufgaben, vor denen die Wirtschaft hierzulande steht, Sie stammt von Roland Berger für den BDI, Basis ist das Ranking 2021, an dem sich aber nichts Wesentliches geändert hat. Dort heißt es: „Deutschlands Position ist über die gesamte Beobachtungsperiode hinweg (das heißt seit 2005) recht konstant. Ein Aufschließen zur Spitzengruppe oder eine kontinuierliche Verbesserung der Innovationsfähigkeit sind nicht zu erkennen. Die gute Nachricht ist, dass Deutschland in einem sich rasch wandelnden und durch verschiedene Krisen gekennzeichneten globalen Umfeld seine Innovationsfähigkeit erhalten konnte. Die schlechte Nachricht ist, dass wenig dynamische Strukturen ein Hemmnis darstellen, wenn größere Anpassungen notwendig werden“.
Zum Thema Schlüsseltechnologien wird ausgeführt: „Deutschland hat im Zeitverlauf einige Rangplätze eingebüßt, konnte aber den durchschnittlichen Indexwert über alle Schlüsseltechnologien weitgehend konstant halten. Allerdings droht es bei einigen der Technologien zurückzufallen, weil andere Länder stärker investieren und sich stärker engagieren. Deutschland hingegen folgt dort bestenfalls dem allgemeinen Trend“.
Und in Sachen Nachhaltigkeit: „Insgesamt zeigt sich, dass das deutsche System in seiner Breite auf Nachhaltigkeitsthemen ausgerichtet ist, auch wenn es bei zentralen Erfolgsindikatoren der Wirtschaft, wie zum Beispiel Umweltinnovationen, FuE (Forschung und Entwicklung) in erneuerbaren Energien und Patenten etwas zurückliegt“.