Der eine, Friedel Hütz-Adams, ist Experte für Kakao-Lieferketten. Die andere, Claudia Brück, Vorständin von Fairtrade. Beide wollen bessere Arbeitsbedingungen für Bauern in Westafrika – doch wie? Darüber haben sie verschiedene Meinungen. Ein Streitgespräch.
Frau Brück, Herr Hütz-Adams kritisierte kürzlich in einem Interview nicht nur die großen Schokoladenfirmen für Preisdumping und prekäre Zustände auf den Kakaofarmen Westafrikas, sondern auch Fairtrade als Zertifizierer: „Eine Zertifizierung“, sagte er, „garantiert keine Einhaltung von Menschenrechten.“
Brück: Grundsätzlich kann ich dem zustimmen, es gibt ja unterschiedliche Zertifizierungen. Für unser System würde ich es aber zurückweisen.
Er sagt außerdem: „Der Fairtrade-Mindestpreis garantiert den Kakaofarmen kein existenzsicherndes Einkommen.“
Brück: Unser Ziel ist es, bei marginalisierten Kleinbauernorganisationen anzusetzen und deren oft sehr prekäre Situation zu verbessern, damit sie ihre Zukunft selbst gestalten können. Dafür haben wir einen großen Maßnahmenkatalog entwickelt, zu dem gehören der Fairtrade-Standard, die Beratungen und zusätzliche Projekte. Der Fairtrade-Standard fordert die Bezahlung eines Mindestpreises als eine Art Sicherheitsnetz sowie eine Fairtrade-Prämie – Geld, das die Kooperativen beispielsweise in Gemeinschaftsschulen investieren können oder in Maßnahmen zur Produktivitätssteigerung.
Hütz-Adams: Die Vereinten Nationen verbinden mit Nachhaltigkeit, dass ein Produkt ökologisch verträglich ist und die Menschen von ihrer Arbeit leben können. So gesehen sind Fairtrade-Produkte nicht immer nachhaltig.
Brück: Wir können nicht für jeden ein existenzsicherndes Einkommen garantieren. Denn bei den Bauern, mit denen wir zusammenarbeiten, ist die bewirtschaftete Landfläche oft zu klein, um damit eine Familie zu ernähren. Dazu kommt, dass Fairtrade-Mindestpreis und Prämie nur für den Teil der Ernte bezahlt werden, der am Ende tatsächlich einen Fairtrade-Käufer am Markt findet. Derzeit gilt das nur für ungefähr ein Drittel der Ernte. Da fehlt die Nachfrage.
Ist das fair gegenüber den Bauern: ein Sicherheitsnetz, das nur Sicherheit gewährleistet, sofern die Marktlage es zulässt?
Brück: Das ist das, was Fairtrade leistet: Wir beraten. Wir organisieren ein System, das Standards setzt. Wir unterstützen Kooperativen dabei, diese Kriterien zu erfüllen. Und wir versuchen, Märkte aufzutun, die die Fairtrade-Ernte zu entsprechenden Preisen aufkaufen.
Können Sie nachvollziehen, wenn Herr Hütz-Adams sagt, das Fairtrade-Siegel sei kaum mehr als eine „Beruhigungspille für die Öffentlichkeit“?
Brück: Also, diese Formulierung finde ich diskreditierend! Fairtrade ist nicht perfekt. Und Fairtrade ist nicht die Lösung für alle Probleme. Aber wir unterstützen Kleinbauern, selbstbestimmt zu produzieren. Wir machen Lobby- und Öffentlichkeitsarbeit für sie. Wir verbessern ihre Verhandlungsposition auf dem Markt. Das sind viele kleine Schritte, die nachweislich wirken. 2021 belegte das Impact-Institut, dass Fairtrade-Bäuerinnen und -Bauern in Westafrika ihre Einkommen um 85 Prozent steigern konnten. All das als „Beruhigungspille“ abzutun, finde ich wirklich ärgerlich.
Hütz-Adams: Ich kenne diese Studie. Aus der geht auch hervor, dass trotzdem nicht einmal jeder Fünfte über ein existenzsicherndes Einkommen verfügt – mehr als 40 Prozent der Menschen leben unter der absoluten Armutsgrenze, ein erheblicher weiterer Teil nur knapp darüber! Meine Kritik ist ja nicht, dass Fairtrade keine Verbesserungen bringt, sondern dass diese oft viel zu gering sind. Zudem gibt es keine Fristen, bis wann existenzsichernde Einkommen erreicht werden müssen. Unternehmen können Produkte somit weiter als „fair“ und „nachhaltig“ labeln, selbst wenn die Einkommen der Menschen weit unterhalb dessen liegen, was sie benötigen, um dringendste Bedürfnisse zu erfüllen.
Könnte es sein, dass das Image von Fairtrade zu positiv ist? Viele Leute denken: Wenn ich Fairtrade-Kaffee oder -Schokolade kaufe, habe ich die Garantie, dass auf der Produzentenseite alles in bester Ordnung ist.
Brück: So einfach ist es eben nicht. Wir bewegen uns mit dem, was wir tun, im entwicklungspolitischen Kontext. Es gibt Kleinbauern, die konnten sich mithilfe der Fairtrade-Prämie zum ersten Mal in ihrem Leben ein Bett oder ein Moskitonetz leisten. Das sind kleine Schritte – aber immerhin in die richtige Richtung! Da hilft es wenig, wenn jemand aus der Wissenschaftsecke schlaue Sätze raushaut und uns damit schwächt, indem er Zweifel an Fairtrade sät.
Hütz-Adams: Meine Kritik bezieht sich nicht allein auf Fairtrade, sondern allgemein auf solche Zertifizierungen, das vorweg. Relativieren würde ich sie allerdings nicht. Schauen wir uns doch mal den Impact von Fairtrade an: Der Mindestpreis für Kakao lag in den vergangenen zehn Jahren selten über dem Weltmarktpreis. Und die zusätzlich gezahlte Fairtrade-Prämie lag, Stand vergangenes Frühjahr, bei ungefähr zehn Prozent des Durchschnittspreises. Für ein existenzsicherndes Einkommen in den Hauptproduktionsländern Ghana und Elfenbeinküste wären aber nicht zehn, sondern 100 Prozent Aufschlag nötig gewesen. Und selbst die zehn Prozent Aufschlag gibt es ja nur bei einem Drittel der Ernte, wie wir eben gehört haben.
Die Schritte in die richtige Richtung, von denen Frau Brück sprach …
Hütz-Adams: … sind viel zu klein. Andererseits höre ich ständig – nicht nur bei Kakao, auch bei Kaffee, Bananen, Baumwolle und so weiter – von den Unternehmen: „Ja, wir haben doch ein Label drauf! Was wollen Sie eigentlich noch von uns?“ Und das ist der Punkt, der mich sehr frustriert: Man bietet Firmen mit solchen Labels eine billige Scheinlösung, hinter der sie sich verstecken können.
Brück: Ich verstehe Ihren Frust vollkommen. Aber mit Ihrem „Beruhigungspille“-Satz schütten Sie doch das Kind mit dem Bade aus! Zum einen bezieht sich diese Kritik nur auf die Einkommensaspekte von Fairtrade – es gibt weitere Aspekte wie Beratung zur Produktivitätssteigerung oder Diversifizierung. Zum anderen muss man bei den Verkaufspreisen auch immer schauen, was am Markt durchsetzbar ist.
Hütz-Adams: Aber damit bleiben wir in diesem System stecken, das auf Ausbeutung basiert.
Brück: Es bringt doch überhaupt nichts, sich irgendeinen Idealpreis auszudenken, mit dem alle Probleme gelöst wären – und am Ende findet sich keiner, der ihn bezahlt. Fairtrade ist als Siegelorganisation schon jetzt oft nur zweite Wahl, weil wir eine Preiskomponente haben. Wir gelten nämlich als zu teuer, weil wir als einzige einen Mindestpreis und eine Prämie vorschreiben. Ein Verkaufspreis hat ja immer nur einen Effekt, wenn ein Produkt auch in Menge verkauft wird.
Hütz-Adams: Was hilft ein Mindestpreis für Kakao oder Kaffee, wenn er für die Bäuerinnen und Bauern nicht existenzsichernd ist – und sie dann gezwungen sind, ihre Kinder mitarbeiten zu lassen?
Fairtrade kann also nicht ausschließen, dass innerhalb seines Systems ausbeuterische Kinderarbeit stattfindet?
Brück: Ausbeuterische Kinderarbeit ist im Fairtrade-Standard verboten, wer dagegen verstößt, wird sanktioniert. Ich glaube aber, niemand kann das völlig ausschließen. Was wir machen, ist, Maßnahmen durchzuführen, dass es weniger wird.
Was heißt das konkret?
Brück: Alle unsere Partnerorganisationen müssen Präventionsmaßnahmen durchführen. Das Wichtigste ist, dass die Bauern verstehen, warum ausbeuterische Kinderarbeit den Teufelskreis von Armut weiterführt anstatt durchbricht. Hierzu haben wir viele Bildungsprojekte, bei denen die jeweilige Community einbezogen wird, um gemeinsam gegenzusteuern.
Hütz-Adams: Ich war mal auf einem Kongress in der Elfenbeinküste, an dem Kakaofirmen, Zertifizierer und Ministerien teilgenommen haben. Auch viele Kooperativen waren dort. Irgendwann stand eine Frau aus einer Kooperative auf und sagte: „Ich kann das ganze Gerede über Kinderarbeit nicht mehr hören! Wenn ich bei der Haupternte meine Kinder zur Schule schicke, geht ein Teil der Ernte verloren. Wovon soll ich dann meine Familie ernähren?“ Das ist die Realität vor Ort. Ohne existenzsicherndes Einkommen helfen alle gutgemeinten Maßnahmen nichts.
Brück: Ich glaube, wir sind uns völlig einig darin, dass in der Kakao- oder Kaffeeproduktion endlich Preise gezahlt werden müssen, von denen die Menschen anständig leben können. Aber ich finde es nicht klug, durch harsche Kritik gerade denjenigen öffentlich anzugreifen, der diese Zielsetzung teilt.
Wen müsste man denn eigentlich gemeinsam ins Visier nehmen?
Brück: Als Erstes mal diese ganzen Labels, die sich selbst nachhaltig nennen, ohne dass erkennbar wird, worauf diese Einschätzung beruht.
Und wie wäre es mit einem „Fairtrade plus“-Label für Produkte, bei denen gewährleistet ist, dass entlang der Lieferkette überall existenzsichernde Einkommen gezahlt werden?
Brück: Solange so etwas auf freiwilliger Basis passiert und wir vom Handel erzählt bekommen, billig sei gut, wird das nicht funktionieren.
Hütz-Adams: Naja, es gibt ja Unternehmen, die zeigen, dass es geht. Tony’s Chocolonely zum Beispiel zahlt deutlich höhere Prämien, geht längerfristige Verträge ein, baut verlässliche Verbindungen zu Kooperativen auf – und hat damit die Kinderarbeit massiv reduziert.
Brück: Sie wissen aber, dass Tony’s Chocolonely Fairtrade-zertifiziert ist?
Hütz-Adams: Ja, aber sie gehen eben ein paar entscheidende Schritte weiter. Wenn man die Fortschritte auf deren Kakaoplantagen sieht, weiß man, wo der Rest des Sektors hin muss. Warum setzen Zertifizierer wie Fairtrade den Schokoladenkonzernen nicht eine Frist und sagen: Bis 2025 zahlt ihr euren Produzenten ähnlich faire Löhne – oder ihr dürft auf eure Schokolade kein Nachhaltigkeitslabel mehr drauf tun?
Brück: Da überschätzen Sie unsere Verhandlungsposition. Ohne politische Rahmensetzungen wird es bei einzelnen Leuchttürmen bleiben – wie Tony’s Chocolonely, Jokolade, Choco Changer von Aldi, Way To Go von Lidl oder Very Fair von Rewe. Aber damit wird eben noch nicht die Menge erreicht, die für einen grundlegenden Wandel der Branche notwendig ist.
In Deutschland wurde vergangenes Jahr mit dem Lieferkettengesetz ein Rahmen gesetzt, der für mehr Fairness und Nachhaltigkeit entlang der Lieferkette sorgen soll.
Brück: Allerdings steht in diesem Gesetz nicht die Verpflichtung, existenzsichernde Einkommen zu bezahlen – es fehlt also genau der Punkt, der hier thematisiert wird.
Hütz-Adams: Ich bin da etwas hoffnungsvoller. Unternehmen in Deutschland müssen nun in den Blick nehmen, was weiter unten in der Lieferkette passiert – etwas, was viele bis vor ein paar Jahren schlicht nicht gekümmert hat. Und ich bin überzeugt, dass Firmen durch das Gesetz in Erklärungsnot kommen, wenn sie künftig einen Kakaopreis bezahlen, der Menschenrechte verletzt und Kinderarbeit in Kauf nimmt.
Brück: Ich bin auch froh, dass wir das deutsche Lieferkettengesetz haben. Aber wir brauchen auch ein EU-Lieferkettengesetz, das europaweit für dieselben Rahmenbedingungen sorgt und durch den großen Binnenmarkt eine viel größere Wirkung entfaltet.
Die FDP hatte die Verabschiedung des EU-Lieferkettengesetzes lange Zeit blockiert. Mit der Begründung, sie befürchte, es bringe nicht zu bewältigende bürokratische Lasten mit sich.
Brück: Das ist totaler Quatsch!
Hütz-Adams: Ich würde genau das Gegenteil sagen.
Brück: Das Gegenteil von mir?
Hütz-Adams: Nein, das Gegenteil dessen, was die FDP behauptet. Es stimmt, dass der bürokratische Aufwand in den vergangenen Jahren teilweise absurde Ausmaße angenommen hat. Es gibt zig Zertifizierungen und Standards und Reportings. Ein Wildwuchs! Das EU-Lieferkettengesetz bietet jedoch Gelegenheit, Standards zu vereinheitlichen. Bürokratie abzubauen. Es gibt viele mittelständische Firmen im Kakaosektor, die vor Dankbarkeit auf die Knie fallen, wenn eine einheitliche EU-Gesetzgebung diesen Wildwuchs beendet.