Während sich die USA hinter Zollbarrieren einmauern, versucht die EU den Freihandel auszuweiten. Dabei balanciert sie zwischen moralischem Anspruch und ökonomischer Wirklichkeit.
Die Globalisierung der Wirtschaft mit ihrer engen Verflechtung, vielen Gewinnern, aber auch zahlreichen Verlierern schlägt gerade zurück: Der amtierende US-Präsident, an der Spitze vieler unzufriedener Globalisierungsgegner, will seinem Land ein „Goldenes Zeitalter“ bescheren. So, wie es Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts war, als die USA hohe Zölle statt einer Einkommenssteuer erhoben. Paradiesische Zustände – glaubt man Donald Trump. So würden das die Stammväter des Turbokapitalismus amerikanischer Prägung wie John D. Rockefeller, Andrew Carnegie und Cornelius Vanderbilt wahrscheinlich auch sehen. Eine Zeit, in der die US-Politik übrigens als hochgradig korrupt galt, politische Stellen mit Günstlingen besetzt wurden, während die wenigen Superreichen immer reicher wurden und die soziale Ungleichheit immer stärker zunahm. Trump hat die Zölle nun weit stärker angehoben als sie es damals waren, und schon damals ließen die erhobenen Gegenzölle den Welthandel kollabieren, waren mitverantwortlich für die Große Depression Ende der 20er-, Anfang der 30er-Jahre des 20. Jahrhunderts.
Jene Welthandelsordnung nach dem Zweiten Weltkrieg schuf die Basis des Freihandels. Die EU geht diesen Weg entgegengesetzt zu Trumps Nationalprotektionismus weiter.
Wirtschaft sieht Vorteil in Mercosur-Vertrag
Das jüngste Beispiel, das Mercosur-Abkommen mit den südamerikanischen Staaten Argentinien, Brasilien, Uruguay und Paraguay, ist jedoch, wie das gesamte Konzept des freien Handels, nicht unumstritten. Die deutsche Wirtschaft scheint zufrieden, zeigt zumindest eine Auswertung der Befragung „Going International 2025“ der Deutschen Industrie- und Handelskammer Ende April. Obwohl das Handelsvolumen mit den Mercosur-Staaten gerade mal ein Prozent des gesamten deutschen Handels ausmacht, erwartet jedes dritte Unternehmen in Deutschland von dem Abkommen positive Auswirkungen auf seine Geschäftstätigkeit. „Das Abkommen könnte deutschen Unternehmen den Zugang zu einem Markt mit über 260 Millionen Konsumenten erleichtern und ihnen neue Geschäftschancen eröffnen“, sagt DIHK-Außenwirtschaftschef Volker Treier. Besonders der Abbau von Zöllen würde exportorientierte Unternehmen entlasten. Mercosur erhebt derzeit einige der weltweit höchsten Zölle – etwa 35 Prozent auf Autos, 14 bis 20 Prozent auf Maschinen und bis zu 18 Prozent auf Chemikalien. Mit einem erfolgreichen Abkommen würden rund 90 Prozent der Zollabgaben zwischen der EU und Mercosur wegfallen. Das könnte europäischen Unternehmen jährliche Entlastungen von etwa vier Milliarden Euro bringen.
Doch die Gegenstimmen sind laut. Umweltverbände wie Greenpeace sowie europäische Bauern demonstrieren gegen das Abkommen. Die Landwirtinnen und Landwirte vor allem aus Frankreich und Polen befürchten, mithilfe von billigem argentinischem Rindfleisch aus dem Markt gedrängt zu werden. Laut Greenpeace-Gutachten sei das Abkommen nicht mit EU-Recht vereinbar: Es könne zu einem Anstieg der Treibhausgasemissionen führen und die Waldzerstörung in Südamerika vorantreiben – ein klarer Verstoß gegen das Pariser Klimaabkommen und gegen Artikel 2 des EU-Klimagesetzes. „Das EU-Mercosur-Abkommen ist klimaschädlicher Größenwahn“, sagte Greenpeace-Handelsexpertin Lis Cunha bereits im Dezember, als EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen verkündete, das Abkommen sei nun nach 20 Jahren Verhandlungen unter Dach und Fach.

Tatsächlich verhandelt die EU derzeit weitere Freihandelsabkommen, beispielsweise mit Indien. Ob Freihandel geeignet ist, soziale Ungleichheit zu verringern, ist jedoch umstritten. Die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung etwa plädierte 2021 für den Freihandel– mit dem Argument, Globalisierung habe in vielen Ländern zu historisch beispiellosen Wohlfahrtsgewinnen geführt. Luca Rebeggiani, Professor für Volkswirtschaftslehre an der FOM Hochschule Düsseldorf, sieht besonders in ehemals bitterarmen Staaten Fortschritte. Doch nicht alle Bevölkerungsgruppen profitierten gleichermaßen. Freihandel könne keine ordnungspolitischen Mängel vor Ort kompensieren, so der Experte.
Hier setzt die EU an: Unternehmen, die auf den europäischen Markt wollen, müssen soziale und ökologische Standards einhalten. Die Strategie: der Export solcher Standards über den Hebel des Marktzugangs. Doch gerade diese Nachhaltigkeitsforderungen geraten zunehmend in die Kritik – auch innerhalb Europas.
Kritik von Greenpeace
Denn je umfassender der sogenannte Tugendkatalog wird, desto schwerer werden die Abkommen handhabbar. Was als moralischer Fortschritt gedacht ist, wird zum politischen Hemmschuh. Laut Jörg Krämer, Chefökonom der Commerzbank, neigt die EU dazu, ihre Handelsabkommen mit immer neuen Anforderungen zu überfrachten – nicht nur ökologisch, sondern auch sozial, kulturell und arbeitsrechtlich. „Will die EU wirklich mehr Freihandelsabkommen, so gibt es nur zwei Lösungen“, so Krämer. „Entweder verzichtet sie auf Nachhaltigkeitsforderungen und setzt darauf, dass die Länder mit steigendem Wohlstand von sich aus nachhaltiger werden. Oder sie gewährt großzügigen Marktzugang oder leistet finanzielle Kompensation.“
Was fehlt, ist eine politische Gewichtung. Der moralische Universalismus der EU suggeriert Gleichwertigkeit aller Prinzipien – de facto aber gibt es Zielkonflikte. Werte dürfen kein Selbstzweck sein – sie müssen handlungsfähig machen. Wenn sie den Abschluss von Abkommen systematisch verhindern, verfehlen sie ihr Ziel. Es braucht daher eine kluge Priorisierung: Nicht jede ethische Forderung kann Vorrang vor wirtschaftlichen Interessen haben – besonders, wenn gerade wirtschaftliche Teilhabe langfristig mehr Nachhaltigkeit erzeugt.
Wie eine solche Balance gelingen kann, zeigt das Beispiel Vietnam. Die EU setzte dort nicht auf vollständige Vorbedingungen, sondern koppelte Marktöffnung an konkrete Reformschritte. So wurde etwa die Ratifizierung grundlegender ILO-Kernarbeitsnormen Teil des Verhandlungsprozesses – nicht dessen Voraussetzung. Eine pragmatische Gewichtung, bei der beides zählt: Werte und Wirkung.
Freihandel, wie ihn David Ricardo im 18. Jahrhundert konzipierte, beruht auf Spezialisierung und Effizienz: Güter sollen dort produziert werden, wo es am günstigsten und effektivsten ist. Handelshemmnisse stören diesen Mechanismus – es sei denn, sie dienen dem Schutz vor unfairem Wettbewerb, etwa durch Subventionen. Für Unternehmen bedeutet Freihandel mehr Wettbewerb, bessere Preise und Innovation, aber auch höheren Kostendruck und stärkere globale Abhängigkeiten. Viele Partnerländer empfinden die Nachhaltigkeitsforderungen der EU mittlerweile als Einmischung in innere Angelegenheiten oder gar als neuen Kolonialismus. Kritik entzündet sich etwa am Anti-Abholzungsgesetz oder dem CO₂-Grenzausgleich CBAM, der energieintensive Produkte aus Drittstaaten verteuern soll.
Die EU hat das Problem erkannt. Künftig sollen Nachhaltigkeitsforderungen individuell auf Partnerländer zugeschnitten werden. Doch auch das ist eine Frage politischer Klarheit: Will die EU wirklich gestalten, muss sie den Mut aufbringen, zu gewichten. Nachhaltigkeit ist wichtig – aber ihre Umsetzung darf nicht zur Selbstblockade werden.