Lange hatte die Forschung dem Faktor einer erblich bedingten Resilienz wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Inzwischen liegen einige Studien vor, die einen Anteil der Gene vermuten.
Bezüglich eines etwaigen genetischen Einflusses auf die psychische Resilienz tappt die Wissenschaft derzeit noch im Dunkeln. Denn ein solcher Zusammenhang wurde bislang kaum oder nur unzureichend untersucht. Dies wurde in gleich zwei Studien zu dieser Thematik aus dem Jahr 2019 einleitend auch offen eingestanden. „Studien zur psychischen Resilienz haben sich auf Verhaltens- und psychosoziale Variablen konzentriert, wobei die genetischen Beiträge weitaus weniger untersucht wurden.“ Oder: „Psychologische Resilienz, allgemein definiert als positive emotionale und/oder verhaltensbezogene Anpassung an Widrigkeiten, kann durch genetische Faktoren beeinflusst werden, die im Zeitalter groß angelegter genomweiter Studien weitgehend unerforscht geblieben sind.“ Wobei es allerdings auch schon gleich drei Zwillingsstudien aus den Jahren 2008, 2012 und 2014 gab, deren Ergebnisse darauf hin gedeutet hatten, dass Resilienz-Eigenschaften zu 31 bis 52 Prozent genetisch bedingt sein könnten.
Mit Prof. Raffael Kalisch, unter anderem Arbeitsgruppenleiter und Gründungsmitglied des Leibniz-Institut für Resilienzforschung und im Arbeitsbereich Bildgebung des menschlichen Gehirns an der Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz tätig, erteilte eine Koryphäe der hiesigen neurowissenschaftlichen Resilienzforschung jeglicher erblich bedingter psychischer Widerstandsfähigkeit eine klare Absage: „Nach allen vorliegenden Erkenntnissen handelt es sich nicht um ein Phänomen, das von einem bestimmten Wesensmerkmal determiniert wird. Es wird auch nicht von Genen diktiert oder einem Strukturmerkmal des Gehirns. Es ist kein in Stein gemeißeltes Persönlichkeitsmerkmal. Im Gegenteil: Resilienz ist im Fluss und kann sich wandeln. Durch Erfahrungen, durch Inspiration, durch eigenes Ausprobieren.“
Wenn überhaupt erbliche Faktoren eine Rolle spielen, dann müssten deren drei genannt werden, wie es Kalisch bereits zuvor in einem Interview mit dem Magazin „Geo Wissen“ verkündet hatte: Intelligenz, die helfen kann, kreative Wege aus Krisen zu finden, Optimismus, der das nötige Vertrauen schaffen kann, dass sich letztendlich alles zum Guten wenden wird, sowie Extraversion, eine persönliche Eigenschaft, die es Personen erleichtert, auf Mitmenschen zuzugehen und soziale Bindungen zu knüpfen.
Es ist ziemlich überraschend nach dem bisher beschriebenen Sachverhalt, dass in populärwissenschaftlichen Medien in jüngster Zeit immer häufiger eine genetisch bedingte Resilienz als Faktum dargestellt wurde. Obwohl die Studienlage diesbezüglich noch nicht mal in Ansätzen genügend ausgereift ist, um solche Schlussfolgerungen ziehen zu können.
Die auch durch Fernseh-Talkshows bekannt gewordene Wissenschaftsjournalistin und Biochemikerin Dr. Christina Berndt, die seit vielen Jahren für das Wissen-Ressort der „Süddeutschen Zeitung“ arbeitet und 2013 das Werk „Resilienz. Das Geheimnis der psychischen Widerstandskraft“ verfasst hatte, sprach sich in einem Interview mit dem Magazin „Vida“ für einen klaren Anteil der Gene bei der Resilienz-Entstehung aus: „Man sagt heute, dass der Einfluss von Genen und Umfeld in etwa fifty-fifty ist. Zudem zeigt das Forschungsgebiet der Epigenetik, dass sich Gene im Laufe des Lebens verändern können. Auch wenn uns also eine gewisse Grundausstattung in die Wiege gelegt ist: Wir können unsere psychische Widerstandskraft auch später noch vergrößern.“
Berndt geht aber nicht auf die Entdeckung eines vermeintlichen Resilienz-Gens ein, das in einer der Studien aus dem Jahr 2019 in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses gerückt wurde. Berndt: „Wie robust ein Mensch psychisch ist, hängt zu einem kleinen Teil tatsächlich mit seiner genetischen Veranlagung zusammen. Wissenschaftler haben mehrere Resilienz-Gene gefunden. Eines davon ist der 5-Hydroxytryptamintransporter (5-HTT), der den Transport des Glückshormons Serotonin im Gehirn reguliert. Von diesem Gen gibt es eine kurze und eine lange Variante. Wer die ‚lange‘ Variante in sich trägt, hat mehr Botenstoffe zur Verfügung, die ihm helfen, mit stressigen Situationen besser umzugehen.“
So richtig ins Rollen kam die Erkenntnis rund um das 5-HTT-Gen allerdings erst durch einen Anfang 2021 präsentierten Beitrag samt beigefügtem Video im Rahmen des von WDR, SWR und ARD Alpha gemeinsam produzierten Projekts „Planet Wissen“. Woher die Macher ihre Einsichten hatten, behielten sie allerdings für sich, es fehlte jeglicher Hinweis auf die Studie des Jahres 2019. Vieles von dem, was in dem Bericht als sicheres Wissen ausgewiesen und seitdem auf verschiedensten Plattformen unkritisch wiederholt wurde, dürfte noch dem Bereich des Spekulativen angehören.
„Die meisten Gene noch nicht getestet“
In dem Bericht heißt es: „Welche Rolle die Gene für die Resilienz spielen, erforschen die Wissenschaftler noch. Ein wichtiges Gen scheint das ‚5-HTTLPR‘ zu sein, das es in einer längeren und kürzeren Variante gibt. Das 5-HTTLPR regelt zum einen, wie gut das Glückshormon Serotonin im Gehirn an- und abtransportiert wird. Zum anderen steuert es das Enzym, das das Stresshormon Noradrenalin abbaut. In der längeren Variante wirkt 5-HTTLPR effektiver, was Menschen widerstandsfähiger gegen Stress macht und sie gleichzeitig häufiger Glücksgefühle erleben lässt – zwei wichtige Faktoren für Resilienz. Die gute Nachricht: 99,5 Prozent der Bevölkerung besitzen die lange Variante. Außerdem gibt es Indizien dafür, dass die Resilienz auch vom Wachstum der Nervenzellen im Gehirn abhängt. Dafür sind hochspezialisierte Proteine zuständig, deren Produktion ebenfalls Gene steuern. Läuft die Produktion der Proteine gut, ist das Gehirn plastischer und das Denken flexibler. Die Vermutung liegt daher nahe, dass Menschen mit einem guten Nervenwachstum besser mit Schicksalsschlägen umgehen können. Dann scheint noch entscheidend zu sein, wie Menschen Stress und potenziell traumatisierende Ereignisse im präfrontalen Kortex bewerten. Den genauen Ablauf erforschen die Neurologen noch.“
Kurzgefasst stellte „Planet Wissen“ die These auf: „Doch die Forschung weiß heute, dass auch Gene zur Ausbildung der inneren Widerstandskraft eines Menschen beitragen und dass das Nervenwachstum die Resilienz beeinflusst.“ Mag alles sein, aber konnte bislang nicht wissenschaftlich belegt werden. Aber offenbar wollte man unbedingt mal einen Protagonisten für eine Art von Resilienz-Gen präsentieren. Ein Ansatz, der übrigens gar nicht so neu ist, hatte doch eine 2018 veröffentlichte Studie auch schon mal das Enzym MAO-A, das vor allem für den Abbau von Serotonin, Dopamin und Noradrenalin zuständig ist, für die Ausbildung von asozialem Verhalten vor allem bei Männern verantwortlich gemacht. Denn bei genetisch bedingt niedriger MAO-A-Aktivität wurde das Risiko als hoch eingeschätzt, infolge traumatischer Erlebnisse Verhaltensstörungen zu entwickeln und in Kombination mit einem hohen Testosteron-Spiegel die Ausbildung von antisozialem Verhalten zu fördern.
In der 2019 unter dem (übersetzten) Titel „Eine systematische Überprüfung des genetischen Einflusses auf die psychische Resilienz“ veröffentlichten Studie, in der das 5-HTT-Gen aufgetaucht war, wurden übrigens noch fünf weitere Gene präsentiert, beispielsweise der Dopamin-Rezeptor D4 oder ein sogenannter Regulator der G-Protein-Signalgebung 2, die laut den Verfassern „empirisch mit psychischer Resilienz assoziiert“ sein sollen, von denen die meisten am zentralen Nervensystem beteiligt seien. „Angesichts der Tatsache“, so die Forscher, „dass es ungefähr 19.000 menschliche protein-kodierende Gene gibt, ist es sicherlich möglich, dass die meisten Gene, die zur psychischen Resilienz beitragen, noch nicht getestet wurden.“