Menschen jenseits der 80 Jahre, deren Gedächtnisleistung der von 30 Jahre Jüngeren entspricht, werden Super-Ager genannt. Sie verdanken ihre geistige Fitness vor allem der Widerstandsfähigkeit ihres Gehirns.
Kognitive Fähigkeiten, insbesondere die Gedächtnisleistung, pflegen mit zunehmendem Alter nachzulassen. Doch es gibt Menschen jenseits des 80. Lebensjahres, die als sogenannte Super-Ager bezeichnet werden, bei denen der natürliche geistige Abbau so langsam verläuft, dass ihr Gedächtnis, vor allem ihr episodisches Gedächtnis, wie bei 30 Jahre Jüngeren funktioniert. Die Forschung versucht schon länger herauszufinden, was ursächlich für diese positiven Befunde sein könnte. Doch die Mechanismen, die der Erhaltung der episodischen Gedächtnisfunktion bei den Super-Agern letztendlich zugrunde liegen, konnten bislang noch nicht aufgedeckt werden.
Das wollte ein internationales Forschungsteam unter Federführung des Neurowissenschaftlers Prof. Christian Gaser vom Universitätsklinikum Jena mit Unterstützung vor allem spanischer Wissenschaftler rund um die Doktorandin Marta Garo-Pascual von der Universidad Politécnica de Madrid ändern. Dafür hatten sie sie für ihre im Fachmagazin „The Lancet Healthy Longevity“ publizierte Studie auf Daten zurück gegriffen, die in Spanien seit mehr als zehn Jahren im Rahmen des sogenannten Vallecas-Projekts erhoben werden. Dabei handelt es sich um eine wichtige Grundlagenarbeit, mit deren Hilfe Frühindikatoren für die Alzheimer-Krankheit identifiziert werden sollen. Daran nehmen exakt 1.213 Probanden im Alter zwischen 70 und 85 Jahren teil, die von keinerlei neurologischen oder psychiatrischen Störungen betroffen sind und deren Gehirnfunktion ständig mittels Tests und Untersuchungen, darunter MRT-Scans, überprüft wird.
Auf Basis der MRT-Daten wählte das Team um Prof. Gaser einerseits 64 Super-Ager, 38 Frauen und 26 Männer, mit einem Durchschnittsalter von 81,9 Jahren sowie andererseits 55 Probanden, 35 Frauen und 20 Männer, mit einem Durchschnittsalter von 82,4 Jahren und einer absolut alterstypischen Gedächtnisleistung aus. In diesen beiden getrennten Gruppen verglichen die Wissenschaftler die Hirnstrukturscans, Testergebnisse und Laborwerte, die im Schnitt über mehrere Jahre erhoben worden waren. Wobei vor allem der verbale Gedächtnis-Test namens „Free and Cued Selective Reminding“ eine wichtige Rolle spielte, um nachweisen zu können, dass die Erinnerungsleistung der Super-Ager mindestens an den Mittelwert von Erwachsenen im Alter von 50 bis 56 Jahren heranreichen konnte. Eine zentrale Frage, deren Beantwortung sich das Team vorgenommen hatte, bestand darin, zu klären, ob es sich beim Super-Aging eher um eine Resistenz oder eher um eine Resilienz, sprich Anpassungsfähigkeit, gegenüber Demenz oder anderen altersbedingten Prozessen handeln könnte. „Diese Studie ist eine der bisher größten Beobachtungsstudien über Super-Ager und die erste, die die Gehirnstruktur von Super-Agern im Laufe der Zeit untersucht“, so Prof. Gaser. Vor allem das Längsschnittdesign der Studie habe ganz entscheidend dazu beigetragen, Erkenntnisse darüber zu bekommen, warum Super-Ager anders als vergleichbare Senioren altern.
Höheres Volumen an grauer Substanz
Im Ergebnis wurden zunächst einmal Erkenntnisse früherer Studien bestätigt, aus denen hervorgegangen war, dass die Gehirne von Super-Agern mehr graue Substanz aufweisen als zum Vergleich hinzugezogene Köpfe typisch alternder Erwachsener. Die graue Substanz, die ein wichtiger Bestandteil des Zentralnervensystems ist und aus Milliarden von Neuronen besteht, die eine dünne Schicht auf der Hirnoberfläche bilden, wird gemeinhin mit den Intelligenzleistungen des Gehirns in Zusammenhang gebracht und steuert zudem sämtliche Wahrnehmungsprozesse und motorische Leistungen des Menschen. „Die Analyse der grauen Substanz im Gehirn konzentriert sich auf Neuronen, die entscheidende Bestandteile des Gehirns sind und eine grundlegende Rolle bei seiner Funktion spielen. Neuronen sind eng an Gedächtnisbildung und Lernprozessen beteiligt“, so Prof. Gaser. „Super-Ager zeigen im Querschnitt ein höheres Volumen an grauer Substanz im medialen Temporallappen, im cholinergen Vorderhirn und im motorischen Thalamus“, so das aktuelle Studien-Resümee.
Darüber hinaus konnten die Forscher nachweisen, dass bei Super-Agern die graue Substanz in Schlüsselbereichen des Gehirns über einen durch Tests belegten Zeitraum von fünf Jahren insgesamt langsamer abgenommen hatte als bei der Vergleichsgruppe. „In Längsrichtung zeigten Super-Ager eine langsamere Atrophie der gesamten grauen Substanz, insbesondere im medialen Temporallappen, als typisch ältere Erwachsene“, so die aktuellen Studien-Erkenntnisse. Überraschenderweise war allerdings die Konzentration von sogenannten Demenz-Biomarkern im Blut bei beiden Gruppen sehr ähnlich, vor allem gab es keine Unterschiede beim Gen ApoE4, dem wichtigsten genetischen Risikofaktor für die Alzheimer-Krankheit. „Wir schließen daraus“, so Prof. Gaser, „dass es nicht einfach bessere Bewältigungsmechanismen sind, die Super-Ager vor altersbedingtem Gedächtnisverlust bewahren, sondern dass sie widerstandsfähiger gegen altersbedingte Veränderungen der Hirnstruktur sind. Die genauen Gründe dafür sind jedoch noch unklar.“
Mithilfe eines maschinellen Lernmodells versuchten die Forscher anschließend noch aus einem Pool von 89 möglichen demografischen, lebensstilbezogenen oder klinischen Faktoren zu ermitteln, welche Prädiktoren sich mit Super-Agern in Verbindung bringen lassen. Wobei sich vor allem eine schnellere Bewegungsgeschwindigkeit und eine bessere psychische Gesundheit als die beiden wichtigsten Unterscheidungsfaktoren für Super-Ager herausgestellt hatten. Auch litten Super-Ager seltener an Angstzuständen und Depressionen und hatten auffällig oft einen musikalischen Hintergrund. „Allerdings war das Modell nur in zwei Dritteln der Fälle in der Lage, Super-Ager von typischen älteren Erwachsenen zu unterscheiden“, so Prof. Gaser. Was laut Prof. Gaser darauf hindeuten könnte, dass das Super-Aging möglicherweise durch zusätzliche genetische Faktoren beeinflusst wird. Es ist laut dem Neurowissenschaftler zudem ungewiss, ob theoretisch alle Menschen das Potenzial für ein Super-Aging besitzen. Prof. Gaser betont jedoch, dass lebenslanges Lernen, soziale Aktivitäten, ein aktiver Lebensstil sowie die möglichst lange Aufrechterhaltung der Unabhängigkeit im täglichen Leben dazu beitragen, dass man ein Super-Ager werden kann. „Ein aktiver Lebensstil in der Lebensmitte und Aktivitäten wie das Spielen eines Instruments sowie die Aufrechterhaltung der Beweglichkeit und Kontrolle des Bluthochdrucks und des Blutzuckerspiegels können dazu beitragen, ein gesundes Gedächtnis im Alter zu erhalten“, so Prof. Gaser.