Sie liegen wie Inseln im dunklen Waldmeer: die Schachten, einsame (Ex-)Weidegebiete in den höheren Lagen des Bayerischen Waldes. Im Winter sind sie ein reizvolles Ziel für Schneeschuhwanderer. Was auch am mystischen Höllbachtal mit seinen Eiswänden liegt.
Früher wurden auf die Schachten, speziell gerodete Lichtungen, vorwiegend Jungtiere zum Weiden getrieben“, klärt Steffen Krieger uns gleich zu Beginn der Tour auf. Von den erstmals im 16. Jahrhundert erwähnten, einst mehr als hundert Schachten, sind noch rund drei Dutzend erkennbar, eine Handvoll wird sogar heute noch genutzt. So oder so: Die jeweils ein paar Hektar großen Hochflächen sind nicht nur für Weidetiere erhabene Orte, sondern auch für Wanderer. Und das auch bei Schnee. Vorteil Winter: Es sind deutlich weniger Ausflügler unterwegs. Auch weil es spezielle Ausrüstung braucht, nämlich Schneeschuhe. Ah, Stichwort. Die und Wanderstöcke reicht uns der 56-jährige Waldführer des Nationalparks aus seinem Bus, an dem wir uns beim Parkplatz Scheuereck getroffen haben. „Die Wege müssen wir uns vor allem im oberen Bereich selbst spuren. Ohne Schneeschuhe würden wir ziemlich einsinken.“
Das Angebot an Touren ist groß
In der ersten Gehviertelstunde verzichten wir noch auf die Trethilfen. Die verschneite, nicht öffentliche Forststraße, die hinter dem Rothirschgehege am Parkplatz weiter in den Nationalpark führt, ist geräumt und eben. Dann zweigt unser Weg nach oben ab und wir schnallen die XXL-Latschen unter die Wanderstiefel. Spart Energie, weil man durch die höhere Auflagefläche nicht so in den Schnee sackt. Nach einigen Höhenmetern biegen wir – jetzt handelt es sich nur noch um einen besseren Trampelpfad – ins Höllbachtal ab und laufen parallel zu dem gleichnamigen Flüsschen bergauf. Steffen erklärt uns, woher der teuflische Name herrührt. „Zum einen war es in dem engen Tal oft sehr neblig, zum anderen sorgten gelbe Schwammflechten für schwefelige Gerüche.“ Klare Indizien für die Unterwelt! Ein Stoff für die Fantasie, ein Segen für die Umwelt: Das Gebiet, aufgrund des Reliefs ohnehin kaum für die Holzwirtschaft nutzbar, wurde schon früh unter Naturschutz gestellt.
Auch deshalb ist das Setting himmlisch: hier junge Birken, dort dicke Tannen und jede Menge Linden im Winterkleid. An denen geht es ebenso vorbei wie an Wasserfällen, die sich mitunter über mehrere Kaskaden ergießen. Noch größeren Eindruck machen zapfige Eiswände an überfrorenen Felsen. Zudem geht es zwei-, dreimal über den gurgelnden Bach, von Glitschstein zu Glitschstein. Aufgepasst, dass man nicht unerwartet zum Wackelkandidaten wird!
Nach etwas mehr als einer Stunde taucht am Rand eines Stauweihers die Höllbachhütte auf. Das über 150 Jahre alte „Schmuckkästchen an der Höllbachschwelle“, wie sie gern bezeichnet wird, ist nicht öffentlich, sondern an den Bayerischen Waldverein, Sektion Zwiesel, verpachtet. Ein Traum, den sich rund 500 Selbstversorger im Jahr verwirklichen. Weil: herrlich gelegen, herrlich ruhig, herrlich urig. Wir haben das Glück, dass der Hüttenwart, Herbert Habinger, gerade nach dem Rechten schaut und uns einen Einblick in die einfache, aber gemütliche Stube gewährt. „I komm“, und dabei deutet der Rentner auf seine jahrzehntealten Tourenski, „regelmäßig hier rauf, is einfach schön.“ Was er weniger schön findet: „Die Schneeschuhe sind ein Graus.“ Wir schauen beschämt zu Boden auf unsere Schneeschuhe. „Ned falsch verstehen: Auf den Wegen ist ja alles gut, aber viele gehen kreuz und quer – auch in der Nationalpark-Kernzone weiter oben, wo Wegegebot herrscht.“
Strecke über mehrere Tage
Steffen, der bei einem Technologieunternehmen und „nebenbei“ als Naturfotograf, Buchautor, Vortragender und eben Waldführer arbeitet, springt ihm bei: „Wir müssen den Tieren Rückzugsmöglichkeiten gewähren, insbesondere dem Auerhuhn.“ Mitteleuropas größtem Vogel soll ein besonderer Schutz zugutekommen. Davon profitieren aber auch Luchse, Füchse, Fischotter, Wanderfalken und Co.
Bei Führungen versuchen Steffen und seine Kollegen, die Besucher genau darauf zu sensibilisieren. Das Angebot an öffentlichen Touren ist groß, das Interesse an den hinter Lindberg beginnenden Schneeschuhrundtouren durch die Höllbachgspreng, wie der obere Schluchtenteil des Tals heißt, besonders. „Mit etwas Kondition kann da jeder mitmachen.“ Was man, wenn das renovierte Rachelschutzhaus wie geplant 2024 öffnet, individuell gut machen kann: eine Mehrtagetour, etwa in Kombi mit dem neu eröffneten Schutzhaus Falkenstein. Dessen Gipfel erahnen wir immer wieder. Dank der markanten Holzbeschilderung (Pflanzensymbole stehen für Strecken-, Tiersymbole für Rundwege) würde man die Mehrtagesstrecke auch jetzt schon gut finden, nur müsste man zum Übernachten früher oder später wieder ins Tal.
Wir bleiben auf der Höhe, schlagen den verschneiten, nur mit wenigen Fußspuren versehenen Forstweg Richtung (Süd-)Osten ein und erreichen nach einer Weile den etwa 400 Höhenmeter über unserem Ausgangspunkt gelegenen Albrechtschachten. Dass wir unser Ziel erreicht haben, ist unübersehbar: Der Wald tut sich auf, die Sonne bricht durch und sorgt für herrliches Funkeln auf der jungfräulichen Schneedecke, aus der sich in weiten Abständen immer mal wieder ein Laubbaum erhebt. Den schönsten Akzent setzt ein Bergahorn, der sich im dichten Wald nebenan niemals so entfalten könnte. Jetzt dient er als Weißer Riese im Winterwonderland, im Sommer als Schattenspender. Fakt ist: Der langgezogene, rund sieben Hektar große Albrechtschachten war aufgrund seiner sonnigen Südlage bei Hirten als Übernachtungs- und Rastplatz besonders beliebt. Kein Wunder!
Auch Wölfe sind hier unterwegs
Anfang der 60er-Jahre war damit Schluss – unrentabel. So ging es den meisten Schachten. Bis auf sechs beweidete Areale schrumpfte der Bestand 2010, doch seit ein paar Jahren werden es wieder mehr. Dank Forschungsergebnissen, die dem Bestand und der Entwicklung der teils bedrohten Pflanzenarten auf den historischen Hochweiden positive Effekte bescheinigen, hat sich die Nationalparkverwaltung für ein Comeback der Schachten-Beweidung entschieden. Statt Motorsensen und mühsamer Handarbeit sollen wieder Rinder, darunter das gefährdete Rote Höhenvieh, das Kappen der Baumschößlinge übernehmen, damit die Freiflächen nicht überwaldet werden. Auf dem Ruckowitzschachten etwa, mit knapp 17 Hektar der größte seiner Art, gehen die vierbeinigen Landschaftsgärtner wieder regelmäßig zu Werke. Zu tun gäbe es für die Tiere auch anderswo genug, rund 30 Schachten gibt es im Arbergebiet. Wie Perlen an einer Kette reihen sie sich entlang der Grenze nach Tschechien, darunter der Lindberger Schachten und die Beerenkopfalm, die sich mit der Talsperre bei Frauenau zu einer anspruchsvollen, 20 Kilometer langen und im Sommer überaus beliebten Wanderung kombinieren lassen.
Aber bei so viel Schnee wie heute verzögert sich das Tempo und das bei höherem Kraftaufwand. Die Folge: Wir stutzen die hochtrabenden Pläne auf die ursprünglich geplante Runde. Elf Kilometer durch viel Schnee sind ja auch nicht ohne. Außerdem wollen wir die Sonne im Schachten noch genießen. Bei einer Brotzeit geht das bestens, ebenso ein Foto-Feuerwerk. Das Setting eignet sich bestens: vorne Schneeparadies mit einzeln stehenden Baumriesen, dahinter der dichte Wald. Nur einen Panoramablick vermissen wir.
Als wir nach einer Weile wieder den Weg Richtung Parkplatz einschlagen, lässt uns etwas abrupt anhalten. „Sind das etwa Wolfsspuren?“, rätseln wir. Aufgeregt laufen wir den Weg weiter bergab. „Möglich wäre es“, meint Steffen, „schließlich nutzen auch Säugetiere die Wirtschaftswege, um Kraft zu sparen.“ Und der Mann kennt sich mit Tieren aus, insbesondere mit Wölfen. Schließlich gelang Steffen 2017 als erstem ein Live-Foto von einem Wolf im Bayerischen Wald. Davor gab es „nur“ Bilder aus der Fotofalle. Spuren oder Begegnungen sind aber nach wie vor superselten. Daher wäre eine Fährte etwas Besonderes. Doch nach zwei, drei Kurven stellt sich heraus: Die Pfotenabdrücke gehörten wohl doch eher zu einem sehr großen Hund. Ein bisschen sind wir über diese Erkenntnis auch erleichtert.