Warum die eigene Erinnerung kein echter Gradmesser ist
Ach, früher war alles besser! Wie oft hört man heute den Seufzer von den mit-alternden Rentner-Kollegen im Umfeld. Früher, da waren Optimismus und Aufbruchstimmung, da hatten die Menschen mehr Zeit für einander, waren freundlicher und netter. Man traf sich zum Austausch in der Nachbarschaft. Zudem war die Luft sauberer, das Klima milder, die Autobahnen leerer, der Verkehr in den Innenstädten weniger, alles war befahrbar, Parkplätze, wo immer man hin wollte.
Früher, ja, das war das Zeitalter der Babyboomer, jener Generation, die zwischen Kriegsende 1945, Wirtschaftswunders und 1965 geboren wurde. Legendär der Sparkassen-Werbeslogan eines phänotypischen Babyboomers aus dem Jahr 1995: „Mein Haus, mein Auto, mein Boot“. Die Kinder der Babyboomer von damals sind heute die Eltern der sogenannten Millenials, geboren zwischen 1980 und Ende der 90er und zwischen 29 und 45 Jahre alt. Auch sie träumen wie ihre Großeltern gern in Erinnerungen an früher. An das Häuschen im Grünen, zwei Autos vor der Tür und einem Sommerurlaub an der Nord- oder Ostsee oder an der Adria und einem Skiurlaub in Bayern oder Österreich.
Natürlich ging es nicht allen so gut, aber eine breite Mittelschicht kam dieser Lebensidylle beider Generationen schon recht nahe. Denkt man an früher, so war das Glas in der Erinnerung bei allen im Zweifel immer halbvoll, heute ist es halbleer. Heute sind die Zeiten unsicher und die Medien voll von neuen Schreckensmeldungen über Kriege, Gräueltaten und Zerstörung quer über den Globus. Man wird zum Zeit- und Augenzeugen immer neuer Naturkatastrophen, Überschwemmungen, Waldbränden, von extremen Starkregen und ungewohnte heftigen Gewittern, gar Tornados im eigenen Land. Früher gab’s das nie. Früher war Waldsterben, heute ist Klimawandel.
Wenn sich dann auch noch die Wirtschaftsindikatoren verschlechtern, das Bruttoinlandsprodukt (BIP), der allgemeine Maßstab für wachsende Einkommen und wirtschaftliches Wohlergehen der Bürger, zu schwächeln beginnt, die deutsche Wirtschaft nach Meinung von klugen Wissenschaftlern im internationalen Wettbewerb immer weiter zurückfällt und China unsere Autoindustrie „überfährt“, dann findet die Sehnsucht nach dem gestern stets neue Nahrung.
Vor allem war früher alles anders, besser, hat funktioniert und heute nicht mehr: eine Verkehrsinfrastruktur auf Straßen und Schiene, die nicht marode war. Züge die pünktlich abfuhren und auch pünktlich ankamen, eine Bürokratie, die zügig und bürgernah funktionierte. Und heute? Straßenbrücken zu Tausenden, die dringend erneuert werden müssen, ein Gesundheitssystem, das am Limit arbeitet und auf Monate ausgebucht ist, und, und, und.
Aber war früher wirklich alles besser? Bleiben wir beim BIP. So unzureichend diese Statistik-Größe als Glücksindikator auch ist, und mag das BIP-Wachstum gegenwärtig auch von Quartal zu Quartal zwischen + oder – 0,1 Prozent schwanken wie ein Seemann beim Landgang nach Besuch der Hafenkneipe: Fakt bleibt, dass sich das BIP auf dem höchsten Niveau bewegt, das Deutschland je hatte. Es wächst nur eben aus vielen Gründen nicht mehr. Das Gleiche gilt für die durchschnittlichen Realeinkommen, die ein Gradmesser für den materiellen Wohlstand darstellen: Sie sind heute 30 Prozent höher als zur Jahrtausendwende und haben sich gegenüber 1970 fast verdoppelt.
Und das Gleiche gilt für das Durchschnittsalter und die realen Renten: Beide sind kräftig gestiegen, so wie die Anzahl der Alten selber auch. Nie wurden die Menschen in Deutschland so gesund alt wie bisher, noch nie haben sie im Alter über so viel Geld und Vermögen verfügt wie heute. Dass die – mit giftigem Schweröl – betriebenen Kreuzfahrtschiffe ständig mit vitalen Rentnern ausgebucht sind, die von Feuerland über Gotland bis zum Nordkap, vom Amazonas über den Mississippi bis zum Mekong und Yangtse den Globus unsicher machen, legt davon Zeugnis ab. So was hat’s noch nie gegeben!
Fazit: Vieles, was die kollektiven Rahmenbedingungen anbelangt, war gestern fraglos besser, aber über das heutige individuelle Daseins-Niveau braucht man nicht zu meckern: Das ist besser als je zuvor!