Reden wollen viele. Zuhören nur wenige. Im Zuhörraum des Münchener Vereins „Momo hört zu“ ist das anders. Ausgebildete Ehrenamtliche leihen hier Menschen, die etwas loswerden möchten, ihr Ohr. Eine Forschergruppe an der Uni Witten-Herdecke begleitet das Projekt.
Neben der Stephanskirche am Alten Südfriedhof in München steht ein oval geformter, lindgrüner Holzbau. Kaum ein Geräusch dringt von draußen in den Raum, drinnen schaffen der Duft von Kaffee und frischem Zirbenöl eine beruhigende Atmosphäre. Eine rote Holzbank mit Sitzkissen schmiegt sich in das Halbrund des hell verkleideten Raumes. In dieser Oase empfängt Marianne, eine der rund 40 ehrenamtlichen Zuhörerinnen des Vereins „Momo hört zu“, Besucherinnen und Besucher:
Simone redet über kranken Vater
Simone, eine 43-jährige Kommunikationsdesignerin, möchte ihren Nachnamen nicht nennen. Sie ist gekommen, um über ihre Not mit der Demenzkrankheit ihres Vaters zu sprechen. „Es belastet mich sehr“, sagt sie nach kurzem Zögern mit gedämpfter Stimme. Bisher pflegt ihre Mutter den alten Mann. Weil sie es nicht mehr schafft, soll er ins Heim gehen. Dabei käme er doch noch gut zu Hause zurecht.
Simone ist dankbar, dass sie sich im Zuhörraum einfach nur aussprechen darf. „Ich kenne es, viel unterbrochen zu werden“, berichtet sie, und „dass das Gegenüber gleich viel von sich selber reingibt und dadurch einfach das Thema schnell weg ist, über das man eigentlich sprechen wollte.“ Viele Freunde wollten nur positive Dinge hören und sich nicht mit den Problemen anderer belasten. „Traurig“ findet Simone das.
Im Zuhörraum ist das anders. Die Ehrenamtlichen hören einfach nur zu. Sie unterbrechen nicht, sie versuchen zu verstehen, ohne zu hinterfragen oder zu bewerten. Die Münchener Initiative „Momo hört zu“ hat die Idee aus Hamburg übernommen. Dort betreiben Ehrenamtliche einen ähnlichen Raum in einem ehemaligen U-Bahn-Kiosk. Der 2023 gegründete Münchener Verein ist nach Momo benannt, dem Mädchen aus Michael Endes Roman, das Menschen mit ihrer Gabe des Zuhörens verzaubert.
Marianne hat „schon immer gern und oft zugehört“. Sie erlebt immer wieder, wie dadurch „Beziehung und Verbundenheit“ entstehen. Spannend findet die Rentnerin, „was es alles für Geschichten im Leben so gibt.“

Eine Forschergruppe an der Universität Witten-Herdecke begleitet und evaluiert den Zuhörraum in einem Hotel in Gmund am Tegernsee, dem zweiten Standort von „Momo hört zu“. Tobias Esch leitet diese Forschung und das Institut für integrative Gesundheitsversorgung und Gesundheitsförderung in Witten-Herdecke. Seine Annahme: Zuhören verbindet Menschen, und diese Verbundenheit stärkt ihre Gesundheit: „Wir wissen aus der Medizin, dass Einsamkeit, also das Nicht-verbunden-Sein, extreme medizinische Konsequenzen hat: Verdoppelung der Herzinfarkt- und Schlaganfallrate, Depressionen, selbst Diabetes.“ Umgekehrt gebe es „genügend Gründe aus der Forschung, dass das Eintreten in Verbundenheit genau das Gegenteil bewirkt“.
„Momo hört zu“ bereitet die Zuhörerinnen und Zuhörer, rund zwei Drittel Frauen, auf ihre Aufgabe vor. In einem zehnwöchigen Online-Kurs befassen sie sich intensiv mit Zuhörtechniken und mit Themen wie Respekt, Wertschätzung, Selbstfürsorge und Dankbarkeit. Der Kurs kostet 200 Euro.
In einem Praxisteil, dem „Momolog“, werden die Teilnehmenden nach dem Zufallsprinzip zusammengewürfelt. Sie verabreden sich täglich für eine Viertelstunde und stellen sich gegenseitig Fragen wie: „Was fordert dich heraus, und wie fühlt sich das in deinem Körper an?“ Dies gibt ihnen die Gelegenheit, nicht nur in sich selbst hineinzuhören, sondern vor allem das reine Zuhören zu üben – einfach hören, was der andere sagt, versuchen zu verstehen, ohne zu hinterfragen oder zu bewerten.
Der Aufwand zahlt sich aus. Simone fühlt sich nach ihrem Besuch im Zuhörraum „deutlich besser“. Die Sorge um ihren Vater bleibt, doch sie konnte sich den „Druck etwas von der Seele reden“. Sie empfand ein „sehr schönes Gefühl“ in dem Raum und konnte ihre Gedanken „fließen lassen“. Zuhörerin Marianne bestätigt: „Wenn es eine authentische Begegnung ist, dann gibt es auch eine gewisse Erfüllung.“ Dann gehe sie „beschwingt hier raus“.
Der Zuhörraum finanziert sich aus Spenden und Hilfen von Sponsoren. Gebaut haben ihn Architektur-Studierende der Technischen Universität im Rahmen eines Uni-Projekts. Anders hätte sich der Verein das gut 40.000 Euro teure Häuschen nicht leisten können. Die Espressomaschine samt Kaffee und Wasser stammen von Sponsoren aus der Nachbarschaft. „Die Blumen hier kommen von einer Floristin hier um die Ecke. Sie wollte den Raum verschönern“, erzählt Zuhörerin Beate Strobel, studierte Psychologin und im Hauptberuf Journalistin. In der Ausbildung bei „Momo hört zu“ hat sie sich „dabei ertappt gefühlt, keine gute Zuhörerin zu sein“. Das bewusste Zuhören erlebt sie als persönliche Weiterentwicklung und Bereicherung.
Strobel schätzt, dass jede Woche rund zehn bis 20 Menschen in den Zuhörraum kommen und das Angebot nutzen. Viele davon gingen nach dem Gespräch „ein bisschen entspannter, aufrechter und entlasteter wieder raus“.
94-Jähriger berichtet vom Krieg
Zuhörerin Ulrike Engelmann, ebenfalls Psychologin, erinnert sich an einige „Gänsehaut-Momente“. Ein 94-jähriger Mönch habe sie im Zuhörraum besucht und von seinen Kriegserinnerungen erzählt. Als 15-Jähriger sollte er von sowjetischen Soldaten erschossen werden. Plötzlich habe ihm einer der Soldaten in einem unbeachteten Moment einen Apfel in die Hand gedrückt und gesagt: „Du bist noch so jung. Du sollst leben. Hau ab“. So sei er dem Erschießungskommando entkommen.
Für manche Ehrenamtliche hat das Zuhören auch eine gesellschaftliche Bedeutung. Sonja Spitzenberger, eine pensionierte Lehrerin und Zuhörerin, sieht ihr Engagement auch politisch. Nachdem sie in der Schule viel bewerten musste, fasziniert sie die Möglichkeit, hier einfach nur anderen Menschen zuzuhören. Jeder habe seine Wahrheit. Deshalb findet sie es wichtig, andere Meinungen erst einmal anzuhören. Sie ist überzeugt, dass dies auch zur Demokratiebildung und -erziehung beiträgt.