Die Klimakrise ist menschengemacht und mit ihr auch das Insektensterben. Was der Verlust der Artenvielfalt für die Natur bedeutet, weiß Dr. Stephan Härtel vom Naturschutzbund in Berlin. Er erklärt, warum der Mensch Insekten braucht.
Herr Dr. Härtel, was sind die konkreten Ursachen des Insektensterbens?
Sie sind vielfältig, weil es sehr viele verschiedene Insekten gibt, die alle unterschiedliche Ansprüche an die Umwelt haben. Sicher spielt der Verlust von Lebensräumen eine sehr große Rolle. Dadurch, dass der Mensch mit der industriellen Landwirtschaft viele natürliche Lebensräume zerstört, Straßen baut und Flächen versiegelt, geht ständig Lebensraum verloren. Außerdem generiert er mit seinen Aktivitäten auf der Landschaftsebene ein Mosaik aus lebensfeindlichen Flächen und Fragmenten aus noch geeigneten Habitaten. Man spricht von der sogenannten Habitatfragmentierung.
Was bedeutet Habitatfragmentierung?
Habitatfragmentierung nennt man das, wenn geeignete Lebensräume nur noch weit voneinander entfernt vorkommen. Tiere müssen größere und oft auch lebensbedrohliche Wege in Kauf nehmen, um Nahrungs- und Nisthabitate zu finden. Die Anzahl der Arten in der Fläche nimmt ab. Der genetische Austausch zwischen den räumlich getrennten Populationen verringert sich oder kommt komplett zum Erliegen. Das führt in Summe zu einem starken Rückgang der Artenvielfalt auf der Landschaftsebene.
Die Intensivierung der Landwirtschaft spielt beim Insektensterben ebenfalls eine große Rolle, nicht nur die Landwirtschaft an sich, sondern der industrielle Einsatz von Maschinen und Pestiziden. Im Boden und während der Mahd werden massenhaft Insekten von Maschinen getötet. Über den Einsatz von Totalherbiziden, die alle Pflanzen abtöten, geht auf großen Flächen die pflanzliche Nahrung für viele Insekten verloren. Insektizide schließlich töten Insekten direkt und werden über Wind oft auch in benachbarte, nicht landwirtschaftlich genutzte Strukturen verdriftet.
Wie wichtig ist die Insektenvielfalt für unser Ökosystem?
Insekten sind die vielfältigste Gruppe von Lebewesen auf unserem Planeten. Wenn man Säugetiere im Verhältnis zu Insekten betrachtet, dann gibt es insgesamt nur etwa 6.600 verschiedene Säugetiere. Aber es gibt auf der anderen Seite schätzungsweise fünf bis zehn Millionen Insektenarten. Diese biologische Vielfalt innerhalb der Insekten ist für unseren Planeten einzigartig. Insekten mit ihren mannigfaltigen Anpassungen und Aufgaben stabilisieren unsere terrestrischen Ökosysteme, da von diesen Tieren grundlegende Funktionen auf verschiedenen Ebenen abgedeckt werden. Manche sprechen sogar davon, dass Insekten die Lebensversicherung für funktionierende Ökosysteme sind. Insekten sorgen zum Beispiel als Blattfresser mit dafür, dass organische gebundene Stoffe wieder in die Stoffkreisläufe aufgenommen und verfügbar gemacht werden können. Ich beschäftige mich beim Nabu mit Bienen und Wespen und sehe zwei bedeutende Ökosystem-Dienstleistungen, die durch die sogenannten Hautflügler geleistet werden. Wespen übernehmen die wichtige Funktion einer regulierenden Instanz, als Prädatoren, als Insekten, die andere Insekten fressen und beschränken, wenn sie zu häufig werden. Darüber hinaus besuchen Wespen viele Blüten, da sie den Nektar als Energiequelle für den Flug benötigen. An den Blüten übertragen sie Pollen und leisten ähnlich wie Bienen und andere Bestäuber einen nicht ersetzbaren Beitrag zum Erhalt der pflanzlichen Vielfalt.
Welche Auswirkungen hat es, wenn viele Insektenarten sterben?
Die Folgen sind weitreichend. Man weiß jetzt schon, dass in deutschen Naturschutzgebieten 75 Prozent der fliegenden Insekten im Vergleich zu einer Zeit vor drei Jahrzehnten nicht mehr vorhanden sind. Diese Entwicklung ist nicht gestoppt worden und wird enormen Einfluss auf die Pflanzendiversität nehmen, weil es von Jahr zu Jahr immer weniger Bestäuber für Blüten einheimischer Arten gibt. Die Frage ist für mich, bei welchen Insektendichten wir Kipppunkte für Bodenbildung, Regulation von Schadinsekten und den Verlust der von Bestäubung abhängigen Pflanzendiversität erreicht haben werden. Beim Überschreiten wird ein massiver Zusammenbruch der Pflanzendiversität sogar in Schutzgebieten unvermeidbar. Nicht zuletzt können vielfältige und gut angepasste Pflanzengesellschaften sehr gut Wasser binden und die Atmosphäre kühlen. In anderen Worten: Das Insektensterben befördert den von Menschen gemachten Klimawandel und führt zu einer Degradierung unserer Ökosysteme.
Wie sieht es beim Bienensterben aus? Es heißt, dass nicht die Honigbienen, sondern vielmehr die Wildbienen vom Aussterben betroffen sind.
Die Ursachen sind die gleichen, die auch für den Rückgang der Insekten allgemein gelten. Es geht um den Verlust von Lebensräumen. Die Intensivierung der Landwirtschaft, der Einsatz von Pestiziden, aber auch zum Beispiel das Erscheinen von neuen Krankheiten spielen eine Rolle. Durch die Globalisierung werden bei uns neue Erreger eingeschleppt, die sich ausbreiten. Bienen können genauso Virus- und Bakterieninfektionen bekommen wie wir. Bei der Einschleppung spielt die Honigbiene eine Rolle, weil Honigbienen global gehandelt werden. Aber auch über kommerziell gezüchtete Hummelvölker werden viele Bienenerkrankungen verbreitet. An den Blüten findet die Übertragung der Erreger auf wildlebende Bienen und auch auf Wespen statt. Wespen sind wie gesagt auch – das wissen viele nicht – Blütenbestäuber. In Anbetracht der massiv zurückgehenden Bestäuber brauchen wir alle verfügbaren Blütenbesucher, und da beziehe ich neben den Wildbienen gerne auch eine ortsübliche Honigbienenhaltung mit ein.
Welche politischen Rahmenbedingungen könnten das Insektensterben aufhalten?
Je größer ein Schutzgebiet ist, desto artenreicher, stabiler und damit wertvoller ist es auch. Erhalt und Erweiterung solcher Großschutzgebiete sollte die Politik prioritär auf dem Schirm haben, wenn es um den Schutz unserer Insektenvielfalt geht. In urbanen Ökosystemen kann man für Insekten und das Stadtklima ebenfalls viel erreichen. Da könnte man noch häufiger verpflichtende Fassaden- und Dachbegrünung für Neubauten mit in die Bauordnungen schreiben. Blühende einheimische Pflanzen an und auf Gebäuden sind gut für das Stadtklima und bieten vielen Insekten Lebensraum und Nahrung. Mittlerweile ist es so, dass in Berlin zum Beispiel mehr Wildbienenarten als in Brandenburger FFH-Gebieten (Naturschutzgebiete im Rahmen der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie, Anm. d. Red.) vorkommen. Städte spielen für den Insektenschutz also eine interessante Rolle.
Warum spielen ausgerechnet Städte hier eine besondere Rolle?
Sie haben eine besondere Bedeutung, weil es in der Agrarlandschaft durch den Einsatz von Pestiziden oft kaum noch Insekten gibt. In Städten gibt es mehr Insekten, weil hier viel weniger gespritzt wird und es viele dynamische Prozesse gibt, welche für ständig neue Pionierstandorte sorgen. Gleichzeitig ist für Insekten über die gesamte Vegetationsperiode ein reichhaltiges Nahrungsangebot vorhanden. Für viele Insektenarten, auch für Wildbienen, sind Städte daher wichtige Rückzugsorte. In Berlin gibt es zurzeit nach meinem Kenntnisstand 323 der rund 590 in Deutschland vorkommenden Arten. Das ist schon enorm.
Was kann jeder Einzelne gegen das Insektensterben tun?
Ich finde dieses Prinzip „global denken, lokal handeln“ gut. Wir sind nicht so ohnmächtig, wie man vielleicht denkt. Man kann im Kleinen versuchen, das Große zu ändern. Das gilt auch für den Wildbienenschutz oder den Insektenschutz im Allgemeinen. Man kann anfangen, einheimische Pflanzen im eigenen Garten zu pflanzen. Einheimische Sträucher zum Beispiel kann man sehr gut nutzen, um Insekten mehr Lebensraum und Nahrung zu geben. Oder wenn man bei Projekten mitmacht, die Grünflächen mit Sträuchern oder mit Blühflächen aufwerten wollen, dann bringt das etwas für die lokale Insektenvielfalt.