Gut zweieinhalb Monate vor der Bundestagswahl zeigen Umfragen ein vergleichsweise stabiles Bild in der Parteienlandschaft. Hinter den Zahlen der „Sonntagsfrage“ steht für den Geschäftsführer des renommierten Umfrageinstituts Forsa, Dr. Peter Matuschek, aber eine „besorgniserregende Entwicklung“.
Herr Dr. Matuschek, Sie sind als Politik- und Sozialwissenschaftler seit über 15 Jahren als Meinungsforscher bei Forsa tätig. Wie schwierig ist die politische Gemütslage der Deutschen derzeit zu lokalisieren?
Forsa fühlt seit Anfang der 90er-Jahre kontinuierlich jede Woche den Bundesbürgern den Puls. In unserer bundesweiten Bevölkerungsbefragung fragen wir täglich 500 Bürgerinnen und Bürger nach ihren Meinungen zum aktuellen gesellschaftlichen und politischen Geschehen. In der Woche sind das 2.500 Wahlberechtigte. Dabei fragen wir sie nicht nur nach ihrer Wahlabsicht, sondern auch zu den wichtigsten Problemen und ihrer Meinung zu aktuellen Themen, die die Nation gerade bewegen. Daher haben wir bereits seit Sommer letzten Jahres beobachten können, wie der Rückhalt für die Ampelkoalition immer geringer wurde und eine Mehrheit schon seit Längerem mit ihr abgeschlossen hatte. Auf der anderen Seite war und ist der Zuspruch für die CDU/CSU als größte Oppositionspartei viel geringer, als er bei der Unzufriedenheit mit der Regierungskoalition eigentlich sein müsste. Die Union hat seit der Bundestagswahl in unseren Umfragen viel weniger hinzugewonnen, als die Ampel-Parteien verloren haben. Das liegt daran, dass eine Mehrheit der Menschen der Union weiterhin nicht zutraut, das Land besser zu regieren als die gerade zerbrochene Ampel-Koalition. Das heißt, dass das Wechselspiel zwischen Regierungsparteien und stärkster Oppositionspartei nicht mehr so funktioniert, wie das früher noch der Fall war.
Die „Mitte“ fühlt sich nicht vertreten
Die Einordnung rechts-links, Ost-West funktioniert offenbar nicht mehr, doch die Kategorisierung Arm gegen Reich ist da vermutlich auch zu kurz gesprungen?
Ein großes Problem, das wir schon seit Längerem beobachten, besteht darin, dass sich die gesellschaftliche und politische Mitte zunehmend nicht mehr vertreten fühlt. Also Leute in normalen Arbeitsverhältnissen, mit mittleren Einkommen, die nicht sozial abgehängt sind, die sich selbst in der politischen Mitte verorten – die sind insbesondere von den früheren Volksparteien zunehmend enttäuscht. Gefährlich ist, dass dieser Vertrauensrückgang mittlerweile auch die zentralen politischen Institutionen betrifft: So ist in den drei Jahren der Ampel-Regierung nicht nur das Vertrauen in den Bundeskanzler und die Bundesregierung, sondern auch das Vertrauen in den Deutschen Bundestag als zentralen Ort der Demokratie massiv eingebrochen. Es gibt also eine Vertrauenskrise, die über eine punktuelle Unzufriedenheit mit der amtierenden Regierung hinausgeht. Bei vielen Bürgern ist außerdem das Grundvertrauen in die Problemlösungsfähigkeit des Staates erschüttert: Eine deutliche Mehrheit der Bundesbürger sagt uns nun seit mehreren Jahren, dass sie den Staat mit der Erfüllung seiner Aufgaben für überfordert halten.
Welche Folgen hat so ein erheblicher Vertrauensverlust in die staatliche Handlungsfähigkeit?
Das ist eine sehr besorgniserregende Entwicklung, weil das mittlerweile an die Substanz geht. Umso wichtiger wäre es, dass die politischen Akteure– insbesondere in Berlin – durch ihr Handeln, ihren Umgang miteinander und ihre Entscheidungen dazu beitragen, dass dieser Trend gestoppt wird und das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit des Staates wieder zunimmt. Die Corona-Pandemie hat ja gezeigt, dass es auch anders geht: Damals hatte eine große Mehrheit Vertrauen in die zentralen politischen Institutionen und glaubte auch an eine Handlungsfähigkeit des Staates.
War es damit aus Ihrer Sicht ein Fehler der SPD, aber vor allem der Union, sich in den letzten bald 20 Jahren so auf die politische Mitte zu konzentrieren?
Das war überhaupt kein Fehler, sondern eine notwendige Voraussetzung für den Erfolg bei Wahlen. So wie es der SPD erst mit einem konsequenten Mitte-Kurs gelungen ist, 1998 nach 16 Jahren im Bund wieder an die Macht zu kommen, hat die Union unter Angela Merkel mit einem klaren Mitte-Kurs vier Bundestagswahlen in Folge gewonnen. Der Großen Koalition als – wenn man so will – Bündnis der Mitte wurde im Übrigen ja gerne vorgehalten, dass ein Zusammengehen von Union und SPD schon allein deshalb schlecht sei, weil es die politischen Ränder stärke. Tatsächlich waren die politischen Ränder noch nie so stark wie jetzt nach drei Jahren Ampel-Koalition. In der ganzen Geschichte der Bundesrepublik hatte noch keine rechtsradikale Partei einen ähnlich hohen Stimmenanteil wie derzeit die AfD, die seit Monaten bei der Bundestagswahlabsicht um die 17 Prozent liegt. Die These, dass eine Große Koalition automatisch die Ränder stärkt, kann man also mittlerweile ad acta legen. Stattdessen wurden unter der Ampel-Koalition auch Wähler zur AfD getrieben hat, die bisher noch nie AfD gewählt hatten.
Reine Konfrontation kommt nicht gut an
Also dann war die Mitte-Ausrichtung zumindest der Union kein Fehler, auch wenn die Umfragewerte derzeit um die 30 Prozent nicht gerade atemberaubend sind?
Nein, wahlstrategisch ist das nie ein Fehler. Weil die große Mehrheit der Wähler sich weiterhin klar in der Mitte verortet. Das Problem der Union derzeit ist ja, dass sie Merkels Mitte-Kurs unter Friedrich Merz wieder ein Stück weit verlassen hat und meint, sich jetzt wieder ein klareres Profil geben zu müssen. Gleichzeit kommt es bei vielen Wählern auch im bürgerlichen Lager nicht sonderlich gut an, wenn die Union sich auf Bundesebene als zu kompromisslos präsentiert und vor allem auf Konfrontation setzt. Die Mehrheit der Bürger möchte in wichtigen Fragen aber eine Kooperation zwischen Regierung und Opposition und versteht zum Beispiel nicht, warum die Union die Gespräche zur Einwanderungspolitik mit der Ampel hat platzen lassen oder warum man jetzt bis zur Neuwahl nicht noch wichtige Gesetze gemeinsam durch den Bundestag bringt, auf die man sich eigentlich einigen könnte.
Wenn die Unzufriedenheit mit den Regierenden so groß ist, prognostizierten die Demoskopen früher eine Wechselstimmung. Aber die scheint es derzeit ja nicht zu geben.
Die Union liegt aktuell bei 33 Prozent, die SPD bei 15 Prozent. Ein Sieg bei der Bundestagswahl am 23. Februar ist der Union also kaum noch zu nehmen, und der nächste Bundeskanzler wird mit hoher Wahrscheinlichkeit Friedrich Merz heißen. Die Union bleibt aber mit Werten von nur etwas über 30 Prozent weit unter ihren Möglichkeiten, wenn man sich den Verlust der Ampel-Parteien vor Augen führt, die bei der letzten Bundestagswahl noch 52 Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinigen konnten und seitdem mehr als 20 Prozentpunkte verloren haben. Dass die Union vom Unmut über die Ampel-Koalition bei den Wählern bisher nicht stärker profitieren konnte, liegt an weiter bestehenden Vorbehalten gegenüber dem Unionskandidaten Friedrich Merz, den nach wie vor eine Mehrheit der Wahlberechtigten nicht im Kanzleramt sehen möchte. Und es liegt außerdem daran, dass die Union bei der politischen Kompetenz weiterhin schwächelt. Zum Vergleich: Anfang 2021 hatten noch über 40 Prozent, im Jahr davor sogar 50 Prozent den Eindruck, dass die Unionsparteien von allen Parteien mit den Problemen im Land am besten fertig werden. Jetzt sagen das von der Union nur noch 20 Prozent. Der SPD traut zwar nur noch weniger als jeder Zehnte politische Kompetenz zu, aber der große Kompetenzvorsprung, den die Union einmal hatte, ist nicht mehr da. Daher wird die Union aller Voraussicht nach mit einem mehr oder weniger klaren Vorsprung die kommende Bundestagswahl gewinnen, aber nicht aufgrund eigener Stärke, sondern wegen der Bilanz der Ampel-Koalition und der verheerenden Fehler der SPD unter Olaf Scholz.
Erklärt das die hohen Zustimmungswerte für AfD und BSW, wie wir es gerade im September in Ostdeutschland erlebt haben? Sind das alles also Protestwähler?
Protest ist ja immer so ein beliebtes Schlagwort. Was die AfD angeht, besteht ihre Wählerschaft im Grunde aus zwei Teilen. Das eine sind die AfD-Wähler, die sie auch schon 2021 beziehungsweise 2017 gewählt haben. Diese Wähler sind für Trump, finden Putin gut, sind gegen jede Art von Zuwanderern, lehnen mit großer Mehrheit unser demokratisches System ab und haben ein geschlossenes rechtsradikales Weltbild. Das ist ein loyaler Wählerkern, der für zehn Prozent der Stimmen bei Bundestagswahlen reicht. Hier ist es der AfD erfolgreich gelungen, das gesamte rechtsradikale Spektrum in Deutschland aufzusaugen und auch an sich zu binden. Der andere Teil der AfD-Wähler ist erst in den Jahren der Ampel-Koalition neu zur AfD gewandert. Das sind Leute, die nicht diesem ganz rechten Milieu verhaftet sind und vor allem aus Frust über die Ampel-Regierung ihre Stimme im Moment der AfD geben würden. Diese neuen AfD-Anhänger sind zu einem kleinen Teil ehemalige Union-Wähler, ein Teil kommt aus dem Nichtwähler-Lager und der größte Teil hat bei der letzten Bundestagswahl eine der Ampel-Parteien gewählt. Diese neuen AfD-Anhänger könnten durch die etablierten Parteien grundsätzlich wieder zurückgeholt werden, der rechtsradikale Kern der AfD-Wähler allerdings nicht – die meisten davon haben auch vorher keine demokratische Partei gewählt.
Wunsch nach mehr Kooperation
Und was macht das Bündnis Sahra Wagenknecht aus, ist das ein ähnlicher Effekt?
Das BSW ist in seiner Anhängerschaft anders als die AfD. Das BSW ist weitgehend eine Ost-Partei, man kann fast sagen eine Art PDS 2.0, deren Anhängerschaft sich durch eine fast bedingungslose Bewunderung für die Parteigründerin Sahra Wagenknecht auszeichnet. Ein relativ großer Teil der BSW-Anhänger hat vorher die Linke gewählt, was der Linkspartei jetzt natürlich massiv schadet, wie auch die Europawahlen und die Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg gezeigt haben. Interessant beim BSW ist, dass sich seine Anhänger im Links-Rechts-Spektrum mehr in der Mitte einordnen als die Anhänger der Linkspartei, aber nicht im rechten Spektrum. Das erklärt auch, warum nicht eingetreten ist, was viele Journalisten und Politiker im Berliner Regierungsviertel prognostiziert hatten, dass nämlich das BSW die AfD dezimieren werde. Das Gegenteil ist der Fall: Trotz BSW hat die AfD bei den Landtagswahlen in Ostdeutschland weiter zugelegt. Inhaltlich gibt es zwar einige Themen, bei denen die BSW-Anhänger und die AfD-Anhänger weitgehend übereinstimmen, etwa beim Thema Ukraine-Krieg und der Haltung zu Russland. Bei vielen anderen Themen unterscheiden sich die Anhänger des BSW aber deutlich von den AfD-Anhängern. Ob das BSW den Einzug in den Bundestag schafft, ist im Moment alles andere als sicher. Sahra Wagenknechts persönliche Vertrauenswerte unter allen Wahlberechtigten sind im Laufe des Jahres deutlich zurückgegangen und das BSW liegt in unseren Umfragen erstmals seit Mai wieder unter der Fünf-Prozent-Marke.