Union Berlin steht kurz vor dem Erreichen der Champions League. Vor allem Sheraldo Becker blüht im Saisonfinale auf. Seine Gala gegen Freiburg feierte er mit einer Superhelden-Maske.
Im Profifußball kommt es nur selten vor, dass jemand eigene Fehler zugibt. Zu groß ist in der Regel die Sorge, dass dies im Milliarden-Geschäft als Schwäche angesehen und ausgenutzt würde. Aber Christian Streich ist nach 13 Jahren als Cheftrainer des SC Freiburg fast schon immun gegen solche Gedanken, und nach der bitteren 2:4-Niederlage seines Teams bei Union Berlin war es ihm ein großes Bedürfnis, eine Teilschuld auf sich zu nehmen. „Ich habe einen Fehler gemacht“, sagte Streich. Er habe Lukas Kübler im rechten Mittelfeld in die Startelf befördert, „obwohl der die Woche krank war“. Kübler war körperlich ganz offensichtlich nicht auf der Höhe, während seines Kurzeinsatzes bekam er sogar Kreislaufprobleme. Nach rund einer halben Stunde korrigierte Streich seinen Fehler und wechselte Kübler durch Roland Sallai aus. „Ich habe gedacht, es ist alles okay“, sagte Streich hinterher, „und es war nichts okay“.
Champions League „wird greifbar“
Bei Union war hingegen die Stimmungslage noch viel besser als nur „okay“. Durch den Sieg im Heimspiel gegen den direkten Konkurrenten ist die Champions League für die Eisernen zum Greifen nah. Schon mit einem Auswärtssieg am Samstag (20. Mai, 15.30 Uhr) bei der TSG Hoffenheim könnte das Team von Trainer Urs Fischer den Einzug in die Königsklasse praktisch perfekt machen, wenn Freiburg am Tag zuvor gegen den VfL Wolfsburg verliert. Die Europa League und damit das dritte Jahr hintereinander internationaler Fußball ist den Köpenickern schon jetzt sicher. „Das ist ein Wahnsinnserfolg, der mich riesig freut“, sagte Fischer. In der Euphorie warf der Schweizer seine wochenlang bewusst zur Schau gestellte Zurückhaltung etwas über Bord. Die Champions League „wird greifbar“, sagte er, „aber wir müssen den Schritt noch machen und zugreifen“. Ein Sieg bei den abstiegsbedrohten Hoffenheimern oder eine Woche später zu Hause gegen Werder Bremen sei keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Das jüngste 0:1 auswärts beim FC Augsburg ist Union eine Warnung, und auch die Nerven könnten in Berlin eine Rolle spielen. „Die Bundesliga ist in den letzten Spielen verrückt“, weiß Fischer.
Geht das Saisonfinale aber einigermaßen normal aus, werden die Rot-Weißen die nächste Stufe ihrer sensationellen Entwicklung nehmen: Aufstieg 2019, Klassenerhalt 2020, Conference League 2021, Europa League 2022, Champions League 2023 – ein eisernes Fußball-Märchen! Und eine riesengroße Chance, sich dauerhaft in der Bundesliga-Spitzengruppe zu etablieren. In der Königsklasse würden allein aus dem Startgeld 15,6 Millionen Euro in die Clubkasse fließen, hinzukommen Mehreinnahmen aus Ticketverkäufen, Vermarktungs-, Sponsoring- und Merchandising-Erlösen. In Saus und Braus würde Union zwar auch dann nicht leben, die Verbindlichkeiten sind nach wie vor eine Last. Aber die geplanten Investitionen in Stein und Bein würden den Club-Verantwortlichen deutlich leichter fallen als ohne die Champions-League-Millionen. Es stehe die „größte und wichtigste Investitionsphase unserer Geschichte“ bevor, sagte Clubpräsident Dirk Zingler angesichts der geplanten Baumaßnahmen bei Stadion, Nachwuchsleistungszentrum und Trainingsplatz-Areal.
Doch die Gelder sollen auch in Spieler investiert werden. „Wir müssen uns sportlich immer weiterentwickeln, dann werden wir auch wirtschaftlich gesünder“, erklärte Zingler. Auf dem Transfermarkt will Union aber auch weiterhin nicht mit den dicken Geldscheinen wedeln, sondern mit der sportlichen Perspektive, dem ruhigen Umfeld, der Atmosphäre in der Alten Försterei und im Idealfall mit der Aussicht auf Champions-League-Auftritte um das kickende Personal werben. Dem Vernehmen nach ist Union unter anderem am Tschechen Alex Kral stark interessiert; der derzeit von Spartak Moskau an Schalke 04 ausgeliehene Mittelfeldspieler weilte Medienberichten zufolge schon zu konkreten Gesprächen in Berlin. Auch Zweitliga-Stürmer Dawid Kownacki von Fortuna Düsseldorf soll auf Unions Einkaufsliste stehen. Beide Spieler wären sicher keine, die in der Champions League den Unterschied ausmachen würden.
Bei Sheraldo Becker könnte man sich das schon eher vorstellen. Dass der schnelle und torgefährliche Angreifer Unions größte Offensiv-„Waffe“ ist, bewies er auch gegen Freiburg mit einem Doppelpack (36. und 38. Minute) und zwei Torvorlagen. Nach dem ersten Treffer überraschte der gebürtige Niederländer, als er plötzlich eine Spiderman-Maske hervorzog, sie sich aufsetzte und damit Erinnerungen an den Jubel des einstigen Dortmunder Starstürmers Pierre-Emerick Aubameyang weckte. Dabei feierte Becker schon öfters seine Tore mit einem Spiderman-Jubel – nur diesmal eben mit passender Maske. „Ich wollte auf den perfekten Moment dafür warten“, verriet Becker: „Ich hatte es eigentlich für das letzte Saisonspiel gegen Werder Bremen geplant. Doch gegen Freiburg war meine ganze Familie im Stadion.“ Seit einem Jahr habe er die Maske, „sie hat 15 Euro gekostet“. Und eine Gelbe Karte: Dem Schiedsrichter blieb aufgrund des Regel-Katalogs nichts anderes übrig, als Becker wegen unsportlichen Verhaltens zu verwarnen.
Becker überzeugt mit Tempo
„Eine unnötige Gelbe Karte“, meinte Trainer Fischer, der den Matchwinner für dessen Extravaganz aber nicht zu sehr abstrafen wollte. Schließlich habe sich Becker, „etwas einfallen lassen“ und „gerade die jüngere Generation hatte ihren Spaß daran“. Viel wichtiger aber war Fischer, dass Becker auch sportlich glänzte. „Seine Leistung war heute außerordentlich. Er war an allen gefährlichen Aktionen beteiligt“, lobte der Coach: „Diese Geschwindigkeit zu verteidigen, ist dann fast unmöglich.“ Das sah sein Freiburger Trainerkollege Streich ähnlich: „Wir haben auf unserer linken Seite schwach verteidigt gegen die Qualität eines Becker.“
Ob Union auch in der kommenden Saison auf die Fähigkeiten des Top-Scorers bauen kann, ist nach wie vor nicht gesichert. Becker ist auf dem Transfermarkt ein gefragter Mann und Union nach wie vor auf Transfererlöse angewiesen. Ob Becker weiterhin ein Fixpunkt im Union-Spiel bleibt, wird sich wohl erst spät in der Vorbereitung zeigen, vielleicht auch erst nach Saisonstart. Fakt ist: Die Suche nach einem gleichwertigen Ersatz wäre eine Herkulesaufgabe. „Was soll ich sagen, wie wichtig er ist? 18 Scorerpunkte – Wahnsinn“, sagte Fischer. Beide hatten in der Vergangenheit ihre Differenzen, Becker saß vor anderthalb Jahren sogar schon auf gepackten Koffern, weil er seiner Meinung nach von Fischer viel zu selten aufgestellt wurde. Doch diese Zeit ist vorbei. Becker und Fischer schätzen sich inzwischen sehr. Der Trainer weiß, dass Becker ein Bessermacher ist. Am Anfang der Saison sorgte er dafür, dass Neuzugang Jordan Siebatcheu den Abgang von Taiwo Awoniyi schnell vergessen machte. Und nach Siebatcheus Leistungseinbruch glänzt Becker als Partner von Stoßstürmer Kevin Behrens. Solche Anpassungsfähigkeiten werden auch in der kommenden Spielzeit gefragt sein, wenn es im Konzert der Großen gegen Real Madrid, Manchester City oder Paris Saint-Germain kommen sollte. Becker hat jedenfalls Lust auf die Champions League: „Wir sind nah. Und wir tun alles dafür, was wir können.“