Andrea Arnolds neuer Film „Bird“ zeigt das Leben eines Mädchens, das möglichst schnell erwachsen werden möchte, in einer chaotischen Umgebung. Ab sofort im Kino.

Was tun, wenn der Vater nur vermeintliche Drogengeschäfte und die anstehende Hochzeit mit seiner Partnerin im Kopf hat, die er gerade einmal drei Monate kennt? Und die Mutter unter ihrem aggressiven Freund leidet, der nebenbei auch noch die jüngeren Geschwister fertig macht? Für die zwölf Jahre alte Bailey (Nykiya Adams) gibt es in Andrea Arnolds neuem Film „Bird“ da nur eine Lösung: Möglichst schnell erwachsen werden. Dabei kommt ihr ein ungewöhnlicher Typ zu Hilfe, dem Augenschein nach ein Herumtreiber, ein Paradiesvogel, der ein mysteriöses Geheimnis mit sich herumträgt.
Menschen in besonderen Lebensumständen

„Bird“ ist einer der interessantesten Filme, die in letzter Zeit gedreht worden sind. Wieder einmal zeigt die britische Regisseurin Andrea Arnold ihre Fähigkeit, Menschen und ihre Lebensumstände zu porträtieren. Immer wieder sind es unterprivilegierte Charaktere, die in schwierigen Verhältnissen leben. Die sich in ihrer Lage nicht wohlfühlen, einen Weg heraus suchen und dabei oft enttäuscht werden. So war es in dem Film „Fish Tank“ aus dem Jahr 2009, der das Leben einer 15-Jährigen mit ihrer Mutter und ihrer Schwester in der britischen Stadt Essex zeigt. Und auch in „American Honey“ (2016), der eine junge Frau porträtiert, die sich in den USA einer jugendlichen Drückerkolonne anschließt, die Zeitschriftenabos verkauft. Nachdem Arnold zwischendurch an zwei Fernsehserien mitgearbeitet und einen Dokumentarfilm gedreht hat, hat sie sich mit „Bird“ wieder dem Genre zugewandt, durch das sie bekannt geworden ist.
Vor dem Fenster fahren Kreuzfahrtschiffe. Im Haus sind die Wände mit Grafitti begesprüht, und fast jeder, der in diesem alternativen Wohnprojekt im Süden Englands lebt, hat ein Problem. Hier wohnen auch Bailey, ihr älterer Halbbruder Hunter (Jason Buda) und ihr Vater Bug (Barry Keoghan, der für „Bird“ auf eine Rolle in „Gladiator II“ verzichtet hat). Der führt sich gerade allerdings nicht wie ein Erwachsener, sondern eher wie ein überdrehter Teenager auf. Er hat eine große Kröte gekauft, die unter den richtigen Bedingungen halluzinogenen Schleim absondern soll. Damit will er seine Finanzprobleme lösen. Als er Bailey dann noch eröffnet, dass er eine Woche später heiraten will und sie als Brautjungfer ein lila Kleid tragen soll, reicht es ihr. Am gleichen Tag findet Bailey heraus, dass Hunter sich einer Gruppe angeschlossen hat, die Menschen zusammenschlägt, die anderen Menschen Leid angetan haben.
Optisch ist „Bird“ eine rasante Fahrt durch die Welt von Bailey. Der Film ist mit Handkamera im Format 1.66:1 gedreht. Das hat etwas von den Videos, die viele Menschen bei Youtube hochladen. Es gibt dem Film eine subjektive Perspektive, die Nähe schafft – und ihn gleichzeitig authentischer wirken lässt.
Darstellung einer subjektiven Perspektive

Bei einbrechender Dunkelheit folgt Bailey Hunter und seinen Freunden heimlich zu einer Aktion. Doch die geht gründlich schief. Die Polizei taucht auf, und Bailey kann gerade noch fliehen. Sie rennt weg, bis zu einer Wiese, auf der sie die Nacht verbringt. Am frühen Morgen wacht sie zwischen gelbblühenden Pflanzen auf, hört das Zirpen von Grillen, und als sie die Augen aufschlägt, sieht sie als erstes einen Pferdekopf. Es ist eine unwirkliche Welt, ganz anders als die Umgebung, die Bailey sonst gewohnt ist. Noch verschlafen hockt sie sich zum Pinkeln ins hohe Gras. Währenddessen kommt ein ungewöhnlicher Wind auf, und kurz darauf läuft, halb hüpfend, ein mit einem grauen Pullover mit bunten Streifen, einem Rock und Sandalen bekleideter Mann über die Wiese. Bailey hat zunächst ein wenig Angst vor ihm, merkt dann aber schnell, dass der Fremde keine bösen Absichten hegt. Im Gegenteil, er wirkt eher etwas naiv. Und er ist auf der Suche – nach jemandem aus seiner Vergangenheit.
Andrea Arnold dreht ihre Filme zu einem großen Teil mit Laiendarstellern, unterstützt von einem oder wenigen Profi-Schauspielern. In „Fish Tank“ übernahm Michael Fassbender diese Funktion, in „American Honey“ war es Shia LaBeouf. In „Bird“ ist es einer der interessantesten deutschen Schauspieler: Franz Rogowski, der schon immer für ungewöhnliche Projekte zu haben war. Etwa den 2013er Film „Love Steaks“, in dem außer den beiden Hauptdarstellern alle Schauspieler Mitarbeiter eines Kurhotels waren. Oder „Victoria“ von 2015, einen 140 Minuten langen, ohne einen einzigen Schnitt gedrehten Spielfilm.
Ungewöhnlich ist in „Bird“, dass der Film eine Reihe von Fantasie-Elementen enthält, bei denen der Zuschauer nicht weiß, ob sie real sein sollen oder nur im Kopf von Bailey entstanden sind. Diese Szenen sind für die Handlung sehr wichtig – und auch für die Entwicklung von Bailey, die dabei ist, eine Strategie zu entwickeln, um mit ihrer Lage fertig zu werden und zu einem eigenen Leben zu finden.
An den nächsten Tagen sieht Bailey Bird immer wieder. Er steht auf dem Dach eines nahegelegenen Wohnblocks. Er scheint etwas zu suchen, vielleicht auch über etwas zu wachen.