Nach 13 Jahren Bauzeit ist das größte Schiffshebewerk Europas fertig. Das imposante Technikwunder im brandenburgischen Niederfinow ist seit Anfang Oktober in Betrieb. Es bewältigt 36 Meter Höhenunterschied im Oder-Havel-Kanal.
Strahlende Sonne, leuchtende Augen und Festtagsstimmung herrschten am 4. Oktober in Niederfinow. Feierlich wurde an diesem denkwürdigen Tag das neue Schiffshebewerk Niederfinow, das größte in Europa, eröffnet, und schon ist es ein Besuchermagnet. Viele Menschen haben seither das schöne Herbstwetter genutzt, um das neue Technikwunder in Augenschein zu nehmen, mussten sie doch lange auf diesen Moment warten. Eigentlich sollte nach der Grundsteinlegung im März 2009 das neue, größere Schiffshebewerk 2014 in Betrieb gehen, doch erst jetzt – nach gut 13 Jahren – ist es fertig geworden.
Vorgänger von 1934 noch in Betrieb
Die Nachfrage setzte sofort ein, die der Schaulustigen und die weit wichtigere der Schiffseigner und Transportfirmen. Denn für sie wurde dieser deutlich leistungsfähigere und Länder verbindende „Schiffsfahrstuhl“ gebaut. Bis zum 16. Oktober konnten schon mehr als 100 Schiffe gehoben und gesenkt werden, schätzt ein Experte. Dazu gehörte auch eine fünf Meter hohe, zwölf Meter lange und 390 Tonnen schwere Gasturbine.
Das bisherige Schiffshebewerk, errichtet von 1926 bis 1934, ist das älteste noch arbeitende Schiffshebewerk Deutschlands. Doch dieses stählerne Industriedenkmal, das seit fast 90 Jahren den 36 Meter betragenden Höhenunterschied auf dem Oder-Havel-Kanal zuverlässig überwindet, gehört noch nicht „zum alten Eisen“. Es soll noch einige Jahre in Betrieb bleiben, und nicht nur aus Sicherheitsgründen: Vor allem in den Sommermonaten, wenn auch der Andrang privater Skipper groß ist, wird es zur Vermeidung von kilometerlangen Warteschlangen dringend gebraucht. Das Heben und Senken der Schiffe lässt sich also weiterhin auch beim alten Stahlkoloss beobachten, direkt von der Straße aus. Nach wie vor bilden sich Menschentrauben vor den Fenstern.
Ganz so einfach kommen die Interessierten an das benachbarte neue Super-Hebewerk nicht heran. Erst mit einer Eintrittskarte, gekauft im Informationszentrum oder am Automaten, lässt es sich erreichen. Das Ticket öffnet eine eiserne Gittertür, und sogleich führt ein angenehmer Rundweg leicht hügelan zum alten und neuen Schiffshebewerk. Ein Spaziergang der Sonderklasse.
Zunächst bestaunen die meisten Besucher den alten Bau, können jedoch von dort sogleich das neue Schiffshebewerk betrachten. Das helle Gebäude mit den vier Pylonen, akzentuiert von blauen und gelben Farbelementen, gefällt sofort. Die langen bläulichen Fenster an den vorderen Pylonen erlauben einen Blick ins Innere.
Links vom neuen großen Hebewerk ist auf der Kanalbrücke ein kleines blaues Gebäude zu sehen. „Das ist das Sicherheitstor. Dieses wird – ähnlich einem Schott – geschlossen, wenn am Hebewerk oder am Trog Arbeiten auszuführen sind. Sollte es eine Havarie geben, verhindert es, dass der Kanal leerlaufen und das Hebewerk zu einem künstlichen Wasserfall werden kann“, erklärt Jan Mönikes, Geschäftsführer der kürzlich gegründeten SHW Tourismus- und Wirtschaftsentwicklungsgesellschaft Niederfinow.
Um zur Führung zu gelangen, gehen Ticket-Besitzer unter der Kanalbrücke hindurch auf die andere Seite des Neubaus. Dieser Kanal führt zu einem Bauwerk mit großen, dreiseitig gelb gerahmten Fenstern. Das ist die Seilrollenhalle mit dem Trog, in dem die Schiffe gehoben oder gesenkt werden.
Gästeführer Klaus begleitet nun die maximal 15 Wissbegierigen nach drinnen und auf eine blaue Stahlbrücke in 40 Meter Höhe zum Hinunterschauen. „Keine Kameras und Handys übers Geländer halten. Was ins Wasser fällt, ist verloren“, warnt er. Darüber befindet sich – 50 Meter über dem Erdboden – der sogenannte Bedienstand. Da das neue Hebewerk elektronisch arbeitet, geschieht das Heben und Senken der Schiffe vollautomatisch. Dazu genügt im Normalfall ein Experte pro Schicht. „Allerdings sind nach deutschem Recht zwei Menschen an solch einem Arbeitsplatz vorgeschrieben“, ergänzt Klaus. Im alten Hebewerk arbeiten nach wie vor fünf Mann pro Schicht.
Halbe Milliarde Euro an Baukosten
Klaus, der vorher selbst im alten Hebewerk tätig war, hat auch die Vergleichszahlen im Kopf: Allein der nur mit Wasser gefüllte Trog im neuen Hebewerk wiegt 9.800 Tonnen und kann bis 2.300 Tonnen schwere Schiffe senkrecht hinauf und hinab transportieren. Im Vergleich dazu wiegt der Trog plus Wasser im historischen Hebewerk „nur“ 4.290 Tonnen und kann höchstens 1.000 Tonnen schwere Schiffe bedienen. Selbstverständlich ist – bis auf den Stahlanteil – auch alles andere im neuen Hebewerk größer als im alten. Vor allem die nutzbare Länge des Trogs. Die beträgt im neuen Hebewerk 115 Meter, im alten nur 83,50 Meter. Also purer Größenwahn? Nein, eine Notwendigkeit! Nun haben deutlich längere und schwerere Schiffe im Trog Platz und können ihre Ladung, ohne sie aufteilen zu müssen, zeitsparend nach Stettin bringen – ein nach wie vor wichtiges Ziel.
In diesem Zusammenhang erwähnt der Gästeführer auch den legendären Autobauer Henry Ford, der nach Anfängen 1925 in Berlin 1930 die Ford-Werke in Köln gründete. Der nutzte damals bald die Vorteile des Autotransports auf dem Rhein. Jetzt werden in Köln 40 Prozent der Pkw zunächst auf Rheinschiffe verladen, die sie vor allem nach Amsterdam zum Euroterminal transportieren, von wo sie auf Hochsee-Autoschiffen in viele Länder gebracht werden. Ähnliches peilt man in kleinerem Maßstab für das neue Hebewerk in Niederfinow an.
Demnächst, wenn die Wasserstraße entsprechend vertieft und erweitert ist, können auch doppelstöckige Containerschiffe das neue Hebewerk nutzen. Diese Möglichkeit kann eine Schwerlasterflotte ersetzen und so zur CO₂-Verminderung und Klimaverbesserung beitragen. Außerdem hatte man von Anfang an die Natur im Blick. Als Bau-Ausgleichsmaßnahme wurden ein Waldstück aufgeforstet sowie eine Biberfamilie und drei Nester der geschützten roten Waldameise umgesiedelt.
Und die Gesamtkosten? Beim alten Hebewerk betrugen sie 27,7 Millionen Reichsmark (umgerechnet etwa 129 Millionen Euro), beim Neuling sind es durch die lange Bauzeit 520 Millionen Euro geworden, mehr als doppelt so viel wie veranschlagt. Das ist – nicht nur in Deutschland – leider kein Einzelfall.
Sicherlich wird sich das neue Schiffshebewerk im Laufe der Zeit rentieren. Dafür sorgen – genau wie beim historischen Hebewerk – die Gegengewichte beim Auf und Ab des Trogs. Schon beim alten Hebewerk kamen 4.007 Tonnen Gegengewichte zum Einsatz, beim neuen sind sie mit 9.020 Tonnen mehr als doppelt so schwer. Stromkosten fallen fast nur für die Kompensierung von Reibungsverlusten und Massenträgheit an.
„Das neue Schiffshebewerk funktioniert genauso wie das alte“, betont Gästeführer Klaus, und das hat sich bewährt. Sogar die Chinesen haben ihr riesiges Drei-Schluchten-Schiffshebewerk am Jangste – das nicht nur 36 Meter Höhenunterschied wie in Niederfinow überwindet, sondern 113 Meter – nach dem Vorbild dieses historischen Hebewerks gebaut. Und das in nur fünf Jahren. „Allerdings zeigen einige Wände dort schon Risse“, grinst Klaus.
Sehenswertes touristisches Ziel
Um solches oder Ähnliches zu vermeiden, wurde in Niederfinow sehr viel und sehr lange geprobt. Schon vor Baubeginn hatte man ausprobiert, ob sich die Stahl- und Betonsorten vertragen. Das Schiffeheben und -senken wurde quasi bis zum Eröffnungstag geprobt. Nun läuft offenbar alles wie am Schnürchen – beziehungsweise an kräftigen Stahlseilen. Fasziniert betrachten Laien und Fachleute dieses neue Wunder der Ingenieurskunst. Ein zuverlässiges Jahrhundertwerk, genau wie das alte, soll auch das neue Schiffshebewerk werden. Und ebenfalls ein touristisches Ziel, das einen Ausflug lohnt. Die bisherige Zahl von mehr als 150.000 Besuchern soll gesteigert werden, auch durch einen Biergarten und eine gute Gastronomie. Benutzer des öffentlichen Nahverkehrs würden sich auch über die Aufstockung des Busverkehrs ab Eberswalde freuen.