Krisen treiben immer mehr Menschen auf die Straße. Griechenland leidet nach wie vor unter den Folgen der Staatsschuldenkrise. Die Privatisierungswelle hat die Lage für viele Menschen nicht verbessert, im Gegenteil. Das Vertrauen in die Regierung sinkt immer weiter.
Im Zentrum von Athen ist die Stimmung spannungsgeladen. Tausende Studenten marschieren zum zentralen Syntagma–Platz. Fast alle dunkel gekleidet, verzweifelte Blicke. Übergroße Transparente in der Luft säumen die gesperrte Straße. Es ist der 8. März 2024, und eigentlich sollte es zum Internationalen Frauentag eine feministische Großdemonstration werden. Aber jetzt, wo eine Privatisierung des Hochschulsektors droht, scheinen die Frauenrechtsstimmen in der schieren Menschenmenge unterzugehen.
Am Tag danach beschließt das Parlament trotz aller Proteste das Gesetz, das das staatliche Monopol auf Hochschulbildung beendet und weitreichende Privatisierung zulässt.
Ein weiterer Schritt in der Reihe der vielen Reformen. Nach dem Staatsbankrott vor eineinhalb Jahrzehnten gab es unzählige Maßnahmen, mit denen die Bevölkerung enorm belastet wurde. Im Sommer 2012 wurde eine unendlich lange Liste von Sparmaßnahmen bekannt: Im öffentlichen Sektor wurde nur noch jede fünfte Stelle besetzt, Beamtengehälter wurden eingefroren, die Mehrwertsteuer auf 23 Prozent erhöht. Infolge niedrigerer Löhne gab es weniger Kaufkraft. Die Wirtschaftsleistung (BIP) sank um 25 Milliarden Euro, gleichzeitig stieg die Arbeitslosigkeit auf 24 Prozent.
Im Sommer 2015 folgte die nächste politische Wende. Der damalige Ministerpräsident Alexis Tsipras unterzeichnete mit der Europäischen Kommission ein weiteres Rettungspaket, obwohl die Bevölkerung im gesamten Griechenland in einem vorherigen Referendum mit 69 Prozent dagegen gestimmt hatte. Daraufhin trat der damalige linke Finanzminister Yanis Varoufakis zurück.
Die Partei Syriza unter Tsipras verlor nach und nach die Zustimmung der Bevölkerung.
Abbau in fast allen Bereichen spürbar
In gewisser Weise waren die rigiden Maßnahmen, die trotz der fortwährenden massiven Proteste durchgesetzt wurden, erfolgreich. Laut Handelsblatt sollen die Kreditrückzahlungen jetzt 168 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung ausmachen und sogar immer vorzeitig für das nächste Jahr getilgt werden. Das liege daran, dass die Steuerzahlungen um einiges angestiegen sind und Griechenland über eine Cash Reserve von etwa 35 Milliarden Euro verfüge. Die Cash Reserve kann mit großangelegten Privatisierungsmaßnahmen zusammenhängen: Flughäfen, Strände und Schnellstraßen wurden verkauft, überall wurden Zahlschranken eingerichtet.
Der Abbau ist aber überall spürbar. Die Kommunistische Partei prangert die Situation in Krankenhäusern an. Die öffentliche Finanzierung nimmt stetig ab, das medizinische Personal ist überfordert, hygienische Standards werden nicht eingehalten. Dazu allerorten Korruption.
Ähnliches befürchteten die Studierenden bei ihren Protesten für die Hochschullandschaft: Deutlich mehr private Colleges, die nicht so hohe Hürden für Immatrikulationen versprechen, solange die Kasse stimmt, abnehmende Finanzierung öffentlicher Universitäten. Und gerade auf abgelegenen griechischen Inseln bedeutet das, dass Fakultäten ihre Schließung befürchten müssen. Studenten, die wohnortnah eine private Einrichtung bezahlen können, würden Unterkunft und Verpflegungskosten einsparen, die ein Studium auf einer Insel mit sich bringen kann.
An den Schulen ist es schon seit Jahren gängige Praxis, dass Lehrkräfte nur halbherzig unterrichten, und die Schüler dann zur Hausaufgabenhilfe zu sich nach Hause für private Nachhilfe einladen. Auch eine Folge der niedrigen Löhne im öffentlichen Sektor.
Die Entscheidungen von 2015 hatten weitreichende Folgen für Syriza. Die Linke Partei war an die Macht gekommen, weil die konservative Nea Dimokratia und die sozialdemokratische Pasok, die mit für das Finanzdebakel verantwortlich waren, nicht in der Lage waren, das Land aus der Krise zu führen. Syriza unter dem jungen Alexis Tsipras gelang es nicht, das Spardiktat der EU (als Bedingung für Hilfen) abzuwenden. Die harten „Rettungsprogramme“ wurden umgesetzt, ein bisschen sozialer, als es die Vorgänger gemacht hätten, aber der Preis war hoch, für die Bevölkerung – und die Partei. Führende Köpfe verließen Syriza, darunter Finanzminister Yanis Varoufakis.
Schulden tilgen durch extremen Sparkurs
Der gründete zusammen mit Mitstreitern die paneuropäische Partei DiEM25. Bei der letzten Europawahl war Varoufakis bereits Spitzenkandidat für den deutschen Ableger (MERA25), der jedoch 2019 keinen Sitz im Europäischen Parlament erringen konnte.
In den letzten Monaten machten wieder Schlagzeilen auf Varoufakis aufmerksam. Gegen ihn und andere Personen, die auf dem sogenannten „Palästina-Kongress“ Mitte April in Berlin als Redner geplant waren, wurde ein Einreiseverbot verhängt. „Um antisemitische und israelfeindliche Propaganda bei der Veranstaltung zu verhindern, sind mehrere Einreiseverbote verhängt worden, darunter auch eines gegen Varoufakis“, wurden damals Sicherheitskreise zitiert. Der wiederum erhob daraufhin schwere Vorwürfe gegen die Bundesrepublik und kündigte eine Klage an.
In Griechenland selbst zeigte sich kurz vor den Europawahlen ein eher untypisches Stimmungsbild. Während laut Umfragen in vielen EU-Mitgliedsstaaten die jeweils regierenden Parteien mit Verlusten rechnen mussten, weil nach wie vor viele Wählerinnen und Wähler die Europawahl als eine „Denkzettelwahl“ betrachten, steht die regierende konservative Nea Dimokratia ziemlich unangefochten da, konnte mit deutlich über 30 Prozent rechnen. Dahinter abgeschlagen die oppositionelle linke Syriza (ca 15 Prozent) und die sozialdemokratische Pazok (14 Prozent). MERA25 dümpelt mit etwa 2,5 Prozent vor sich hin. Wie in vielen anderen Ländern zeigt sich die politische Linke stark zersplittert. Das spielt nicht nur Konservativen in die Hände, sondern lässt auch viel Raum für Rechtspopulisten.