Der Zug der Kraniche ist ein beeindruckendes Naturspektakel. Viele Zehntausend Vögel rasten an der Ostseeküste in Mecklenburg-Vorpommern. Jetzt sind sie auf dem Weg in ihr Winterquartier. Im Naturschutzzentrum Kranorama lassen sich die Tiere beobachten.
Der wichtigste Tipp fürs erste Date: warme Kleidung und Regenjacke! Dann ist das Warten aufs ersehnte Rendezvous nämlich auch bei echt norddeutschem Schietwetter keine Qual. Der Herbstmorgen ist feucht und frisch: Da verbrüdert man sich sogar mit all den Nebenbuhlern, die ebenfalls auf eine zauberhafte Begegnung hoffen, und schlürft gemeinsam heißen Tee aus der Thermoskanne. Der frühe Vogel fängt den Wurm, heißt es, und so mussten alle rechtzeitig raus aus den Federn: Gegen 7 Uhr beginnt, was niemand hier verpassen will.
Still jetzt! Als der Himmel dezentes Rouge auflegt, beginnt das Spektakel. Der Ranger des Naturschutzbundes Deutschland, der seine Besucher im Gänsemarsch zur Beobachtungshütte geführt hatte, muss aber keine Anweisungen geben. Das menschliche Geschnatter erstirbt ohne Anweisung – gestaunt wird ohne Worte. Die Kraniche aber verkündigen lautstark, dass sie zum Start bereit sind: Steht der Wind richtig, sind ihre Rufe auf dem platten Land kilometerweit zu hören.
Viele machen Halt in kleinem Dorf
Ein paar Trompeter geben das Signal zum Aufbruch. Schnell schwellen die Laute an, das vielstimmige Tröten entwickelt sich zu einem gewaltigen Tutti. Dann sind die Kraniche plötzlich am Horizont zu sehen: Erst kommt nur ein Dutzend, danach schreiben die Vögel überall mit ihrem Formationsflug große Vs in den Himmel, am Ende ist es ein gigantischer Schwarm von vielen Tausend Tieren. Die Tiere fliegen von ihren Übernachtungsplätzen in den flachen Boddengewässern zu den abgeernteten Feldern auf dem Festland. Zeit fürs Frühstück!
Im Rheinland gilt der Karneval als fünfte Jahreszeit, genauso im Südwesten mit der schwäbisch-alemannischen Fastnacht. An der Ostsee in Mecklenburg-Vorpommern ist es der Kranichzug, der vieles auf den Kopf stellt. Während man sich anderswo schon auf den Winterschlaf vorbereitet, zieht es Naturliebhaber im September und Oktober in großen Scharen in die Küstenregion westlich der Hansestadt Stralsund. „Es gibt Leute, die planen ihren Jahresurlaub im Rhythmus der Kraniche", erzählt Günter Nowald. Seit mehr als 25 Jahren leitet er in Groß Mohrdorf das Kranichzentrum des Naturschutzbundes Deutschland (Nabu). Das Dörfchen hat weniger als 1.000 Einwohner. Im Herbst aber machen hier oft ebenso viele menschliche Tagesbesucher Station – und noch mehr tierische.
Zwar brüten auch in Deutschland gut 10.000 Paare des Graukranichs. Doch wenn rund um die Halbinsel Fischland-Darß-Zingst jedes Jahr im Herbst bis zu 75.000 Kraniche rasten, sind das die Zugvögel aus Skandinavien auf dem Weg ins Winterquartier. Warum die Nomaden der Lüfte am liebsten hier die Ostsee queren, kann niemand genau erklären. Fest steht: So ziemlich alle schwedischen und norwegischen Kranichpaare und ihr Nachwuchs machen bei ihrer Reise auf den Highways der Winde im Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft Station, bevor es weitergeht in wärmere Gefilde, nach Spanien und Nordafrika. Mit Rückenwind sind die Tiere mehr als 80 Stundenkilometer schnell.
„Störche wissen instinktiv, wohin sie fliegen müssen: Sie haben einen inneren Kompass. Junge Kraniche lernen alles von ihren Eltern", erklärt Experte Günter Nowald. Offensichtlich besteht da viel Gesprächsbedarf: Die Vögel scheinen sich ständig zu unterhalten. Neben dem typischen Trompeten gibt es noch viele andere Laute, um zu kommunizieren.
Ein Knurren warnt Jungvögel vor Gefahr, bei den Duett-Rufen stehen Männchen und Weibchen eng beieinander, recken Kopf und Schnabel in die Höhe, und produzieren eine ganze Abfolge an Tönen.
Noch größer ist das Spektakel nur im Frühling. Dann halten sich die Kraniche zwar viel kürzer an den Rastplätzen in Vorpommern auf, doch oft lässt sich dann ihr Tanz erleben. Die Choreografie ist in der Vogelwelt einzigartig: Kraniche springen in die Luft und schlagen mit den Flügeln, rennen im Zickzack über die Wiese, schlagen Haken und drehen sich im Kreis. Um die Bindung zum Partner zu festigen, wird sogar jongliert: Die Vögel werfen Steine und Pflanzenteile.
Ob beim Frühlingszug oder jetzt im Herbst: Die Nacht verbringen die Kraniche in den flachen Gewässern des Nationalparks Vorpommersche Boddenlandschaft. Sie bevorzugen Orte, wo sie ungestört ruhen können und Raubtiere sie nicht erreichen. Die Lagunen der Ostsee – sogenannte Bodden – sind für die Zugvögel ideal und deswegen in speziellen Schutzzonen für den Mensch tabu: Im größten Nationalpark an Deutschlands Ostseeküste darf die Natur noch Natur sein. Schlafplätze wie die Halbinsel Großer Werder, wo in guten Jahren bis zu 45.000 Vögel übernachten, sowie die Inseln Große Kirr und Oie dürfen nicht betreten werden, auch andernorts gibt es zur Zeit des Vogelzugs Zugangsbeschränkungen.
Ehrenamtliche Ranger im Einsatz
In der Morgendämmerung zum Abflug der Kraniche und zum abendlichen Einflug versammeln sich viele Kranich-Fans an der Meiningenbrücke bei Barth, von wo aus man die Vogelwolke besonders gut sehen kann. Ferngläser, Spektive und Teleobjektive richten sich auch in der Beobachtungshütte Pramort auf Zingst in Richtung Himmel. Tagsüber aber sieht man die Vögel am besten vom Kranorama: Die Station liegt unweit von Groß Mohrdorf am Naturerbe Günzer Seewiesen. Dass hier fast immer eine große Schar an Kranichen einfliegt, liegt an der sogenannten Ablenkfütterung: Damit die Vogelschar nicht den Bauern der Umgebung die Neusaat wegpickt, bekommt sie hier Maiskörner aufgetischt.
„Schlafen, essen, Siesta, essen, schlafen: Wenn ich hier für ein paar Wochen wie die Kraniche lebe, komme ich total runter", lacht Christine Härtl. Im Alltag arbeitet sie am Frankfurter Flughafen für eine Airline (natürlich jene mit dem Kranich im Logo) und sorgt für einen reibungslosen Ablauf der Abflüge. Im Herbst aber nimmt sie jedes Jahr Urlaub, fährt hoch an die Ostsee, und wird im Kranorama zur ehrenamtlichen Rangerin. Morgen für Morgen notiert sie die Zahl der Tiere, die beim langsamen Einflug aussehen, als seien es Marionetten mit baumelnden Beinen. Dann kümmert sie sich um die Besucher. Denen erklärt sie vor allem, wie man Kraniche beobachten kann, ohne die Tiere dabei zu stören.
„Mit dem Handy Fotos schießen, wie man sie aus Tierfilmen kennt: Das klappt nicht", erzählt Christine Härtl. Kraniche haben nämlich eine Fluchtdistanz von vielen hundert Metern und sind gegenüber Menschen scheu: Spätestens wenn sie die Köpfe heben, fliegen sie bei weiterer Annäherung auf. „Aber jede Störung verbraucht Energie, die den Vögeln dann bei ihrem weiteren Zugweg fehlt." Im Kranorama können sich Besucher kostenlos ein Spektiv ausleihen: Bei 20- bis 80-facher Vergrößerung erkennt man so jede Feder. Wer den Kranichen etwas Gutes tun will, kann auch eine Patenschaft übernehmen. Natürlich hat auch Christine Härtl einen Vogel: „Hermann" hat die Mauser gut überstanden und lebt, frisch verpaart, im Sommer an der Mecklenburgischen Seenplatte. Wo genau? „Die GPS-Daten schaue ich mir nicht an. Ich gönne ihm seine Privatsphäre."
Kranich steht für ein langes Leben
In China wird der Kranich als göttlicher Himmelsbote verehrt, in Japan steht er – der extrem seltene Mandschurenkranich soll der Legende nach tausend Jahre alt werden – für langes Leben und Gesundheit. Sein Einfluss erstreckt sich auch auf meditative Handarbeit: Wer tausend Origami-Kraniche faltet, dem erfüllen die Götter angeblich einen Wunsch. Als Glücksbringer gelten die Tiere aber auch in Europa, weil es, wenn sie ab Februar von ihrer Reise zurückkommen, langsam wieder heller und wärmer wird.
Und vielleicht steckt ja tatsächlich ein Funken Magie in diesen so faszinierenden Nomaden: Wer sich im Kranorama umschaut, sieht viele Menschen, denen die Vögel ein Lächeln ins Gesicht zaubern.