Die Geschäftsgrundlage in Deutschland verändert sich, und es ist noch nicht klar, was stattdessen kommt, sagt Annegret Kramp-Karrenbauer. Die ehemalige Ministerpräsidentin, Verteidigungsministerin und unter anderem Vorsitzende der Kinder- und Jugendstiftung über Verteidigungsbereitschaft, Dienstpflicht, gute Schulen und einen respektvollen Umgang.
Frau Kramp-Karrenbauer, müssen wir wieder kriegstauglich werden?
Ich erinnere mich an einen General, der das Wort vor ein paar Jahren in den Mund genommen hat und dafür einen erheblichen Shitstorm geerntet hat. Was wir auf jeden werden müssen: verteidigungsbereit – für den absoluten Ernstfall, dass jemand uns angreift. Wir müssen uns fragen: Was brauchen wir an Widerstandsfähigkeit, an Strukturen, an Fähigkeiten, sowohl allgemein, aber auch jeder Einzelne. Das ist ein System, das wir wieder neu aufbauen müssen.
Vor ein paar Jahren wäre eine solche Debatte ein völliges No-Go gewesen. Heute geht es fast weniger um das Ob als um das Wie. Was hat sich da verändert?
Die Realität beziehungsweise vor allem die Wahrnehmung dieser Realität hat sich verändert. Man muss sagen, dass es sicherlich seit Georgien (Kaukasuskrieg 2008, Anm. d. Red.) und der Besetzung der Krim (2014) eine reelle Gefahr gab und gibt, mit Blick auf das, was Putin plant, und sein Weltbild mit Blick auf Russlands Nachbarn. Im Februar 2022 ist dann allen bewusst geworden, dass er alles, was er gesagt und geschrieben hat, auch de facto macht. Das hat den Blick auf diese Realität sehr geschärft. Auf diese Wirklichkeit und ihre Herausforderungen sind wir im Moment nicht optimal vorbereitet, und daran müssen wir alle in Deutschland arbeiten.
Was die Ausstattung der Bundeswehr betrifft, ist die Situation hinlänglich bekannt. Inwieweit ist es auch eine mentale Frage?
Es wird oft diskutiert: Was muss die Politik machen, was muss die Bundeswehr machen, was muss wer auch immer machen – aber es ist im Grunde eine Frage, die sich an jeden Einzelnen von uns stellt. Wir haben uns daran gewöhnt, in Frieden zu leben, in Sicherheit zu leben, in Freiheit zu leben, auch in individuellen Freiheiten, die größer sind als in anderen Gesellschaften. Die Frage ist: Sind wir bereit, uns dafür auch einzusetzen, auch zu kämpfen, und das im Inneren, wenn es um unsere Demokratie geht, aber auch gegen die Bedrohung von außen. Es ist menschlich zu sagen: Vielleicht geht das an uns vorbei, vielleicht betrifft uns das nicht. Ich glaube, die Hauptaufgaben, die wir zu erledigen haben, und zwar jeder Einzelne, ist, uns bewusst zu machen: Es geht nicht einfach vorbei. Wenn wir die Augen schließen, ist die Gefahr nicht weg. Es gilt die alte Erfahrung: Man wird dann nicht angegriffen, wenn der Angreifer weiß, dass der Preis, den er dafür zu zahlen hat, zu hoch wäre. Das fängt im eigenen Kopf an und setzt sich dann auch in politischen Entscheidungen, in Strukturen und in der Breite der Gesellschaft fest.
Was die Gesellschaft betrifft, stehen unterschiedliche Vorschläge im Raum, von einer modifizierten Wehrpflicht bis zu einer allgemeinen Dienstpflicht. Wo sollen wir anfangen?
Man muss dabei sehr genau überlegen, welche Absicht sich damit verbindet. Die Debatte, die von Boris Pistorius angestoßen wurde, eine Wehrpflicht wieder aufleben zu lassen in angepasster Form, etwa wie in Schweden, hat mit Verteidigungsbereitschaft im unmittelbaren Sinn zu tun und der Frage, ob wir genügend Männer – darauf bezieht er sich – haben, die nach einer gewissen Ausbildung in der Lage sind, unser Land als Soldat zu verteidigen. Die Debatte um eine allgemeine Dienstpflicht, so wie ich sie geführt habe, hat einen anderen Ansatz: In unserer Gesellschaft spielt das Individuum eine deutlich größere Rolle als früher, was für viele einen deutlichen Zugewinn an Lebensqualität bedeutet. Aber was hält uns dann noch zusammen? Muss man ein Gemeinschaftsgefühl durch eine Institution unterstützen, vielleicht wieder neu schaffen? Wir diskutieren als Staatsbürger sehr stark über unsere Rechte – was ja auch richtig ist. Aber was ist mit unseren Pflichten als Staatsbürger? Sicherlich nicht nur, Steuern zu bezahlen. Es gibt noch mehr Pflichten und einen Unterschied zwischen „Kunde“ und Staatsbürger. Und dann reden wir über eine allgemeine Dienstpflicht. Eine, die Angebote sowohl im militärischen Bereich, aber auch im Zivilschutz, im sozialen Bereich, im Umweltbereich macht. Eine, die vor allem auch Männer und Frauen gleichermaßen anspricht, und – nach meiner Meinung – auch die umfasst, die vielleicht keine deutsche Staatsbürger sind, aber einen dauerhaften Aufenthaltsstatus in Deutschland haben, und um es gleich zu sagen: Ich weiß um die verfassungsrechtlichen Probleme. Man muss also genau unterscheiden, was man eigentlich will. Wenn es vorrangig um verteidigungsfähig und abwehrbereit geht, führt man eine andere Debatte, als wenn es um eine allgemeine Dienstpflicht geht.
Verteidigungsbereitschaft im Äußeren und im Inneren hängt inzwischen eng zusammen. Es gibt Einflussnahme von außen und Anfälligkeit für bestimmte Positionen, wenn etwa fast wortgleich Positionen von Moskau wiedergeben werden. Aufklärung alleine wird kaum reichen. Was tun?
Offene Kommunikation darüber und immer wieder bewusst machen, wo die Gefahren liegen. Wir wissen mit Blick auf die Ausschreitungen in Großbritannien nach den schrecklichen Morden an Kindern, dass die sich auch so entwickelt haben, nachdem in sozialen Netzwerken falsche Angaben über den Täter gemacht wurden – und es gibt durchaus Hinweise, dass das über Russland gesteuert worden ist. Es ist ein klassisches Beispiel, wie man mit Fehlinformationen von außen eine offene Gesellschaft auseinandertreiben kann. Das muss man sich immer bewusst machen. Es gibt auch andere praktische Beispiele: Wenn man Energieversorgung als ziviles Ziel für einen Angriff hat, braucht man das heute nicht mehr mit Bomben zu machen, sondern kann die IT-Steuerung eines Kraftwerks lahmlegen. Vieles in unserem Leben basiert auf Satelliten: Navigation, Kommunikation, und wir wissen beispielsweise, dass China in der Lage ist, Satelliten auszuknipsen oder umzusteuern. Es ist eine ganz andere Art von Bedrohung – und über die müssen wir offen reden. Mein Eindruck ist allerdings, dass das in Deutschland sehr viel schwieriger ist als in anderen Staaten. Ich hatte die Hoffnung, dass wir die Zeitenwende-Rede des Kanzlers für eine noch breitere öffentliche Debatte darüber, was uns bedroht und wie wir uns dagegen wehren, hätten nutzen können. Das Ergebnis finde ich eher ernüchternd.
Sie sind unter anderem im Zentralkomitee der Deutschen Katholiken (ZdK), dem obersten Laien-Gremium der Katholischen Kirche in Deutschland, engagiert. Wie werden diese Themen auf dieser Ebene diskutiert?
Ich leite im ZdK den Fachbereich VI mit den Themen Internationales und Nachhaltigkeit. Da sind Vertreter von Pax Christi bis zum Büro des Militärbischofs vertreten. Das repräsentiert die gesamte Breite der Meinungen, wenn es um Russland-Ukraine geht, oder Israel und Gaza und ganz grundlegenden Fragen von Krieg und Frieden. Worauf ich stolz bin: Es ist uns gelungen, zur letzten Vollversammlung des ZdK (beim Katholikentag Ende Mai) ein Papier vorzulegen, das genau diese Spannung aufnimmt und sagt: Wir als Christen verstehen es als unsere Aufgabe, uns vor dieser Spannung nicht wegzuducken, sondern wir sind einer der wenigen Orte, wo man darüber auch noch in Respekt voreinander darüber redet und im positiven Sinne streitet. Was ich an vielen Stellen feststelle: Die Fähigkeit, respektvoll miteinander zu reden und im besten Sinne des Wortes zu streiten, auch auszuhalten, dass jemand eine andere Meinung hat und sich trotzdem mit Argumenten auseinanderzusetzen – das ist etwas, was wir wieder stärken müssen, vielleicht neu lernen müssen. Und das fängt schon früh bei Kindern und Jugendlichen an.
Womit Sie sich auch als Vorsitzende der Kinder- und Jugendstiftung beschäftigen. Was macht diese Stiftung?
Bei der Kinder- und Jugendstiftung, wo ich den Vorsitz übernommen habe, ist neben der Arbeit an guten Kitas und Schulen einer der wichtigsten Punkte die Frage: Wie entwickeln und stärken wir bei Kindern und Jugendlichen die Fähigkeit miteinander zu reden? Wie können wir über Israel und Palästina reden, auch in Klassen mit einem hohen Migrationsanteil? Wie kann man zeigen, dass man streiten kann, ohne Gewalt anzuwenden, ohne den anderen herunterzusetzen? Das ist eine Kulturtechnik, die verloren zu gehen droht und die wir alle miteinander noch mal lernen müssen.
Welche Rolle spielen dabei Entwicklungen wie Digitalisierung und Migration?
Solche Entwicklungen bieten Chancen aber stellen uns unbestritten vor enorme Herausforderungen. Allein die Digitalisierung verändert die Art wie wir unterrichten, enorm. Wir haben eine Schülerschaft, die sehr viel vielfältiger geworden ist, Schüler aus unterschiedlichen Ländern, aus unterschiedlichen Elternhäusern, mit unterschiedlichen Erlebnissen. Unser Anspruch ist, dass jedes Kind sich bestmöglich entwickeln kann. Es gibt keine End-Gerechtigkeit, die man staatlich vorgeben könnte, aber man kann unterstützen, dass alle Kinder die besten Chancen haben, das Beste aus sich zu machen. Wir wissen, dass es für Kinder in Deutschland immer noch sehr abhängig ist davon, woher sie kommen, welchen Rucksack im wahrsten Sinn des Wortes sie mitbringen. Es ist eine schreiende Ungerechtigkeit, wenn ein Mensch sich nicht entwickeln kann, obwohl er das will, weil er in seinen Lebensumständen, seiner Herkunft hängen bleibt. Daran zu arbeiten, das ist ein großer Antrieb für viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Stiftung. Auch wenn es unterschiedliche Institutionen sind, arbeiten alle mit und für dieselben Kinder. Die Frage ist also, wie man das am besten macht ohne ständig hängen zu bleiben an Bürokratie und Zuständigkeitsdebatten.
Der Befund ist bekannt. Und alleine am Geld scheint es auch nicht zu liegen. Was muss sich ändern?
Wir haben ein komplexes System mit vielen Akteuren. Bildungsföderalismus war immer schon ein Thema. Schon als ich Bildungsministerin im Saarland war (2007 bis 2009), gab es die Debatte, ob man nicht alles lieber zentral machen sollte. Bei unseren Nachbarn in Frankreich gibt es ein zentrales System, da sieht man: Die Ergebnisse sind am Ende des Tages auch nicht so viel besser. Aus meiner Sicht hängt es nicht per se am Bildungsföderalismus, sondern daran, wie wir zusammenarbeiten, wie pragmatisch wir sind und wie sehr wir vor Ort Lehrern und Schulleitungen die guten Rahmenbedingungen und den Spielraum geben, den sie brauchen.
In Schulen zeigen sich gesellschaftliche Veränderungen wie im Brennglas. Zeigt sich damit auch, wie gut wir als Gesellschaft damit umgehen können?
Wir merken, es verschiebt sich etwas in Deutschland. Das Geschäftsmodell ändert sich und es ist noch nicht klar, was stattdessen kommt. Wir sehen, dass Herausforderungen nicht mehr in die alten Schubladen einzuordnen sind, und darauf müssen wir uns einstellen. Es gibt aber eigentlich keinen Grund, warum wir das in Deutschland nicht können sollten.
Ich glaube, dass Pädagogik ein ganz entscheidender Schlüsselfaktor ist. In einer Zeit, in der man Wissen von überallher beziehen kann und sich Wissen immer schneller erneuert und verändert, stellt sich die Frage, wie vermitteln wir Kulturtechniken, um mit diesem Wissen umzugehen. Und das ist eine Frage der Pädagogik.
Aber was wir in Deutschland haben, nicht nur im Bereich der Bildung, sondern generell: viel zu viel Bürokratie, viel zu sehr die Tendenz, alles bis ins Letzte genau zu regeln. Alle, die im Bereich der Bildung arbeiten, von Schule bis Erwachsenenbildung, sagen: Gebt uns mehr Freiraum, mehr Luft. Wir brauchen in Deutschland den berühmten Mut zur Lücke. In schwierigen Krisenzeiten, der Finanzkrise, bei Corona oder als viele Flüchtlinge kamen, war immer am Anfang vieles möglich, weil die Leute gesagt haben: In dieser Krise machen wir das jetzt. Und dann kam immer im zweiten Schritt der Wunsch, alles möglichst genau und sicher zu regeln, sodass man danach keine Debatte, kein Risiko – und auch keinen Gerichtsprozess – mehr hat. Wir müssen uns mehr Lockerheit und Freiheit zumuten. Das hört sich vielleicht etwas seltsam an, wenn das jemand sagt, der ohne Zweifel auch mit eigenen Gesetzen dazu beigetragen hat, dass Bürokratie entstanden ist. Aber Selbsterkenntnis ist ja bekanntlich der erste Schritt zur Besserung. Im Englischen gibt es für Bürokratie den Ausdruck „red tape“, rotes Klebeband. Ich habe immer das Gefühl, wir haben in Deutschland Doppelklebeband. Wenn man über kulturelle Herausforderungen bei uns in Deutschland spricht, dann ist das mit die größte, die wir haben.