Der 35-jährige Samuel Koch trotzte einer unfallbedingten Querschnittslähmung – dank der Stehaufkraft und vielen Menschen. Im Interview spricht der Schauspieler, Buchautor und Redner über Momente der Stille, seinen Glauben und darüber, was seinem Leben Sinn gibt.
Herr Koch, eigentlich wollte ich Sie als Erstes fragen, was Ihnen nach dem Unfall vor zwölf Jahren in der „Wetten dass..?“-Sendung die Kraft gegeben hat, weiterzuleben. Aber in Ihrem Buch „Stehaufmensch!“ schreiben Sie, dass Sie diese Frage kaum beantworten können. Warum fällt Ihnen das so schwer?
Erstens ist die Antwort sehr umfangreich, sie würde zwischen zwei Buchdeckel passen. Und zweitens weiß ich nicht, wie sinnvoll die Beantwortung der Frage überhaupt ist. Für mich war es ein Aha-Erlebnis in der Rehabilitationszeit in der Schweiz, als ich feststellte, dass Resozialisierungsmaßnahmen für mich zum damaligen Zeitpunkt absolut das Falsche waren. Man sagte mir: „Herr Koch, Sie müssen jetzt ins Casino zum Essen, Sie dürfen nicht mehr in ihrem Zimmer essen.“ Ich sollte wieder unter Menschen gehen, um mich zu akklimatisieren. Ich bin sicher, dass es der richtige Schritt für meinen Zimmernachbarn gewesen war, weil der sich eingeigelt hat und mit seiner neuen Lebenssituation nicht zurechtkam. Aber bei mir war das anders. Ich musste einen Besuchsplan für meine Familie und Freunde erstellen. Daher war ich dankbar, wenn ich ein paar Minuten für mich hatte. Das hat mir gezeigt: Was für den einen in seiner Situation genau das Richtige ist, ist für den Nächsten genau das Falsche. Natürlich kann ich persönlich erzählen, was mir geholfen hat – das waren meine Familie, Freunde und Menschen, die um mich herum waren, mit mir gelacht, geweint, geschwiegen und Pläne geschmiedet haben. Ein weiterer Punkt ist neben den vielen Menschen das Stille-Sein, das Mit-sich-allein-sein-Können und wieder eine Aufgabe zu haben.
„Stehaufmensch!“ soll idealerweise Inspiration bieten, seine eigene Stehaufkraft zu finden, zu bündeln und zu leben. Kann jeder diese Kraft in sich entdecken und freisetzen – auch ohne, dass einem ein schwerer Schicksalsschlag wie vielleicht Ihnen widerfahren ist?
Das wollte ich natürlich auch vom Hirnforscher Gerald Hüther wissen, der in meinem Buch „Stehaufmensch!“ das Vorwort geschrieben hat. Meine Frage hat er erfreulicherweise mit „Ja“ beantwortet. Man kann das Wollen nicht herbeizwingen. Wenn jemand sich nicht wirklich verändern will oder neue Kräfte in sich entdecken will, ist das schon sehr schwierig. Gerald Hüther spricht sogar davon, dass man seine DNA verändern kann – die Neurobiologie hat dafür den Begriff Epigenetik geprägt. Das geht paradoxerweise leichter durch traumatische Erlebnisse, denn durch Traumata können sich Hirnstrukturen verändern. Aus diesem Austausch ist letztlich der zynisch klingende Satz entstanden: „Wer viele Probleme hat, hat mehr Chancen glücklich zu sein“. Probleme zu lösen, macht glücklich, weil dabei Serotonin im Hirn aufgeschüttet wird.
Nicht Resilienz-Ratgeber haben Sie weitergebracht, sondern Gespräche mit anderen Menschen, in denen Sie durch Zuhören den Umgang mit Krisen und Schicksalsschlägen erfahren haben. Wer hat Sie dazu inspiriert, sich Ihre eigenen Lösungsansätze zu suchen?
Das möchte ich noch einmal zeitlich differenzieren. Den Unfall hatte ich 2010, woraufhin ich ein Jahr in der Reha war und dann an die Uni zurückgekehrt bin. In der Folgezeit war ich im Leben unterwegs, bin meine Wege und manchmal auch Umwege gegangen. Erst wesentlich später habe ich angefangen, meine Gesprächspartner zurückzufragen: „Was gibt dir denn Kraft? Was macht dich denn stark?“ Die Antworten waren überraschend unterschiedlich. Das Buch, das von der Stehaufkraft handelt, ist eine Reflexion über diese Gespräche. Das Thema Resilienz war in aller Munde. Ich dachte mir, wenn ich schon ein Buch darüber schreibe, dann soll es auch wirklich hilfreich sein und nicht nur den Menschen einen theoretischen Sieben-Schritte-Plan an die Hand geben.
Das Einzige, woraus Sie Kraft schöpfen, was Sie antreibt und immer wieder aufstehen lässt, ist das, was über Sie hinausweist, sagen Sie. Wie kann man sich dieses abstrakte Etwas, das größer und wichtiger ist als ein Einzelner, vorstellen?
Um in einem Bild zu sprechen: Wenn ich am Boden liege, dann habe ich keine Chance aufzustehen, wenn ich mich nicht auf etwas abstütze oder an etwas hochziehe, was stärker ist als ich. Der Baron von Münchhausen behauptet, dass er sich am eigenen Haarschopf packen und aus dem Sumpf herausziehen kann. Das ist aber physikalisch unmöglich. Um sich aus dem Sumpf des Lebens herausziehen zu können, muss etwas da sein, was stärker und vielleicht auch größer ist als man selbst. Ich habe vorhin die stillen Momente, die für mich elementar wichtig sind, angesprochen. Was kann das sein? Am ehesten würde man heute von einem übergeordneten Sinn sprechen. Entscheidend ist für mich, dass ich glaube, dass wir nicht aus Zufall auf dieser Welt sind. Vielleicht bin ich auch erst durch den Verlust der Beweglichkeit an diesen Punkt gekommen. (Hebt seinen rechten Arm und zeigt die Finger seiner rechten Hand) Hier, diese Finger schlafen, die sind tot.
Aber den Arm können Sie bewegen …
Worauf ich hinaus will: Vielleicht erst durch den Verlust der Bewegungsfähigkeit habe ich festgestellt, wie faszinierend es ist, einen Finger zu bewegen, eine Geige zu spielen oder die Partitur für eine Sonate zu schreiben. Wenn ich raus in die Natur schaue, bin ich fasziniert von den Naturphänomenen, teilweise auch von der Zwecklosigkeit der Schönheit und der unsichtbaren Intelligenz, wie alles zusammengehalten wird. Ich kann nicht glauben, dass das aus Versehen passiert ist. Oder anders gesagt: Mein Glaube ist zu klein, als dass ich mir vorstellen kann, dass alles Zufall ist. So denke ich, dass alledem etwas Intelligentes, Schönes und Liebendes zugrunde liegen muss. Ich füge mich dem ein, das ist tröstlich und macht Hoffnung. Das meinte ich mit diesem abstrakt klingenden Satz.
Seit fünf Semestern studieren Sie an der Universität Heidelberg mit großer Ernsthaftigkeit Philosophie und Theologie. Was ziehen Sie aus diesem Studium für sich als Schauspieler, Buchautor und Redner?
Ich habe noch vor Corona das Studium aus Neugier und Wissbegier begonnen. Wie Sie gerade merken, rede ich in den letzten Jahren – und auch jetzt gerade – viel. Ich werde oft als Redner eingeladen und auch in meinem Beruf als Schauspieler rede ich viel. Im Grunde hat mich zu dem Studium auch eine Sehnsucht nach Input getrieben. Es gibt einfach so viel Literatur, deren Lektüre ich niemals bewältigen kann. Da ist das Studium ein schönes Hilfskonstrukt, dass mir ausgewählte Literatur vorgegeben wird.
Und was gibt Ihnen die Theologie?
Ich halte sehr viel von der Bibel und denke, dass ein großer Teil der Weltbevölkerung dieses Buch sehr unterschätzt. Manche über- und fehlinterpretieren das, was in der Bibel steht. Ich habe drei Jahre lang Faust am Staatstheater Darmstadt gespielt, der ja auch Theologie studiert und damit sehr gerungen hat. Theologie geht auch weit über Bibelkunde hinaus, und ich mag gerade den Kontrast von Philosophie und Theologie …
Sie werden oft von Menschen um Rat gefragt, und Sie möchten auch gern helfen. Aber Sie fragen sich wie Sie helfen können und vor allem, welche Hilfe etwas bringt. Wie haben Sie das Problem mittlerweile gelöst?
Das kommt natürlich immer auf das Gegenüber an. Ich bin immer dankbar, wenn man praktisch helfen kann. Unser Verein „Samuel Koch und Freunde“ hilft vor allem Familien, die an die Grenzen ihrer Belastbarkeit gestoßen sind. Seit Februar sind wir eingebunden in die Evakuierung und Unterbringung von Menschen mit Behinderung aus der Ukraine. Mehr als 60 Geflüchtete fanden bereits Schutz und Sicherheit in einer Gemeinschaftsunterkunft im baden-württembergischen Bad Bellingen. Jeden Tag sind dort etliche Notfälle zu bewältigen. Es ist fast so, als würden wir ein privat geführtes Reha-Zentrum betreiben. Praktische Hilfe ist das eine, das andere ist die Frage, was man jemandem rät, dessen Leben zielstrebig auf den Tod zusteuert. Das Dilemma besteht darin, dass ich zwar erzählen kann, was mir geholfen hat. Aber meine Probleme und meine eigenen Lösungsansätze gelten nicht zwangsläufig für mein Gegenüber. Meiner Erfahrung nach ist oftmals ein wahrhaftiges Zuhören, ein aufrichtiges Interesse und Mitgefühl wichtiger geworden.
„Mein Vertrauen auf Gott ist ein Wert, der sich entwickelt und verändert und immer neue Dimensionen bekommt“, schreiben Sie in „Stehaufmensch!“. Kann man sagen, dass dieses Gottvertrauen Sie durchs Leben trägt, aber Sie auch umgekehrt etwas dafür tun müssen, damit dessen Tragkraft sich nicht abnutzt?
Ich stelle mir das vor wie eine Beziehung, die mal intensiver, mal wie eine Fernbeziehung sein kann, aber in die man stets wechselseitig investiert und für die man sich Zeit nimmt. Ich liebe und ehre meine Frau, aber ich verstehe sie auch nicht immer. Heute Morgen hat mich ein Freund angerufen, dessen Frau sich einer lebensgefährlichen Operation unterziehen musste. Sie wurde in ein künstliches Koma versetzt. Mich hat diese Nachricht sehr schockiert und bedrückt. Gleichzeitig dachte ich, das kann nicht wahr sein. Ich komme immer wieder an den Punkt, an dem ich Gott und die Welt nicht mehr verstehe. Dann denke ich, dass Hoffnung, Glaube, Liebe schön und gut und tröstend sind. Aber spätestens, wenn ein Kind wieder und wieder sexuell missbraucht wird, dann erkläre ich mir das so, dass ein Gott auch den freien Willen der Täter respektiert. Das ist zwar ein schwacher Trost, aber ich befürchte, wir werden nie auf alle Fragen der Welt eine Antwort bekommen. Wenn‘s so weit ist, dann werde ich Gott diese Fragen stellen.
Über Ihren Vater, der ja am Unfallhergang beteiligt war, schreiben Sie, dass er kurz nach diesem schrecklichen Ereignis in einem Interview behauptete, dass er wisse, dass Sie wieder glücklich werden würden. Warum war für Sie so wichtig, dass Ihre Eltern Ihnen in dieser Situation Zuversicht gegeben und gesagt haben, dass alles gut wird?
Meine Erfahrung ist, dass der Spruch „Alles wird gut“ oft banalisiert und nicht sehr reflektiert angewandt wird. Wenn man realistisch ist, gibt es einfach Situationen, die einfach nicht gut werden. Als mein Vater diesen Satz äußerte, hat er darauf vertraut und gehofft, dass ich – egal wie die Umstände sind – stark genug bin, um wieder glücklich zu werden. Was Sie erwähnt haben, sagte meine Mutter zu mir. Das war in einer akuten Situation, als mich die Schmerzen so peinigten und ich gar keine Perspektive mehr gesehen habe. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich zu meiner Mutter sagte: „Bitte sag mir einfach, dass alles gut wird“. In solchen Momenten, in denen man kaum Herr seiner Sinne ist, ist ein tröstliches Wort der eigenen Mutter hilfreich, auch wenn es sich wirklich sehr banal anhört.
Sie als Tetraplegiker teilen vermutlich mit allen übrigen Menschen mit Querschnittslähmung den Wunsch, irgendwann wieder laufen zu können. Wie wahrscheinlich ist es, dass Sie eines Tages wieder auf den Beinen stehen können?
Das ist schwierig zu sagen. Ich bin natürlich im Austausch mit der Stiftung „Wings for Life“, die weltweit führend auf dem Gebiet der Rückenmarksforschung ist und auch mit dem Wissenschaftlichen Direktor Prof. Jan Schwab. Die Experten sind sich sicher, dass es irgendwann so weit sein wird – es ist nicht die Frage, ob, sondern nur noch wann das möglich ist. Ob das Zeit meines Lebens der Fall sein wird, weiß ich nicht. Ich hoffe das zumindest. Mir persönlich ist es auch wichtig, dass, falls das nicht eintritt, ich mich trotzdem gut damit arrangiere, wie es jetzt ist. Auch wenn es paradox klingt: Ich versuche, zufrieden zu sein, ohne mich zufriedenzugeben. Sonst würde ich mich nicht für diesen Bereich starkmachen. Die neurologische Forschung ist im Vergleich zu anderen medizinischen Bereichen verhältnismäßig jung. Würde mir heute der Unfall passieren, gäbe es realistische Chancen, dass ich nicht mehr querschnittsgelähmt sein müsste. In den letzten Jahren ist in der Rückenmarkforschung sehr viel passiert.