Claudia Blöser erforscht als Philosophie-Professorin das Wesen der Hoffnung. Ein Auslöser, sich mit diesem Thema zu beschäftigen, war vor 20 Jahren die Auseinandersetzung mit ihrer todkranken Schwester am Sterbebett.
Frau Blöser, wie fühlt sich Hoffnung für Sie an?
Ich finde, der deutsche Philosoph Ernst Bloch beschreibt das ganz schön: Hoffen macht innerlich weit. So fühle ich das auch oft. Eine Weite, eine Entspannung. Aber Hoffnung kann auch mit Angst verbunden sein. Es geht dabei ja um eine Zukunft, die unsicher ist.
Ihre Motivation, die Hoffnung zu verstehen, ist sehr persönlich. Vor 20 Jahren – Sie hatten gerade Ihr Studium begonnen – starb Ihre Schwester mit 21 Jahren an Krebs. Welche Rolle hat Hoffnung damals gespielt?
Meine Schwester war vier Jahre krank, bis sie gestorben ist. Diese Zeit war ein Auf und Ab der Hoffnung. Wie das bei Krebs eben so ist. Zwei Monate vor ihrem Tod sagte ich zu einem gemeinsamen Freund, dass ich die Hoffnung aufgegeben habe. Dass ich glaubte, sie würde bald sterben. Meine Schwester hat das dann irgendwie mitbekommen. Sie hatte Metastasen in der Lunge, ein Bein war schon amputiert worden, sie lag nur noch zu Hause im Bett.
Für mich war die Lage eigentlich eindeutig, für sie aber scheinbar nicht. Ich weiß noch, dass ich sie besuchte und sie mich verzweifelt fragte: „Hast du mich etwa aufgegeben?“
Hat Ihre Schwester denn gehofft, dass sie doch noch geheilt wird?
Nein, das nicht. Eher, dass sie noch ein bisschen länger lebt und noch mal eine bessere Phase kommt. Es ist paradox, dass sie das so kurz vor ihrem Tod noch dachte. Denn ein paar Monate davor war die Situation umgekehrt: Sie war noch relativ fit, hatte mich besucht und gesagt, dass sie spürt, ihr bleibe nicht mehr viel Zeit. Und ich war total geschockt, weil ich das nicht erwartet hatte. Aber als es dann wirklich auf das Ende zuging, hat meine Hoffnungslosigkeit ihr Angst gemacht.
Das muss sehr schmerzhaft für Sie beide gewesen sein.
Ja, ich hatte große Schuldgefühle, auch nach ihrem Tod noch. Ich habe mich damals gefragt: Hätte ich die Hoffnung für sie nicht aufgeben dürfen? Wann ist es richtig, die Hoffnung aufzugeben, und wann falsch? Diese Frage hat mich lange beschäftigt.
Haben Sie sich denn wieder vertragen?
Ja, ich erinnere mich leider nicht mehr, wie. Aber etwas später habe ich sie wieder besucht, saß an ihrem Bett und habe ihr den kleinen, schönen Weihnachtsmarkt beschrieben, auf dem ich davor war. Ich wollte sie am Leben da draußen teilhaben lassen, indem ich ihr alle Details erzähle. Da fing sie an zu weinen und sagte, es sei so schwer für sie, das zu hören, weil sie so etwas nie wieder erleben werde: über einen Weihnachtsmarkt schlendern. Sie hatte da also scheinbar die Hoffnung aufgegeben, dass es wieder besser werden würde.
Wie blicken Sie heute auf den Konflikt zurück?
Er war auf jeden Fall wichtig für uns beide. Denn danach war unsere Realität die gleiche. Wir waren uns beide bewusst, dass sie bald sterben würde. So konnten wir gemeinsam trauern und Abschied nehmen. Das ist nicht selbstverständlich. Es gibt Menschen, die noch Autos kaufen, obwohl sie wissen müssten, dass sie sehr bald sterben werden. Und ich glaube, Hoffnung kann bis zuletzt zwischen Menschen stehen.
Inwiefern?
Ich habe neulich ein Buch von Susan Sontags Sohn gelesen, in dem er über den Tod seiner berühmten Mutter schreibt. Sie ist auch an Krebs gestorben. Er setzt sich im Buch damit auseinander, dass sie bis zu ihrem Tod gehofft hat, sie würde wieder gesund werden. Das ist eine schwierige Situation, wenn alle drum herum die Hoffnung schon aufgegeben haben, und niemand traut sich so richtig, die Person damit zu konfrontieren. Weil es das Letzte ist, was ihr bleibt. Sontags Sohn schreibt, sie sei einsam gewesen in ihrer Hoffnung.
Ist das denn noch Hoffnung oder schon Illusion?
Kommt darauf an, wie man Hoffnung definiert. Da gibt es verschiedene Auffassungen. Die einen sagen: Wenn sich Hoffnung auf etwas bezieht, was ganz klar nicht mehr erfüllt werden kann, ist es keine Hoffnung mehr, sondern Illusion. Andere sagen: Man kann auch auf das Unmögliche hoffen, obwohl das eben unvernünftig ist. Auch eine Illusion kann jemandem guttun. Dann ist es schwer, sie zu kritisieren.
Und wann ist es wichtig, die Hoffnung aufzugeben?
Ich denke, für meine Schwester war es das Richtige. Aber das gilt vielleicht nicht für jeden. Eine wichtige Frage dabei ist: Welche Werte und Ziele hat die Person, die hofft? Susan Sontag zum Beispiel, so schreibt ihr Sohn, habe sich selbst als eine gesehen, die die Hoffnung nie aufgibt. Das war ein wichtiger Teil ihres Selbstverständnisses, ihrer Identität. Vielleicht passt es dann, dass sie bis zuletzt gehofft hat. Dass sie diesen Teil von sich nicht aufgegeben hat. Bei meiner Schwester würde ich das anders bewerten. Ihr war es sehr wichtig, sich aufrichtig mit ihrer Familie und ihren Freunden auszutauschen. Das war nur dadurch möglich, dass wir ungefähr in der gleichen Realität waren. Und meine Schwester ist übrigens nicht hoffnungslos gestorben.
Wie meinen Sie das?
Durch das Loslassen dieser einen Hoffnung hat sie Platz für andere Hoffnungen gemacht, die der Situation angemessener waren. Zum Beispiel hat sie gehofft, Weihnachten noch zu erleben. Und sie hat plötzlich eine Sicherheit entwickelt, dass es für sie irgendwie anders weitergeht. Da war eine Neugierde auf das, was kommt. Sie hat den Tod plötzlich nicht mehr als allerletztes Ende gesehen. Das war für mich überraschend. Ich weiß bis heute nicht, woher das kam.
Wann hatte sich das gewendet?
Das muss irgendwann im Dezember gewesen sein, kurz nach Weihnachten ist sie dann gestorben. Der ganze Schmerz und das Wissen darüber, dass sie gehen muss, waren trotzdem da. Aber eben auch dieser neue Ausblick auf die Zukunft.
Die Hoffnung Ihrer Schwester war also nicht ganz weg, sondern hat sich auf etwas Neues bezogen.
Genau. Und das macht Hoffnung auch aus: Sie ist flexibel. Sie ist ein Prozess. Jemand gibt eine Hoffnung auf, dadurch kann eine neue entstehen. Auch verschiedene, nicht kompatible Hoffnungen können gleichzeitig da sein. Es geht nicht darum: Man hat Hoffnung oder nicht. Hoffnung ist ein bunter Flickenteppich. Zumindest haben meine Schwester und ich das so erlebt. Wir waren am Ende nicht hoffnungslos, obwohl wir die Hoffnung auf Heilung und eine gemeinsame Zukunft verloren hatten. Unsere Hoffnung ging immer weiter. Sie war anpassungsfähig.
Hat Ihre Schwester zuletzt in einem spirituellen Sinne gehofft?
Vielleicht. Wir haben komischerweise nie darüber gesprochen, woher diese Zuversicht kam. Für mich kam sie relativ plötzlich.
Hoffnung ist im christlichen Glauben ein zentrales Konzept. Tritt man denn, wenn man hofft, immer in Beziehung zu einer unbekannten, höheren Macht? Oder gibt es auch eine säkulare Hoffnung?
Ich denke schon, dass man hoffen kann, ohne religiös zu sein. Auch in dem Fall nimmt man an, dass die Zukunft von Faktoren abhängt, die man nicht kontrollieren kann. Zum Beispiel von der Natur oder von anderen Menschen, aber nicht von einer höheren Macht. Und gleichzeitig geht Hoffnung immer über das empirisch Gegebene hinaus. Sie erfordert immer den Mut und das Vertrauen, sich nicht nur an die Fakten zu halten. Trotzdem scheint Hoffnung leichter zu sein für Menschen mit religiösem Glauben. Denn dann ist die Hoffnung Teil einer Weltanschauung.
Wie definieren Sie Hoffnung in Ihrer Disziplin, der Philosophie?
Mit der Hoffnung ist es ein bisschen so wie mit dem Spiel: Wir erkennen alle, was ein Spiel ist. Aber es gibt keine allgemeine Definition, keine gemeinsamen Regeln, die für jedes Spiel gelten. Der Philosoph Ludwig Wittgenstein nennt das Familienähnlichkeit. So ist es auch mit der Hoffnung. Trotzdem gibt es in der Philosophie Annäherungen an eine Definition: Hoffnung ist, einen Wunsch zu haben und überzeugt zu sein, dass die Erfüllung dieses Wunsches zumindest möglich ist. Nicht unbedingt wahrscheinlich, aber möglich. Mir ist es wichtig, zu betonen, dass Hoffnung sich sehr unterschiedlich ausdrücken kann– manchmal machen wir uns beim Hoffen ein konkretes Bild von der Zukunft, manchmal nicht. Manchmal handeln wir, wenn wir hoffen, und manchmal nicht.
Ist Hoffnung immer mit positiven Gefühlen verknüpft?
Nein. Hoffnung wird ja dann erst relevant, wenn es um etwas geht, das wir nicht wissen. Insofern ist sie oft mit Unsicherheit verbunden. Wenn wir uns auf das Positive fokussieren, spüren wir Hoffnung. Das Gute ist möglich. Aber das gute Gefühl kann schnell kippen. Hoffnung und Angst gehen oft Hand in Hand, sind aneinandergekettet, so hat es Spinoza ausgedrückt. Hoffnung ist vor allem mit schönen Gefühlen verbunden, wenn sie so etwas ist wie eine Offenheit für die guten Möglichkeiten, die die Zukunft bereithalten könnte.
Haben die Krankheit und der frühe Tod Ihrer Schwester Sie dazu gebracht, Philosophie zu studieren?
Nur indirekt. Als meine Schwester krank war, habe ich noch Physik studiert. Ich wollte die Welt verstehen und dachte, dort finde ich vielleicht Antworten. Aber so war es nicht, die Physik beschäftigt sich nicht mit den existenziellen Fragen der Menschen, so habe ich das damals zumindest wahrgenommen. Und dann dachte ich mir: Die Philosophen, die müssen doch irgendwas gesagt haben zu diesen tiefsten Fragen des Menschseins, denen meine Familie und ich damals ausgesetzt waren. Das war einer der Gründe für mich, Philosophie im Nebenfach zu studieren. Dann habe ich zum Beispiel Platons Dialoge entdeckt und darin ein bisschen mit meiner Schwester zusammen gelesen.
Was haben Sie aus dieser wissenschaftlichen Arbeit über sich und Ihre Schwester gelernt?
Dass die Antwort auf die Frage, ob Hoffnung zu haben gut ist oder nicht, philosophisch sehr komplex ist. Da muss man viele Faktoren miteinbeziehen: zum Beispiel, ob sie jemandem guttut oder nicht, ob das Gehoffte wahrscheinlich ist oder nicht, wie wichtig jemandem das Hoffen selbst ist und wie Hoffnung ins Weltbild der Person passt. Für mich fühlt es sich entlastend an, das zu verstehen. Denn das heißt, ich habe damals keinen Fehler gemacht, indem ich die Hoffnung für meine Schwester aufgegeben habe.
Hoffnung ist ein zentrales menschliches Gefühl. Ist sie sogar der Sinn des Lebens?
Hoffnung selbst ist nicht der Sinn des Lebens, aber sie kann sich auf ihn richten. Es gibt ja so einen Satz des Tschechen Václav Havel, der in letzter Zeit viel zitiert wird: „Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht.“ Dem kann ich etwas abgewinnen. Denn das passt auch zu meiner Schwester. Sie war am Ende zufrieden mit ihrem Leben, genauso, wie es war. Sie hat es als sinnvoll gesehen. Das hat sie mir gesagt. Ich denke, wir werden so ein Gefühl von Sinn am Ende unseres Lebens nicht beeinflussen können. Wir können nur darauf hoffen.
Was bleibt von der gemeinsamen Zeit mit Ihrer Schwester?
Natürlich die wertvollen Erinnerungen. Und noch etwas: Meine Schwester hatte zuletzt nicht nur Hoffnung für sich, sondern auch für mich. Ich habe mir damals viele Sorgen um meine eigene Zukunft gemacht, wusste nicht, wie es weitergehen sollte mit meinem Physikstudium. Einmal, als ich ihr am Krankenbett davon erzählt habe, hat sie ganz ruhig und langsam zu mir gesagt: „Claudia, alles wird gut bei dir.“ Das habe ich noch immer im Ohr, nach all den Jahren. Mir wird gerade, während ich das erzähle, bewusst: Ihre Hoffnung für mich war ein letztes Geschenk.