Unsere Leber besitzt nicht nur die einzigartige Fähigkeit, sich nach einer Verletzung zu regenerieren, sondern sie bleibt dank ständiger Erneuerung ihrer Zellen auch ewig jung. Sie ist daher über ein Menschenleben stets maximal drei Jahre alt.
Während alle anderen Organe des menschlichen Körpers dem natürlichen Alterungsprozess in unterschiedlichem Maße ihren Tribut zollen müssen, geht die Leber diesbezüglich einen ganz anderen Weg und bleibt zeitlebens im Stadium des frühen Kindesalters stecken. Ein Großteil ihrer Zellen wird höchstens drei Jahre alt, bevor der Erneuerungsprozess einsetzt – völlig unabhängig davon, in welchem Abschnitt seines Aufenthalts auf Erden sich der Mensch gerade befindet. Sprich, das fortschreitende Altern hat keinerlei Einfluss auf die kontinuierliche Erneuerung der Leberzellen. Die Leber erfüllt damit gewissermaßen den Traum des modernen Homo sapiens nach ewiger Jugend. „Egal, ob man 20 oder 84 Jahre alt ist, die Leber bleibt im Durchschnitt unter drei Jahre alt“, so lautet das von Dr. Olaf Bergmann formulierte überraschende Fazit einer im Fachmagazin „Cell Systems“ unter Federführung der Doktorandin Paula Henke veröffentlichten Studie. Das Alter hat mithin so gut wie keinen Einfluss darauf, wie schnell sich die Leberzellen erneuern.
Radiokarbonmethode zur Altersbestimmung
Dr. Bergmann leitet an der TU Dresden ein Zentrum für Regenerative Therapien unter Beteiligung von Spitzenforschern aus mehr als 30 Ländern. Für die aktuelle Forschungsarbeit, die endlich Klarheit über wesentliche Grundlagen der Leber-Erneuerung beim Menschen verschaffen soll, hat Dr. Bergmann ein interdisziplinäres Team aus den Fachgebieten Biologie, Physik und Mathematik sowie klinischen Fachkräften zusammengestellt. „Einige Studien wiesen auf die Möglichkeit hin, dass Leberzellen langlebig sind, während andere einen konstanten Umsatz zeigten. Uns war klar: Um zu wissen, was beim Menschen passiert, müssen wir einen Weg finden, das Alter der menschlichen Leberzellen direkt zu bestimmen“, so Olaf Bergmann. Denn die dafür als Grundlagen genutzten Tiermodelle förderten bislang nur sehr widersprüchliche Antworten zutage. Während die einzigartige Fähigkeit der Leber – unserer größten Körperdrüse, die das zentrale Organ unseres Stoffwechsels ist, mit vielfältigen Aufgaben wie der Entgiftung des Blutes, der Umwandlung und Speicherung von Nährstoffen oder der Bildung von Cholesterin und Gallenflüssigkeit – zur Regeneration oder zum Nachwachsen nach einer Verletzung längst bekannt ist, war bisher völlig ungeklärt, ob sie diese Kapazität im Laufe des Lebens durch einen Alterungsprozess ihrer Zellen nach und nach verlieren könnte.
Für seine Studie untersuchte das Forschungsteam die Lebern von Personen, die im Alter zwischen 20 und 84 Jahren verstorben waren, und gelangte dabei zu dem verblüffenden Ergebnis, dass die Leberzellen aller Probanden mehr oder weniger das gleiche Alter hatten. Die Bestimmung des biologischen Alters menschlicher Zellen ist laut den Dresdner Wissenschaftlern „eine enorme technische Herausforderung, weil die üblicherweise in Tiermodellen verwendeten Methoden nicht auf den Menschen übertragen werden können.“ Obwohl die direkte Untersuchung der Zellerneuerung beim Menschen technisch sehr anspruchsvoll ist, erlaube sie dennoch „unvergleichliche Einblicke in die zugrundeliegenden zellulären und molekularen Mechanismen der menschlichen Organregeneration“, so Dr. Bergmann.
Die Bergmann-Gruppe hatte daher Zuflucht zu einer in der Archäologie längst bewährten Praxis genommen und die im Labor aus den Zellkernen isolierte DNA mit ihren Erbgutmolekülen der Radiokohlenstoffdatierung, die auch als Radiokarbonmethode oder C14-Methode bekannt ist, unterzogen. „Archäologen nutzen den Zerfall von Radiokohlenstoff seit vielen Jahren erfolgreich, um das Alter von Proben zu bestimmen“, so Dr. Bergmann. „Der radioaktive Zerfall von Radiokohlenstoff ist sehr langsam. Er bietet eine ausreichende Auflösung für Archäologen, ist aber nicht geeignet, um das Alter menschlicher Zellen zu bestimmen. Trotzdem können wir den Radiokohlenstoff in unserer Forschung nutzen.“ Das Team musste daher die C14-Methode auf seine speziellen Erfordernisse anpassen, wobei es die oberirdischen Atomtests der 1950er- und frühen 1960er-Jahre in den Blick genommen hatte, bei denen massive Mengen an Radiokohlenstoff in die Atmosphäre und von dort aus auch in die menschliche DNA gelangt waren. „Auch wenn es sich um winzige Mengen handelt“, so Dr. Bergmann, „die nicht schädlich sind, können wir sie in Gewebeproben nachweisen und messen. Durch den Vergleich der Werte mit dem atmosphärischen Radiokohlenstoff können wir rückblickend das Alter der Zellen bestimmen.“
Um die hohe Stoffwechselaktivität des im Oberbauch rechts unter den Rippen liegenden Organs dauerhaft aufrecht erhalten zu können, werden die Leberzellen, auch Hepatozyten genannt, auffallend häufig und in kurzen Zeitintervallen bis ins hohe Alter hinein erneuert. „Dieser ständige Austausch von Leberzellen ist für verschiedene Aspekte der Leberregeneration und der Krebsentstehung von Bedeutung“, so die Forscher. Allerdings konnten die Wissenschaftler feststellen, dass nicht alle Leberzellen so jung bleiben. Es konnte eine Untergruppe ermittelt werden, deren Vertreter bis zu zehn Jahre alt werden konnten, bevor der Erneuerungsprozess eingesetzt hatte. Laut den Forschern müsse das mit der größeren Zahl ihrer Chromosomensätze zusammenhängen.
„Die meisten unserer Zellen haben zwei Chromosomensätze, aber einige Zellen akkumulieren mit zunehmendem Alter mehr DNA. Am Ende können solche Zellen vier, acht oder sogar mehr Chromosomensätze tragen“, so Dr. Bergmann. „Als wir typische Leberzellen mit den DNA-reicheren Zellen verglichen, fanden wir grundlegende Unterschiede in ihrer Erneuerung. Typische Zellen erneuern sich etwa einmal im Jahr, während die DNA-reicheren Zellen bis zu einem Jahrzehnt in der Leber verbleiben können. Da dieser Anteil im Laufe des Lebens allmählich zunimmt, könnte dies ein Schutzmechanismus sein, der uns im Alter vor der Anhäufung schädlicher Mutationen bewahrt. Wir müssen herausfinden, ob es ähnliche Mechanismen bei chronischen Lebererkrankungen gibt, die sich in einigen Fällen zu Krebs entwickeln können.“ Trotz der Zunahme der DNA-reicheren, mehr als zwei Chromosomensätze („diploid“) tragenden und daher „polyploid“ genannten Zellen im Laufe des Alterungsprozesses bleibt die Leber aber auch bei betagten Menschen überwiegend jung und regenerationsfähig: „Obwohl polyploide Leberzellen deutlich länger leben als diploide, ist der größte Teil aller Hepatozyten jung – unabhängig vom Alter wurden mehr als die Hälfte unserer Leberzellen erst im letzten halben Jahr geboren“, so die Dresdner Wissenschaftler.
Manche Zellen werden bis zu zehn Jahre alt
Was fast zwangsläufig die Frage aufwirft, warum trotz der ewigen Jugendlichkeit der Leber vor allem im Alter die gefürchteten Lebererkrankungen wie Krebs oder Leberzirrhose vermehrt auftreten. Auf diese Frage konnten auch die Dresdner Forscher bislang keine zufriedenstellende Antwort geben. Nur bei chronischem Alkoholmissbrauch dürfte klar sein, dass infolge der Vernarbung des Gewebes eine Zellerneuerung nicht mehr möglich ist. Aber darüber hinaus konnten die Forscher nur Vermutungen bezüglich der Entstehung von Leberkrankheiten anstellen: „Polyploide Zellen sind oft mit Chromosomenfehlern und genomischer Instabilität assoziiert.“ Da im Alter die Zahl der DNA-reicheren Leberzellen zunimmt, könnte das eine Erklärung für eine höhere Krankheitsanfälligkeit des Organs sein. Aber andererseits teilen sich diese polyploiden Zellen im Alter auch weniger, was das Risiko von Kopierfehlern und Mutationen eigentlich reduzieren müsste.
Das Dresdner Team um Bergmann hat übrigens seine zelluläre Radiokohlenstoff-Geburtsdatierung auch schon erfolgreich bei Gehirn und Herz zum Einsatz gebracht. Es konnte nachweisen, dass die Bildung neuer Gehirn- und Herzzellen nicht auf die pränatale Zeit beschränkt ist, sondern das ganze Leben lang andauert. Derzeit untersucht die Bergmann-Gruppe, ob bei Menschen mit einer chronischen Herzerkrankung noch neue Herzmuskelzellen gebildet werden können.