Von allen weltweit produzierten Lebensmitteln landen laut WHO jährlich 1,3 Milliarden Tonnen im Müll. Während die einen Hunger leiden, werfen die anderen Essen weg. Das „Atlantic Hotel Sail City“ in Bremerhaven hat sich vorgenommen, es besser zu machen.
Panna Cotta von der Pastinake mit Möhren und Radieschen wird als erster Gang des abendlichen Überraschungs-Menüs im Panorama-Restaurant im Vier-Sterne-Hotel „Atlantic Hotel Sail City“ in Bremerhaven serviert. Der Inhalt des Glases schmeckt ungewöhnlich, aber lecker: cremig, würzig, ein wenig erdig. Mal sehen, was noch so kommt.
Doch vor dem nächsten Gang kommt erst einmal Hoteldirektor Tim Oberdieck mit einer unerwarteten Ansage. „Sie essen heute aus der Restetonne“, sagt er. „Doch keine Bange, nichts davon lag schon mal auf den Tellern anderer Gäste. Was Sie heute erleben, ist das Ergebnis eines langen Prozesses des Nachdenkens und Veränderns in unserem Haus.“
Der begann 2013, als die „Atlantic Hotels“ ihre 15 Häuser in ganz Deutschland unter dem Aspekt Nachhaltigkeit kritisch unter die Lupe nahmen. Das daraus entstandene Nachhaltigkeitskonzept „grün unterwegs“ der Hotelgruppe umfasst mehr als 500 Veränderungen. Dazu gehören auch zahlreiche Maßnahmen gegen die Lebensmittelverschwendung. Oberdieck nennt Zahlen: Die WHO hat festgestellt, dass 30 bis 50 Prozent aller weltweit produzierten Lebensmittel den menschlichen Magen gar nicht erreichen, weil sie bereits vorher weggeworfen werden – rund 1,3 Milliarden Tonnen jährlich. Allein in Deutschland sind es etwa 13 Millionen Tonnen, von denen 52 Prozent aus privaten Haushalten kommen. Rund 75 Kilogramm schmeißt jeder Bundesbürger im Jahr in die Tonne. Um in den eigenen Häusern etwas dagegen zu tun, schlossen sich die „Atlantic Hotels“ 2014 der zwei Jahre zuvor von Torsten von Borstel gegründeten Vereinigung „United against Waste“ (gemeinsam gegen Verschwendung) an.
Auch der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband (Dehoga) möchte seine Betriebe in einem ressourcenschonenden und sorgfältigen Umgang mit Lebensmitteln unterstützen. Laut Pressesprecherin Stefanie Heckel gehöre dies zum „Handwerkszeug der Gastronomen“. Der Dehoga engagiert sich in der 2012 vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) gestarteten Kampagne „Zu gut für die Tonne“ und unterstützt ebenfalls die United-against-Waste-Initiative. Außerdem unterzeichnete der Verband 2021 eine Zielvereinbarung zwischen dem BMEL und den Verbänden der Gastronomie und der Hotellerie, in der festgelegt ist, bis zum 31. Dezember 2030 die Lebensmittelabfälle in der Außer-Haus-Verpflegung wirksam zu reduzieren. Mithilfe von Veranstaltungen und Webinaren versucht der Verband, für einen nachhaltigen Umgang mit Lebensmitteln zu sensibilisieren.
Gute Mülltrennung ist Grundlage für Gerichte
Im Hotel „Sail City“ in Bremerhaven entstand die Idee, ein Resteessen zu kreieren, um eigene Reserven zu erkennen und um die Gäste auf das Thema aufmerksam zu machen. 2017 lud das Haus erstmals Lieferanten, Bauern, Netzwerker aller Art, Kunden, Hoteliers und Gastronomen ein, um zu zeigen, was aus Resten machbar ist, und um gleichzeitig zum Austausch anzuregen, wie man gemeinsam dazu beitragen kann, diese zu reduzieren.
„Dabei haben wir mit voller Absicht den Begriff Resteessen gewählt, um zu polarisieren und um anzuregen, über Lebensmittelverschwendung nachzudenken“, sagt Dominic Flettner, der Küchenchef des Hotels. „Die Frage ist doch: Was ist überhaupt ein Rest?“ Flettner setzte als erstes in seiner Küche eine Idee des Vereins United against Waste um. Der hatte, um die Verschwendung sichtbar zu machen, drei verschiedene durchsichtige Eimer „erfunden“: einen für Produktionsabfall, einen für den Tellerrücklauf und einen für Überproduktion und Mindesthaltbarkeitsdatum. „Früher gab es in der Küche Eimer, in die vom Gemüseabfall bis zu dem, was die Gäste nicht aufaßen, alles hineinkam und später weggeworfen wurde“, erzählt Flettner. „Heute trennen wir sorgfältig und gewinnen somit die Grundlage für neue Gerichte.“
Die Panna Cotta zum Beispiel wurde aus einem Fond aus den Schalen der Pastinaken, die es später zum Hauptgericht geben wird, überdimensionierten und krumm gewachsenen Mohrrüben, die keiner haben wollte, und Blättern der Radieschen, die die Platten zum Frühstück schmückten, hergestellt. Auch die Zutaten der Fischsuppe, die als Zwischengang serviert wird, stammen aus dem „Abfalleimer“. „Jeder Gast möchte das Mittelstück, das Schwanzstück will keiner“, sagt der Küchenchef. Da es bislang aber noch nicht gelungen ist, Fische zu züchten, die nur aus Filets bestehen, mussten sich die Köche etwas einfallen lassen. Es werden ausschließlich ganze Fische eingekauft, aus den „Abfällen“, wie Gräten und Köpfe, wird Brühe gekocht, die Schwanzstücke kommen als mundgerechte Happen oder Klößchen in die Suppe.
Ehe der Hauptgang kommt, stellt Flettner noch klar, dass selbstverständlich nichts serviert wird, was schon einmal auf dem Buffet gelegen hat. Sondern nur das, was zu viel eingekauft wurde und die Küche noch nicht verlassen hatte. Mit Fantasie und Kreativität entstehen daraus neue Gerichte. Wie zum Beispiel der Kabinettpudding, den es zum Dessert gibt. Seine Hauptzutat sind übrig gebliebene Croissants vom Frühstück, die noch vor ein paar Jahren unweigerlich in der Tonne gelandet wären. Dort hinein kommt heute nur noch, was die Gäste auf dem Teller zurückgehen lassen. „Wir wissen, wie viele Leute im Restaurant waren, und können so exakt erfassen, wie viel Abfall pro Person wirklich entsteht“, sagt Dominic Flettner. „Ist der Rücklaufeimer voll, so haben wir ein Problem – entweder war die Portion zu groß, oder es hat nicht geschmeckt.“
Etwa 15.000 Euro weniger Kosten jährlich
Mit vielfältigen Maßnahmen versucht die Küchencrew den „echten“ Abfall zu minimieren. Allein schon, wenn man zum Beispiel einen kleineren Servierlöffel aufs Buffet legt, bewirkt das Wunder. Da passt nicht so viel drauf wie auf einen großen. Der Gast nimmt weniger, er kann im Bedarfsfall ja noch mal nachholen. Das Gleiche gilt für die Brötchen auf dem Frühstücksbuffet – seitdem sie kleiner geworden sind, landen viel weniger in der „Schweinetonne“. Wurst- und Käseplatten werden kurz vor dem Ende der Frühstückszeit nicht mehr neu aufgefüllt, auf Nachfrage bekommt der Gast das Gewünschte an den Platz serviert.
Die Hotelküche kauft ganz bewusst Gemüse ein, das im Supermarkt allein wegen der Optik nicht gekauft werden würde. „Salat aus einer krummen Gurke schmeckt nicht anders als aus einer geraden“, sagt Flettner. „Und ein nicht normgerechter Blumenkohl oder eine zu große Möhre genauso wie mit EU-Gardemaß.“
Laut Hoteldirektor Tim Oberdieck konnten in den letzten Jahren allein im Frühstücksbereich rund 30 Prozent an Lebensmitteln eingespart werden. Und beim Einkauf fallen jährlich etwa 15.000 Euro weniger Kosten an.
Das Hauptgericht wird aufgetragen: Roastbeef vom Wasserbüffel mit Pastinaken, Rosmarinkartoffeln mit einer kräftigen Soße. Was daran soll bitteschön ein Rest sein? Flettner klärt auf: Es handelt sich dabei um Zutaten, die zum Teil zu viel eingekauft wurden, zum Teil aber auch Abfall sind. Der Wasserbüffel wuchs bei einem Bauern „um die Ecke“ auf. Statt nur bestimmte beliebte Fleischteile, kauft Flettner ganze Tiere, aus denen er zum Teil von einem Metzger Wurst und Pasteten für das Frühstücksbuffet herstellen lässt, der Rest wird in der Hotelküche verwertet. Grundlage der Soße des Hauptgerichts beispielsweise sind Büffelknochen. So gut das Roastbeef auch schmeckt, so ist die Portion für gemäßigte Fleischkonsumenten diesmal leider ein wenig üppig ausgefallen – einige Scheiben bleiben auf den Tellern liegen. Schade!
Nach dem Dessert wird abgerechnet: Der Küchenchef hat das, was auf den Tellern zurückgegangen ist, gewogen. 2,28 Kilo zeigt die Waage an. Umgerechnet auf jeden der 26 Gäste des Abends sind das 88 Gramm pro Person. „Ein Spitzenergebnis“, lobt er. Beim Rausgehen fällt der Blick auf einen Spruch an der Wand: „Ich wollte das Unmögliche.“ Flettner und seine Crew haben das geschafft.