Christine Kary (50) aus Rheinstetten und ihr Mann sind seit 20 Jahren Pflegeeltern und kümmerten sich insgesamt schon um 36 Pflegekinder. Ein Interview über die ersten Schritte, das Zusammenleben, besondere Schicksale und Abschiede.

Frau Kary, wie entstand bei Ihnen vor 20 Jahren die Idee, Pflegekinder aufzunehmen?
Der Gedanke, ein Pflegekind bei uns aufzunehmen, entstand schon 1996 kurz nach der Geburt unseres Sohnes. Damals sagte das zuständige Jugendamt zu uns, wir sollen erst unsere eigene Familienplanung abschließen und dann wieder vorsprechen. Nach der Geburt unserer Tochter 1999 bestand der Wunsch, ein Pflegekind aufzunehmen, immer noch. Nach einem Umzug und einer beruflichen Veränderung in einem anderen Landkreis befassten wir uns 2003 eingehend mit diesem Thema. In der örtlichen Tagespresse erschien zu diesem Zeitpunkt auch ein Bericht mit den entsprechenden Kontaktdaten der zuständigen Sachbearbeiterin des Jugendamtes, die für unseren Landkreis zuständig war. Wir besitzen das große Glück, dass genau diese Sachbearbeiterin immer noch für uns zuständig ist.
Aus welchen Gründen kommen Kinder in eine Pflegefamilie?
Kinder werden aus verschiedenen Gründen aus der Herkunftsfamilie herausgenommen und dann in einer Pflegefamilie untergebracht. Gründe bei den leiblichen Eltern können sein: Kindeswohlgefährdung, Misshandlung, Gewalt in den Familien, Vernachlässigung, Missbrauch, Tod eines Elternteils oder beider Eltern, Drogen, suizidales Verhalten, minderjährige Eltern.
Wie sieht in dieser Zeit die Zusammenarbeit mit dem Jugendamt aus?
Die Zusammenarbeit mit unserem Jugendamt ist sehr gut. Der Austausch ist offen und ehrlich. Auf Sorgen und Probleme von uns als Pflegeeltern wird eingegangen und gemeinsam werden diese bearbeitet. Einmal im Jahr findet ein Hilfeplangespräch statt mit allen Beteiligten: Herkunftsfamilie, Pflegefamilie, Jugendamt, Pflegekind und eventuell auch mit einer Institution, die die Umgänge zwischen dem Pflegkind und der Herkunftsfamilie begleitet. Regelmäßig und oftmals unangemeldet kommt auch unsere Sachbearbeiterin bei uns vorbei, schaut nach dem Rechten und sucht das Gespräch mit den Pflegekindern im Einzelnen. Außerdem wird alle sechs Wochen ein Pflegeelterntreffen mit allen Pflegeeltern unserer Sachbearbeiterin veranstaltet, wo ein reger Austausch stattfindet und man immer wieder neue Impulse mitnehmen kann.
Haben die Kinder in der Zeit bei Ihnen oft Kontakt zu den leiblichen Eltern oder ist das ganz unterschiedlich?
In der Zeit, in der die Pflegekinder bei uns sind, gibt es meist auch Umgangskontakt der Kinder mit den Herkunftsfamilien. Dies ist immer individuell und sehr unterschiedlich gestaltet. Bei einigen Kindern findet kein Umgang statt, da diese zum Beispiel „verdeckt“ bei uns untergebracht sind, die Eltern/Elternteile sich in einer Klinik befinden oder inhaftiert sind.
Bei einigen Kindern findet ein begleiteter Umgang mit einer Fachkraft und der Herkunftsfamilie statt, der sich hier zwischen zwei und acht Stunden bewegen kann.
Wiederum kann der Umgang auch so gestaltet sein, dass ein 14-täglicher Umgang über das Wochenende bei der Herkunftsfamilie stattfinden kann.
Nach den Umgängen mit den Herkunftsfamilien wird immer geschaut, wie das Kind dies verkraftet und dann wird individuell an den Umgangszeiten gearbeitet. Oftmals sind die Kinder nach den Umgängen einfach durch den Wind.
Sie hatten insgesamt 36 Pflegekinder. In Vollzeit für zwei bis sogar fast acht Jahre. In Bereitschaftspflege zwischen 23 Stunden und zehn Monaten. Wie ist es, wenn ein Kind nach acht Jahren die Familie wieder verlässt? Wie schwer fällt es da, Abschied zu nehmen?

Diese Frage lässt sich sehr schwer beantworten und ich kann nur für mich sprechen. Bei einigen Pflegekindern fiel es mir sehr leicht, diese wieder gehen zu lassen, bei einigen kommen mir nach vielen Jahren immer noch Tränen und ein großes Vermissen setzt ein.
Das kann unterschiedliche Gründe haben. Wenn ein Teenager bei uns gewesen ist und es nur von kurzer Dauer war, konnte ich besser loslassen, als wenn ich ein jüngeres Kind in eine Einrichtung entlassen musste. Da ich immer noch der Meinung bin und die Haltung vertrete, ein Kind braucht eine Familie. Mir ist aber auch bewusst, dass für einige Kinder eine Einrichtung der bessere Rahmen ist.
Abschiede tun immer weh, egal ob das Kind 23 Stunden oder fast acht Jahre bei uns lebte. Sie sind ein Teil unseres Lebens und der Familie und werden es immer bleiben. Die Namen aller 36 Pflegekinder, sei es Vollzeitpflege oder Bereitschaftspflege, haben einen festen Platz bei uns im Haus: in Form eines Bilderrahmens, in dem alle Namen stehen. Zu allen Kindern habe ich noch ein Bild vor Augen und weiß jede Besonderheit ihrer Lebensgeschichte.
Haben Sie und Ihr Mann bei vielen Kindern eine starke Bindung entwickelt oder muss man als Pflegefamilie eine gewisse Distanz wahren?
Eine gewisse Distanz zum eigenen Schutz baut man sich innerlich schon auf. Ich sagte mir immer: Ich habe zwei leibliche Kinder, alle anderen Kinder sind Kinder auf Zeit. Von dieser Haltung profitierte auch der Umgang mit der Herkunftsfamilie, da diese beruhigt waren, dass wir ihre Kinder nicht „wegnehmen“ möchten. Wir wollen keine Konkurrenz zu den leiblichen Eltern darstellen. Natürlich hat sich aber auch zu einigen Kindern eine starke Bindung entwickelt, gerade wenn diese über einen längeren Zeitraum bei uns waren/sind. Wir haben auch immer die Hoffnung, der Kontakt bleibt auch im Nachgang bestehen.
Haben Sie denn zu vielen Pflegekindern heute noch Kontakt und ihr Leben weiterverfolgt?
Zu einigen Pflegekindern haben wir tatsächlich noch Kontakt und bekommen auch Rückmeldung, wie ihr weiterer Werdegang verläuft. Eine Pflegetochter ist nun selbst schon zweifache Mutter. Die meisten Herkunftsfamilien haben nach der Rückkehr des Kindes in den eigenen Haushalt den Kontakt zu uns abgebrochen. Geschenke und Briefe kamen ungeöffnet an uns zurück. Meine Vermutung ist, dass die Vergangenheit vergessen werden möchte. Was ich persönlich sehr schade finde. Denn ich werde auch diese Kinder nie vergessen, sie waren und sind ein Teil unseres Lebens und unserer Familie.
War die Adoption eines Pflegekindes jemals ein Thema für Sie?
Die Adoption eines Pflegekindes war nie ein Thema bei uns, da wir zwei leibliche Kinder haben. Auch stand eine Adoption vonseiten der Herkunftsfamilien bei uns nie im Raum. In den vergangenen Jahren habe ich nur einmal im Jahr 2024 mitbekommen, dass eine Herkunftsfamilie das Pflegekind zur Adoption freigegeben hat.
Sollten wir aber bei den drei aktuell bei uns lebenden Pflegekindern vor diese Frage gestellt werden, was aber nicht absehbar ist, werden wir uns darüber ausführlich Gedanken machen.
Haben Sie häufig mehrere Kinder gleichzeitig bei sich aufgenommen?
In unserem Haushalt lebten einmal im Frühjahr 2019 sechs Kinder gleichzeitig (Vollzeitpflegetochter (7), Vollzeitpflegesohn (5), Bereitschaftspflege Zwillingsmädchen (4), Bereitschaftspflege Geschwister (5) und (3)). Das war aber wirklich eine große Ausnahme, auch vonseiten des Jugendamtes, für dessen Vertrauen ich mich hiermit bedanken möchte. Die vier Bereitschaftspflegekinder sind bei uns gewesen, da jeweils die Mütter einen Krankenhausaufenthalt hatten. Somit hatten sie keine traumatischen Erlebnisse hinter sich.
Meistens lebten aber bis zu drei Kinder bei uns. Zwei Vollzeitpflegekinder und ein bis zwei (wenn es Geschwister waren) Bereitschaftspflegekinder. Reibereien oder Streit haben wir im Großen und Ganzen nicht erlebt. Nur kleine Meinungsverschiedenheiten, wie sie bei leiblichen Geschwistern auch möglich sind. Bereitschaftspflegekinder haben oft davon profitiert, dass schon Vollzeitpflegekinder bei uns waren. Sie fühlten sich nicht „allein“ und „ausgegrenzt“.
Wie lange dauert es etwa, bis sich ein Kind eingelebt hat?
Das Einleben in unserer Familie war auch von Kind zu Kind sehr individuell. Es gab Kinder, die kamen und es fühlte sich so an, als wären sie schon immer hier gewesen. Bei einigen dauerte es bis zu einem Jahr. Allgemein kann man aber sagen, dass die Kinder in einer extremen Anpassungsphase sind und oft sehr viele Ängste und Unsicherheit mitspielen: „Warum wurde ich hierhergebracht?“, „Was haben ich oder meine Eltern falsch gemacht?“, „Wann kann ich meine Eltern wiedersehen?“
Bereitschaftspflegekinder waren immer eine andere Herausforderung, da diese oft nicht wussten, wo ihre Reise hingeht (Vollzeitpflege, Einrichtung, zurück ins Elternhaus).
Wenn ein Kind zu uns kam, sollte es erst einmal zur Ruhe kommen, entspannen und sich sicher fühlen. Wir fragen die Kinder nie über die Herkunftsfamilie aus, die wichtigsten Informationen bekommen wir über das Jugendamt. Viele Kinder suchten aber nach kurzer Zeit das Gespräch mit uns und waren sehr dankbar für die Zeit, die wir uns für sie nahmen, da dies in der Herkunftsfamilie leider nicht gegeben wurde. Über gemeinsame Spielzeit kommt man gerade bei jüngeren Kindern am besten in Kontakt.

Welche Dinge gestalten sich im Alltag mit Pflegekindern manchmal schwierig?
Der Alltag gestaltet sich mit den Pflegekindern dann schwierig, wenn die Herkunftsfamilie immer wieder an den Kindern „herumzerrt“ und die Kinder in einen Loyalitätskonflikt kommen. Die Herkunftsfamilie lässt die Kinder bei uns nicht ankommen, heimisch werden, obwohl die Kinder sich bei uns sicher und geborgen fühlen, sie sehen uns als Konkurrenz an.
Auch die Konstellation der Pflegekinder spielt eine große Rolle. „Rangordnungen“ werden immer wieder neu festgelegt, man ist eifersüchtig auf ein jüngeres Pflegekind, wobei die kleineren natürlich ganz andere Zuwendungen und Bedürfnisse haben als ein älteres Kind.
Gab es auch mal Schicksale, die Sie persönlich sehr belastet haben und Sie dadurch schlecht abschalten konnten?
Oh ja, da gab es zwei Schicksalsschläge, die bei mir immer wieder mal hochkommen. Das eine war ein 14-jähriges Mädchen, das wir im Oktober 2017 aufgenommen haben. Die Mutter des Mädchens hatte Krebs im Endstadium. Am 12.12.2017 verstarb die Mutter und der Weg dahin war alles andere als ein Spaziergang für alle Beteiligten.
Das andere betraf ein 17-jähriges Mädchen, dessen Mutter durch den Vater getötet wurde. Dieses Mädchen sprach mit mir sechs Stunden am Stück über ihre Vergangenheit und das Erlebte. Es war und ist einfach nur furchtbar gewesen.