Der Videoassistent gibt die Möglichkeit, Fehlentscheidungen zu korrigieren. Die Entscheidungsfindung ist aber auch mithilfe der Technik nicht immer leicht. Ein Ortsbesuch.

Manchmal lohnt es sich, hinter die Geschichte zu blicken. Es war beileibe kein spielentscheidendes Tor, das Dominik Kother für Jahn Regensburg am Abend des 25. Oktober 2024 erzielte. Doch mit Blick auf die Details ist es ein Musterbeispiel dafür, wie schwer Entscheidungen im Fußball selbst in Zeiten des Videoassistenten sind. Und wie schwer sie für alle Beteiligten anschließend zu verstehen sind.
Ende Februar hat der Deutsche Fußball-Bund 32 Journalisten für einen Besuch in den sogenannten „Kölner Keller“ eingeladen, um anhand von Beispielen größeres Verständnis für die Arbeit der Unparteiischen zu vermitteln. Der legendäre Raum, der sich tatsächlich im Keller des TV-Senders RTL in Köln-Deutz befindet, ist eindrucksvoll. Sechs Arbeitsplätze, voll ausgerüstet mit zahlreichen Bildschirmen und jeweils vier Sitzplätzen. Einen für den Video-Schiedsrichter, einen für seinen Assistenten und zwei für die sogenannten Operator, die den VARs die Bilder zusammenstellen, damit Entscheidungen schneller gefällt werden können. Nebenan befindet sich noch ein kleinerer Arbeitsraum, in dem die Videoassistenten für die 2. Bundesliga sitzen. Am letzten Spieltag, wenn alle Partien zeitgleich ausgetragen werden, werden beide Räume gleichzeitig genutzt.
Journalisten auf dem heißen Stuhl

An vier Stationen erklären die Schiedsrichter Sascha Stegemann (40), Robert Schröder (39), Nicolas Winter (33) und Arne Aarnink (40) zunächst Grundsätze des Arbeitsablaufs. Wie kommuniziert wird, welche Bilder sie zur Verfügung haben und wie die Entscheidungsfindung abläuft.
Dann dürfen sich die Journalisten auf den heißen Stuhl setzen und müssen selbst Entscheidungen fällen. Als Beispiel hat Stegemann zunächst eben jenen Regensburger Treffer in Nürnberg gewählt. Weil es ein extremes Beispiel ist.
Es läuft schon die Nachspielzeit in einem denkwürdigen Zweitliga-Spiel. Die Nürnberger führen mit 8:3. Regensburg bekommt noch mal einen Eckball, dieser wird geklärt, der Ball wieder reingeflankt und verlängert und am langen Pfosten schießt Kother den Ball zum vermeintlichen 8:4 unter die Latte. Schiedsrichter Robin Braun hebt sofort den Arm und signalisiert Abseits. Doch es war knapp. Also beginnt bei Videoassistent Winter im Kölner Keller gleich das hektische Treiben. Vier Minuten dauert es, bis die Entscheidung steht und klar ist, dass der Treffer nicht zählt. Und doch war alles anders als gedacht. Und während sich so mancher im Stadion und vor dem Fernseher fragte, wieso das denn so lange dauert und was die da im Keller eigentlich machen, muss man im Rückblick sagen: Das ging eigentlich noch relativ schnell.

Stegemann stellt die Situation nun mit den Journalisten nach. Das Beurteilen der Abseits-Situation erscheint noch machbar. Wir definieren anhand einzelner Frames den „Kickpoint“, also jenen Moment, an dem der Ball den Fuß des Passgebers verlässt. Die anderen Kameras – in der 2. Liga stehen meist neun zur Verfügung, in der ersten sind es bis zu 21, dazu kommen die Kameras für die Torlinientechnik – sind alle synchronisiert. Wir bestimmen den Offensivspieler, der potenziell im Abseits steht und den am nächsten zum Tor stehenden Abwehrspieler als die beiden entscheidenden Personen. Bei beiden muss zunächst der Bewegungsschwerpunkt definiert und ein Lot gefällt werden, dann werden kalibrierte Linien gezogen. Eine blaue für den Abwehrspieler und eine rote für den Stürmer. Ist zwischen den beiden Linien Grün zu sehen, also ein Stück Rasen aus dem TV-Bild, dann handelt es sich um eine Abseitsposition. Berühren sich die Linien, ist es gleiche Höhe und damit kein strafbares Abseits. Das ist hier der Fall. Also kein Abseits. Der Journalist drückt den Knopf, über den im Ernstfall die Videoassistenten mit den Stadion-Schiedsrichtern kommunizieren und sagt: „Hier Deutz 1, das war kein Abseits. Fehlentscheidung. Tor.“ Er schaut stolz zur Seite zu Stegemann. Dieser lächelt und fragt: „Sicher?“
Entscheidungen bleiben strittig

Dann weist er darauf hin, dass der Schütze den Ball bei der Annahme mit der Hand gespielt haben könnte. Also überprüfen wir auch das. Schauen uns mehrere Perspektiven an, meist aus Hintertorkameras. Das Problem: Egal, welche wir nutzen, egal, wie nahe wir ranzoomen, die Situation ist nicht komplett aufzulösen. Doch die endgültige Lösung liegt noch mal ganz woanders. Wieder muss Stegemann uns darauf stoßen, weil wir selbst nicht darauf gekommen wären. „Schauen Sie mal auf den Eckballschützen“, sagt er. Dieser war, während der Ball vor dem Tor war, eigentlich von keiner der TV-Kameras erfasst, doch eine Perspektive, die eigentlich nur zur Erfassung für die Torlinientechnik dient, bringt Aufklärung. Als der Ball nach dem Eckball aus dem Strafraum zurückkommt, kommt der Eckballschütze vor seiner Flanke tatsächlich aus dem Abseits. Also wieder den „Kickpoint“ bestimmen und die Schwerpunkte und Linien ziehen. Dazu muss noch überprüft werden, ob auf dem Weg ein Mitspieler den Ball berührt hat, weil es dann eine neue Spielsituation wäre und doch kein Abseits. Auch das können wir auflösen. Und haben endlich kuriose Gewissheit: Der Schiedsrichter hat eigentlich falsch entschieden und doch war „kein Tor wegen Abseits“ die richtige Entscheidung. Nur eben aus einer anderen Spielsituation.
Dass hier gleich mehrere Checks durchgeführt werden mussten, ist nach außen nicht ersichtlich. Das Fachblatt „Kicker“ gibt Schiedsrichter Braun und seinem Gespann trotz einer „soliden Vorstellung“ die Note 3,0, weil die Überprüfung „mit über vier Minuten sehr lang dauerte“. Im Liveticker des „Kicker“ wird als Begründung für die Aberkennung fälschlicherweise das Handspiel angegeben: „Es ist allerdings nicht ganz klar, wann und von wem.“ Und sogar im Ticker des offiziellen Bundesliga-Kanals heißt es, dem Tor sei „ein Handspiel vorangegangen“. Was am Ende gar nicht der Grund war.

Nun sind solche Fälle nicht an der Tagesordnung, aber zumindest in abgeschwächter Form auch nicht so selten wie man glauben mag. Um das Verständnis der Spieler, Trainer und Zuschauer zu verbessern, hat der DFB kürzlich Durchsagen in den Stadien eingeführt. Nach aktueller Vorgabe ist aber unwahrscheinlich, dass es in Nürnberg eine gegeben hätte. Denn die Durchsagen mit Begründung gibt es nur dann, wenn die Entscheidung geändert wurde. Hier blieb sie rein formell aber bestehen: kein Tor wegen Abseits.
Schulung auch mit Managern
Das zeigt: Die Schiedsrichter sind um ihren Job nicht immer zu beneiden. In einem zweiten Teil der Schulung mit VAR-Chef Jochen Drees und Schiri-Boss Knut Kircher wird klar, dass sie dennoch einen großen Ermessensspielraum haben. Drees hat natürlich bewusst Beispiele ausgesucht, die nicht eindeutig sind und lässt sie von den Journalisten bewerten. Doch auf die Frage „Ist die Entscheidung des Schiedsrichters richtig?“ fällt das Votum in unserer 13 Personen umfassenden Gruppe nicht selten mit 7:6 aus. Nur ein einziges Mal bei 16 Beispielen gibt es ein 13:0, als der Kölner Jan Thielmann dem Leverkusener Granit Xhaka auf die Achillesferse tritt und nach Ansicht aller Rot sehen muss. „Wir haben die Schulung zuvor mit TV-Experten und mit Trainern und Managern gemacht“, sagt Drees lachend. „Und bei denen fiel es ähnlich knapp aus.“

In manchen der Fälle – wie bei Thielmann – sind die Schiedsrichter auch im Nachhinein zu klaren Urteilen gekommen. In nicht eindeutigen wird die Entscheidung des Platz-Schiedsrichters gestärkt. Da der Videobeweis – wie oft betont – nur „bei eindeutigen Fehlentscheidungen“ zum Einsatz kommen soll, kommt Drees bei einem Beispiel zum Schluss: „Wir haben die Entscheidung Elfmeter nicht korrigiert. Hätte der Schiedsrichter entschieden, keinen Elfmeter zu geben, wäre diese Entscheidung aber auch stehen geblieben.“ Das mag absurd klingen, ist aber nicht anders zu regeln und behält dem Spiel ein Stück der Ursprünglichkeit, die Kritiker durch den VAR verloren sehen. Bei einigen Fällen kommt es auch unter den Journalisten zu sehr kontroversen Diskussionen bei der Beurteilung von Szenen. Was eben zeigt: Nicht immer ist die Entscheidung eindeutig. Die Unparteiischen wollen weiter für Verständnis werben und geben sich offen für Input von Außen. „Wir holen uns auch vermehrt Meinungen von ehemaligen Profis ein. Die können sich in vieles besser reinversetzen“, sagt Drees und ergänzt lachend: „Aber wenn Du bei einer Zweikampfszene einen ehemaligen Stürmer und einen ehemaligen Abwehrspieler fragst, bekommst du oft ganz gegensätzliche Meinungen.“
In absehbarer Zeit, einen genauen Termin gibt es noch nicht, wird das Video Assistent Center (VAC) aus Köln nach Frankfurt umziehen und in den neuen DFB-Campus integriert. Den „Kölner Keller“ wird es dann nicht mehr geben. Die Bezeichnung sei ohnehin eine Erfindung der Medien, sagt Kircher. Und ergänzt: „Aber ich bin sicher, sie werden sich auch für das VAC in Frankfurt einen schönen Namen ausdenken.“