Ein Jahr nach der Wahl nutzen rechtsextreme und -populistische Kräfte ihre neue Macht in Brüssel. Die saarländische Europaabgeordnete Manuela Ripa (ÖDP) mahnt, diese Parteien nicht zu kopieren, um deren Klientel zurückzugewinnen.

Frau Ripa, was sind aus Ihrer Sicht die wesentlichen Veränderungen im Europäischen Parlament?
Die Kräfteverhältnisse haben sich ganz klar geändert. Wir haben jetzt deutlich mehr rechtspopulistische Parteien und dadurch auch mehr rechtspopulistische Fraktionen. Die Fraktion, der die Partei von Marine Le Pen angehört, ist die drittstärkste Fraktion, direkt gefolgt von der Fraktion, der Giorgia Melonis Partei angehört. Zudem haben wir als siebtgrößte Fraktion die noch Radikaleren, zu denen auch die AfD gehört. Das ist spürbar, auch in Verhandlungen. Dazu kommt, dass diese rechtspopulistischen und -extremen Parteien jetzt aktiver sind, mehr Änderungsanträge einbringen, sich auch mehr an Gesetzgebungsprozessen beteiligen. Damit kommen manchmal auch seltsame Mehrheiten zustande.
In der vorherigen Legislaturperiode haben diese Parteien die Plenarsitzung vor allem zur Selbstdarstellung genutzt …
Das tun sie immer noch. Aber neuerdings stellen sie auch viele Änderungsanträge – und uns geht es darum, diese abzuwehren.
Ist es denn nicht deren Aufgabe als Abgeordnete, sich mit Anträgen einzubringen?
Natürlich! In der Vergangenheit haben sie das eben weniger getan. Bei Verhandlungen zu Gesetzen waren sie meist nicht einmal anwesend oder haben nur einen Assistenten geschickt. Jetzt stellen sie Anträge und finden auch immer wieder andere, die mit ihnen stimmen. Das war vorher in diesem Umfang nicht der Fall.
Das scheint aber trotzdem nicht von durchschlagendem Erfolg zu sein.
Das kann man leider so nicht sagen. Die vergangene Legislaturperiode war ja dominiert vom European Green Deal, einem großen Gesetzespaket, bei dem es darum geht, die EU klimaneutral zu machen, den Verkehrssektor zu dekarbonisieren, den Umwelt-, den Klima- und den Artenschutz zu fördern. Das haben wir damals beschlossen. Jetzt kommen wir in eine Situation, wo versucht wird, viele Gesetze wieder rückabzuwickeln. Hier gab es durchaus schon Erfolge. Wir sprechen im Augenblick über die Verschiebung einiger Gesetze, um der Industrie mehr Zeit zu geben zur Umsetzung. Das ist akzeptabel. Aber wenn es darum geht, den Kern der Gesetze zu verändern oder uns ganz von der EU abzuwenden, dann ist dies abzulehnen. Beim Klimaschutz kommt man mit rechtlichen Flickenteppichen und nationalen Egoismen ganz sicher nicht weiter. Grenzüberschreitende Probleme müssen wir grenzüberschreitend anpacken.
Sehen Sie denn eine Tendenz bei bestimmten Parteien, auf solche Themen einzugehen, womöglich mit der Intention, damit Rechtspopulisten zu begegnen und ihnen etwas entgegenzusetzen?
Leider haben rechtsnationale Parteien sehr viele Erfolge auf nationaler Ebene. In Deutschland ist die AfD mittlerweile zweitstärkste Partei, was die Demokratie aus den Angeln heben kann. Einige Politiker versuchen, Wähler zurückzugewinnen, indem sie sagen: Wir gehen ja auch in diese Richtung, also wählt uns. Man darf die AfD nicht kopieren, denn letztlich wählen die Wähler das Original. Diese Gefahr sehe ich aber nicht nur in Deutschland. Auch in anderen Mitgliedsstaaten denken Politiker, dass sie gewählt würden, wenn sie den Rechtspopulisten nacheifern. Die demokratischen Parteien müssen viel mehr zeigen, dass sie ein vereintes Europa wollen. Sie müssen die Werte, für die die Europäische Union steht, verteidigen, und nicht mit Schnellschüssen versuchen, die Leute auf ihre Seite zu ziehen.
Ist dieser Rechtspopulismus eine Zeiterscheinung als Reaktion auf die Entwicklungen davor, etwa Krisen und gesellschaftspolitische Diskussionen, oder ist es eine Entwicklung, die sich verfestigt?
Ich denke, es ist beides. Wir haben viele Krisen hinter uns, die Wirtschaftskrise, die damals schon entstehende Migrationskrise, dann Corona. Das hat viel Schaden angerichtet. Vorige Woche hat noch ein Rechtspopulist im Parlament gewettert: Ihr habt uns damals alle weggesperrt. Sie nutzen immer noch das Thema Pandemie, um die Leute weiter zu verunsichern. Rechtspopulisten leben davon, dass sie Hass und Misstrauen säen. Natürlich ist vieles während der Corona-Pandemie nicht gut gelaufen, aber es ging in dieser für alle komplett neuen Situation nicht darum, Leute wegzusperren, sondern darum, sie zu schützen. Deutschland hat Fehler gemacht, gerade was die Schüler und die Jugend angeht. Also: Es gibt durch die vielen Krisen ein Misstrauen in der Bevölkerung, und viele demokratische Parteien schaffen es nicht, dieses Misstrauen aufzulösen. Das liegt auch daran, dass es immer weiter geschürt wird. Eine entscheidende Rolle spielen dabei die sozialen Medien, in denen bestimmte Algorithmen Hass und Hetze verstärken. Wir müssen es schaffen, den Menschen klarzumachen, dass das ein Zerrbild ist. Hass und Hetze sind ein Nährboden für bestimmte Parteien und Bewegungen.

Nun versucht die EU, das mit Regulierungen etwas in den Griff zu bekommen, was im Übrigen ja auch angegriffen wird, wenn wir an Äußerungen beispielsweise von Elon Musk und US-Vizepräsident Vance denken. Die EU steht damit ziemlich allein.
Ich würde das nicht so negativ ausdrücken. Die EU ist damit einzigartig, und das macht sie auch aus: Sie schützt ihre Werte, etwa die Meinungsfreiheit. Wir können als Europäer stolz sein, dass wir die ersten sind, die ihre Werte auch im Netz schützen – und das nicht nur sagen, sondern auch machen. Wir haben den Digital Services Act, den AI Act, den Digital Markets Act verabschiedet. Jetzt kommt es darauf an, dies umzusetzen. Mir geht manches dabei nicht schnell genug. Es reicht nicht, nach einer Wahl festzustellen, dass Wähler von bestimmten Algorithmen gezielt beeinflusst wurden. Wir müssen da klar nachschärfen. Und wir dürfen uns vor allem nicht einreden lassen, wir würden damit die Demokratie einschränken. Ganz im Gegenteil, wir schützen sie damit.
Stichwort europäische Werte. Dafür steht auch „Schengen“. Deutschland forciert derzeit Grenzkontrollen und Zurückweisungen. Ist „Schengen“ am Ende?
Grenzkontrollen schränken uns ein, und ich finde das nicht richtig. Wir müssen vielmehr – unter Wahrung der Menschenrechte – unsere Außengrenzen schützen. Die EU-Staaten müssen sich viel mehr untereinander absprechen, statt das täglich gelebte Europa mit der großen Errungenschaft der Bewegungsfreiheit wieder einzuschränken und die Grenzen wieder hochzuziehen. Das deutsche Vorgehen wird sehr von den anderen Mitgliedsstaaten kritisiert – zu Recht. Ich hoffe sehr, dass sich diese temporäre Situation bald auflöst.
Die Erkenntnis, dass Europa besser die Außengrenzen schützen solle, als wieder im Inneren Grenzen erlebbar zu machen, ist nicht neu. Warum tut man sich so schwer, das hinreichend gut umzusetzen?
Das ist eine gute Frage und ein richtiges Stichwort: Es gibt ja entsprechende Gesetze. Diese müssen auch entsprechend umgesetzt werden. Bisher waren Mitgliedsstaaten schlicht überfordert, das zu tun. Erst kürzlich haben wir eine Reform beschlossen, die GEAS-Reform (Gemeinsames Europäisches Asylsystem), die aber erst 2026 voll greift. Das Sicherheitsgefühl vieler Menschen in Deutschland hat sich verschlechtert. Und dann ergreift die Politik Maßnahmen, die das Gefühl vermitteln sollen: Wir schützen unsere Grenzen. Das ist aber mehr zur Beruhigung, wirklich effektiv ist das nicht. Dafür brauchen wir andere Maßnahmen, wie eben die konsequente Umsetzung bestehender Gesetze. Was ich auch ganz erstaunlich finde: Vor der Bundestagswahl hat sich das Unsicherheitsgefühl der Menschen noch mal verstärkt durch die entsetzlichen Attentate mit Autos, die in Menschenmengen gerast sind, die interessanterweise nach der Wahl aufgehört haben. Dann ist in Kanada eine Wahl und jemand rast kurz davor in eine Menschenmenge. Da kann man schon auf die Frage kommen, ob so etwas nicht von außen gesteuert ist. Denken Sie auch an die Beschädigung von Autos ebenfalls vor der Bundestagswahl, die mit einem Zettel versehen waren: „Schöne Grüße von Robert Habeck“, wo man festgestellt hat, dass die Russen dahinterstanden. Das fällt in die gleiche Kategorie.
Sie haben das neue gemeinsame Asylsystem angesprochen. Da gibt es nicht wenige, die bezweifeln, dass das jetzt funktioniert, nachdem frühere Vereinbarungen ja auch nicht konsequent durchgesetzt wurden. Warum also diesmal?
Wir haben viel falsch gemacht in der Migrationspolitik. Mitgliedsstaaten haben ihre Hausaufgaben nicht gemacht, das wird jetzt mit GEAS und einem einheitlichen Asylverfahren zu korrigieren versucht. Was wir immer klar haben müssen: Es gibt ein Recht auf Asyl, und das darf auch nicht angetastet werden. Gleichzeitig müssen wir bei Abschiebungen konsequenter sein. Und: Wir müssen
Migranten viel besser integrieren. Da können wir von Nachbarländern, wie zum Beispiel Dänemark, sehr viel lernen, wo es sehr viel schneller geht, die Menschen in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Dem steht oftmals die deutsche Bürokratie entgegen. Wenn man sagt, wir schaffen das, hätte man auch bis ins Kleinste und bis in die Kommunen hinein dafür sorgen und unterstützen müssen, dass wir es auch wirklich schaffen können – das nicht zu tun, war ein Riesenfehler. Aber jetzt als Kurzfristreaktion Grenzen dicht machen, das tut Europa nicht gut und löst die Probleme nicht.
Wie blickt Europa jetzt auf Deutschland, nach der mühsamen Wahl des Kanzlers erst im zweiten Durchgang und den ersten Tagen?
Nach dem ersten Wahlgang haben mich viele Kollegen aus anderen Ländern besorgt gefragt: Was passiert da in Deutschland? Auf unser Land wird genau geschaut, weil viele in Europa wieder ein verlässliches Deutschland sehen wollen, nicht ein so zerstrittenes wie zu Ampel-Zeiten, als auf europäischer Ebene nicht selten ein „German vote“ – also Enthaltung – oder manchmal sogar ein Rückzieher kam. Wir brauchen ein starkes Europa. Dafür ist der deutsch-französische Motor maßgeblich. In letzter Zeit haben wir nur Macron als Akteur wahrgenommen. Viele erwarten das auch von Deutschland und sind irritiert, wie Deutschland in so eine Schieflage geraten ist. Deutschland stand ja immer für Made in Germany und eine starke Wirtschaft. Als Friedrich Merz im ersten Wahlgang durchgefallen ist, waren viele verunsichert. Andererseits würde ich es aber auch nicht zu hoch hängen: Wir könnten auch auf Macron blicken, wie sehr dieser im eigenen Land geschwächt ist und trotzdem international Führungsstärke zeigt.
Die Erwartungshaltungen waren ja nach den Beschlüssen zu den großen Finanzpaketen sichtbar gestiegen. Was erwarten die europäischen Nachbarn nun?
Wie schon gesagt: Viele wünschen sich ein stabiles Deutschland zurück, das spürt man sehr deutlich.

Welche Erwartungen haben Sie?
Ich wünsche mir, dass wir unserem Industriestandort helfen, aber dass der Klima- und Umweltschutz nicht mit der Dampfwalze überfahren wird. Das gilt auch in der Agrarpolitik. Ich will kein „Weiter so“ wie in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten. Die Welt ist im Umbruch, wir müssen uns neu organisieren. Der European Green Deal hat den richtigen Weg aufgezeigt, und diesen Weg müssen wir gehen. Wir brauchen die Industrie, wir brauchen aber genauso Klima- und Umweltschutz. Beides muss Hand in Hand gehen. Ich hatte zuletzt den Eindruck, dass hier ein Gegensatz gesehen wird. Es ist kein Gegensatz. Es ist ein „und“. Industrie und Klima- und Naturschutz. Ich hoffe sehr, dass die neue Bundesregierung dieses „und“ ganz oben ansetzt.
Sie sind im Wahlkampf vor einem Jahr mit klaren Themen angetreten. Was ist daraus geworden?
Die verfolge ich mit der gleichen Verve wie in der vergangenen Legislaturperiode. Meine fünf Themen sind: Naturschutz, Tierschutz, Verbraucherschutz, Umweltschutz – und jetzt neu dazugekommen: Bildung. Wir brauchen gut ausgebildete Jugendliche, und hier sehe ich ein Riesenmanko – in Deutschland, aber auch in vielen Mitgliedsstaaten. Ich bin in meiner Fraktion zuständig für die europäischen Hochschulallianzen. Dazu stehe ich in engem Kontakt mit der Universität des Saarlandes, die auch in eine Hochschulallianz eingebunden ist. Wir versuchen einen europäischen Abschluss hinzubekommen, was Vorteile für viele Studierende hätte. Schließlich kümmere ich mich um ein Gesetz zum Schutz von Hunden und Katzen, das den illegalen Welpenhandel bekämpft sowie Kommunen und Tierheime entlasten soll. Und was mir bereits in der vergangenen Legislaturperiode wichtig war: Wir brauchen mehr „Made in Europe“, also mehr Wertschöpfung in Europa. Bei öffentlichen Aufträgen müssten europäische Produkte stärker berücksichtigt werden. Ein Beispiel wäre etwa CO2-armer oder -freier „grüner Stahl“, der auch aus dem Saarland kommt.