Mit der Veröffentlichung seines Berichts zur Wettbewerbsfähigkeit liefert Mario Draghi eine bemerkenswert breite Bestandsaufnahme der EU-Wirtschaft ab. Sie ist alles andere als rosig. Um der Zukunft zu begegnen, fordert er mehr Investitionen.
Chinas Überkapazitäten und US-Protektionismus – keine guten Aussichten für die exportorientierte EU-Wirtschaft. Dazu ein großer Investitionsbedarf, um nicht den technologischen und infrastrukturellen Anschluss zu verlieren, der laufende Klimawandel und seine Auswirkungen. Die Wirtschaft der Europäischen Union steht vor sehr großen Herausforderungen. Und nach Ansicht von Mario Draghi muss sie daher deutlich rascher agieren, deutlich innovativer als bisher werden.
Konkurrenz aus USA und China
Draghi, der den Bericht zur Wettbewerbsfähigkeit der EU verantwortet, spricht gar von einer „existenziellen Bedrohung“. Denn: „Die EU tritt zum ersten Mal in ihrer jüngeren Geschichte in eine Periode ein, in der das Wachstum nicht durch steigende Bevölkerungszahlen unterstützt wird. Bis zum Jahr 2040 wird die Zahl der Erwerbstätigen voraussichtlich um fast zwei Millionen pro Jahr zurückgehen. Wir werden uns mehr auf die Produktivität stützen müssen, um das Wachstum anzukurbeln. Wenn die EU ihre durchschnittliche Produktivitätswachstumsrate seit 2015 beibehält, würde dies nur ausreichen, um das BIP bis 2050 konstant zu halten – zu einer Zeit, in der die EU mit einer Reihe neuer Investitionen konfrontiert ist, die durch höheres Wachstum finanziert werden muss“, so der Bericht.
Um die Wirtschaft zu digitalisieren und zu dekarbonisieren und die Verteidigungskapazitäten angesichts der russischen Aggression zu erhöhen, werde die Investitionsquote in Europa auf ein Niveau von fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) ansteigen müssen, ein Wert, der zuletzt in den 1960er und 70er Jahren erreicht wurde, heißt es. „Das ist beispiellos.“ Zum Vergleich: Die zusätzlichen Investitionen im Rahmen des Marshall-Plans zum Wiederaufbau Deutschlands beliefen sich zwischen 1948 und 1951 auf etwa ein bis zwei Prozent des BIP jährlich.
Was arg technisch klingen mag, hat jedoch am Ende weitreichende Konsequenzen: „Wenn Europa nicht produktiver werden kann, werden wir gezwungen sein, uns zu entscheiden. Wir werden nicht in der Lage sein, gleichzeitig führend bei neuen Technologien, ein Leuchtturm der Klimaverantwortung und ein unabhängiger Akteur auf der Weltbühne zu sein. Wir werden nicht in der Lage sein, unser Sozialmodell zu finanzieren. Wir werden einige, wenn nicht alle unsere Ambitionen zurückschrauben müssen.“
Das ist kein rosiger Ausblick. Europa stecke in einer statischen Industriestruktur fest, so der Wirtschaftswissenschaftler und frühere Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB). Es tauchten nur wenige neue Unternehmen auf, die die bestehenden Industrien veränderten oder neue Wachstumsmotoren entwickelten. Die Wirtschaftsleistung pro Kopf hinkt jener in den USA deutlich hinterher. Draghi führt dies nun vor allem auf den Technologiesektor zurück. „Europa hat die durch das Internet ausgelöste digitale Revolution und die damit verbundenen Produktivitätsgewinne weitgehend verpasst“, heißt es in seinem Bericht. Die EU sei schwach bei neuen Technologien, die das künftige Wachstum antreiben. Nur vier der 50 größten Tech-Unternehmen der Welt seien europäische Unternehmen, darunter SAP aus Deutschland oder der niederländische Halbleiterzulieferer ASML. Um den Anschluss nicht zu verlieren, seien Investitionen erforderlich, mahnt Draghi. Als Größenordnung nennt er unter Berufung auf Zahlen der EU-Kommission einen zusätzlichen Investitionsbedarf von mindestens 750 Milliarden bis 800 Milliarden Euro jährlich.
Als weitere Herausforderung nennt der Italiener die alternde Bevölkerung und die damit schwindende Zahl von Arbeitskräften. Peter Adrian, Präsident der Deutschen Industrie- und Handelskammer, verweist außerdem darauf, dass hohe Energiepreise, zu viel Bürokratie und eine schleppende digitale Transformation große Hindernisse für mehr Wettbewerbsfähigkeit seien und abgebaut werden müssten. Draghi habe die richtige Botschaft, so Adrian.
Dass die europäische Wirtschaft unter Druck steht, zeigt sich derzeit besonders klar in Deutschlands größtem Industriezweig, der Autobranche. Volkswagen – Europas größter Autobauer – hatte angekündigt, angesichts der sich zuspitzenden Lage den eingeschlagenen Sparkurs bei der Kernmarke VW noch einmal zu verschärfen. Werksschließungen und Kündigungen stehen im Raum. Aber auch bei anderen Herstellern ist die Lage angespannt. Der scheidende Industriekommissar Thierry Breton führt die Krise darauf zurück, dass es europäischen Herstellern nicht gelingt, ihre Kunden von der Elektromobilität zu überzeugen. Laut Report ist die deutsche Automobilindustrie jedoch seit einem Vierteljahrhundert der Innovationsmotor in Europa. Steht sie unter Druck, steht auch die EU-Innovationsfähigkeit insgesamt unter keinem guten Stern. Der Beweis: Zur gleichen Zeit, in der die deutsche Autoindustrie schwächelt, nehmen die chinesischen Importe an Elektrofahrzeugen in die EU rasant zu.
Mehr Geld für EU-Innovationen gefordert
Europas Wettbewerbsfähigkeit ist längst in der Chefetage angekommen, für Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen steht sie oben auf der Agenda, sagte sie bei der Vorstellung des Berichts in Brüssel. Eine Frage jedoch bleibt: Woher soll das ganze Geld kommen?
Historisch gesehen wurden laut Draghi in Europa etwa vier Fünftel der produktiven Investitionen aus der Privatwirtschaft und das verbleibende Fünftel von der öffentlichen Hand getätigt. Draghi spricht sich dafür aus, dass die EU-Staaten Geld in die Hand nehmen sollten, um grenzüberschreitende Projekte zu finanzieren. Von der Leyen sagt, gemeinsame EU-Projekte könnten entweder über die Beiträge der EU-Staaten finanziert werden oder es seien mehr EU-Eigenmittel erforderlich.
Bislang bleibt technologisch die USA weit vorne. Der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze verweist darauf, dass das „Verhältnis zwischen den USA und Europa hinsichtlich aller Kennzahlen und in jeder Phase des Risikokapitals 4:1 beträgt“ – Kapital, das für Startups und Innovationen dringend notwendig ist. Für Tooze, der in seinem „Chartbook“ den Bericht des Ex-Zentralbankers kommentierte, macht dieser deutlich, „dass die EU trotz ihrer ausgefeilten Regierungsführung dem europäischen Kapital nicht länger die Plattform bietet, um sich der globalen Konkurrenz in der Größenordnung der USA oder Chinas zu stellen“. Was aber ist die Antwort darauf? Größere Märkte, mehr Investitionen und mehr Innovation. „Was wir brauchen, ist eine grundlegende Neuausrichtung der Politik auf nachfrage- und innovationsgetriebenes Wachstum. Die Verteidigung des Status quo, wie sie die europäischen Konservativen sowohl in der Industrie- als auch in der Haushaltspolitik befürworten, bietet keine Sicherheit, sondern nur ein Rezept für weiteren relativen Niedergang und Abhängigkeit von technologischen Innovationen aus den USA und China“, so Tooze.
Dennoch ist Draghis Bericht, der vielfach gelobt wurde, nicht nur auf Gegenliebe gestoßen. Kritik daran kommt auch aus den Reihen des Europaparlamentes. Aurore Lalucq (S&D-Fraktion, Frankreich), Wirtschaftswissenschaftlerin und Vorsitzende des EU-Wirtschaftsausschusses, lobte zwar die genaue Diagnose des vorliegenden Papiers, warnte aber vor Naivität: Die von Draghi geforderte Deregulierung des Bankensektors könne bei einer erneuten Finanzkrise die gesamte Wirtschaft schädigen. Auch die in Brüssel vieldiskutierte Kapitalmarktunion sei schwierig umzusetzen, es gäbe vor allem viele nationale Hindernisse zu überwinden. Dennoch könnte diese Union dazu beitragen, notwendiges Investitionskapital aufzutreiben.
Die internen Diskussionen in Brüssel über die künftige Wettbewerbsstrategien sind damit angestoßen. Vor allem Regulierungen drücken auf das Innovationstempo Europas. Viele Empfehlungen der Draghi-Kommission sind nicht neu, aber sie rücken die richtigen Handlungsfelder in den Mittelpunkt. Einziges Problem: die politische Umsetzbarkeit. Diese hängt an Ursula von der Leyens neuer Kommission – und an der Stabilität nationaler europäischer Regierungen, die auch in absehbarer Zukunft wenigstens fragwürdig ist.