Ein historisches Kaleidoskop für soziale Gerechtigkeit
Die Energiekrise treibt ihre Blüten bis in den Bundestag. Die Freien Demokraten zitieren Karl Marx, und die Linkspartei erinnert an Konrad Adenauer. Auf der Suche nach sozialer Gerechtigkeit in Krisenzeiten macht die Not erfinderisch. Die Deutschen in Ost und West haben in ihrer bewegten Geschichte mehr oder weniger zündende Ideen zur Bewältigung von Energiekrisen entwickelt – im Krieg, in der Nachkriegszeit und im Kalten Krieg zwischen Ost und West.
Eine heute nahezu vergessene Maßnahme zur Erleichterung der finanziellen Lage West-Berlins nach der Blockade durch die Sowjets von 1948/49 war das von der deutschen Bundesregierung eingeführte „Notopfer Berlin“. Denn die über die alliierte Luftbrücke nach West-Berlin eingeflogenen Hilfsgüter mussten am Ende dann doch bezahlt werden. Außer in West-Berlin wurde neben einer Zusatzabgabe zur Einkommenssteuer im Bundesgebiet zum normalen Porto für Postsendungen eine Steuermarke im Wert von zwei Pfennig gefordert, die erst 1956 abgeschafft wurde. In der Philatelie haben diese „Notopfer“-Marken heutzutage mitunter einen Wert von mehreren Tausend Euro. Mit dieser Aktion trieb Bonn insgesamt etwa 7.250 Millionen D-Mark ein.
Legendär und in aktuellen Krisenzeiten sogar von der Linkspartei zitiert und als Argument benutzt, weil für breite Bevölkerungskreise hilfreich, war der unter der Kanzlerschaft von Konrad Adenauer im August 1952 beschlossene Lastenausgleich. Per Gesetz garantierte er finanzielle Entschädigungen für Personen, die durch den Zweiten Weltkrieg und seine Nachwirkungen Vermögensschäden oder „besondere andere Nachteile“ erlitten hatten.
Am wirkungsvollsten für die abgeschnittenen Westsektoren Berlins war jedoch in den Zeiten des Kalten Krieges die alljährlich von der Bonner Bundesregierung dem Haushalt West-Berlins zur Verfügung gestellte Bundeshilfe. Sie sollte – was nicht immer gelang – die Finanzlücke im Etat der eingemauerten Teilstadt schließen. Nach der Aktion „Notopfer“ waren es jährlich 237 Millionen D-Mark als Zuschuss und 62 Millionen D-Mark als Kredite. Bis Ende der 60er-Jahre steigerte sich dieser Betrag auf jährlich mehr als zwei Milliarden D-Mark.
Die drei Westalliierten erließen für West-Berlin, für das sie die Oberhoheit hatten, zur Sicherstellung der Versorgung Anordnungen, die nach der Blockade Engpässe bei Nahrungsmitteln und Rohstoffen verhindern sollten. 1949 musste ein Vorrat für mindestens 60 Tage für sämtliche rationierten Lebensmittel – die auf Lebensmittelkarten zugeteilt wurden – angelegt werden. Der Senat von West-Berlin war somit gezwungen, an verschiedenen Stellen der Stadt Lager einzurichten – für Trockenzwiebeln und Bekleidung ebenso wie für Düngemittel und Toilettenpapier.
Diese „Senatsreserve“ wurde in den Folgejahren durch weitere Weisungen der drei Schutzmächte in West-Berlin ergänzt und verbessert. Umfangreiche Vorratslager von nicht verderblichen Lebensmitteln sowie an flüssigen und festen Brennstoffen und an Rohstoffen für die Industrie kamen hinzu. Dem West-Berliner Senat lag daran, seinen selbst geschaffenen Ruf als größte Industriestadt zwischen Paris und Wladiwostok nicht zu verlieren. Daher wurde der Bedarf der Zwei-Millionen-Stadt für nahezu zwei Jahre gedeckt.
Ein wichtiger und spürbarer Effekt der „Senatsreserve“ in West-Berlin war die stabilisierende Wirkung auf die Preise. Preiserhöhungen – insbesondere bei Lebensmitteln – waren dadurch so gut wie ausgeschlossen. Und wann immer in West-Berlin trotzdem der Brotpreis um einige Pfennige angehoben wurde, gab es einen kleinen verbalen Volksaufstand. Ähnlich wie jetzt wurde gern die Josef-Geschichte aus dem Alten Testament in Berlin zitiert, in der es heißt: „Nun scheinen die fetten Jahre vorbei zu sein, und es kommen die mageren, für die wir leider keine ausreichende Vorsorge getroffen haben.“