Abass Baraou galt früh als großes Talent, doch immer wieder wurde er ausgebremst. Jetzt gewinnt er den EM-Gürtel und freut sich auf seinen ersten WM-Kampf. Der deutsche Boxsport bräuchte dringend neue Helden.
Die Box-Nachricht, die in der letzten Zeit am meisten für Aufsehen gesorgt hat? Mit Sicherheit die Ankündigung des ehemaligen Schwergewichts-Weltmeisters Mike Tyson, für einen Showkampf gegen Influencer Jake Paul in den Ring zurückkehren zu wollen. Das ungleiche Duell zwischen dem mittlerweile 57 Jahre alten Ex-Champion und dem 27 Jahre alten Profibox-Anfänger hat sportlich so gut wie keine Relevanz – doch es interessiert die Leute. Sogar so sehr, dass der Streaming-Gigant Netflix auf den Zug mitaufspringt und den Kampf am 20. Juli live und ohne Extragebühr überträgt. „Das willst du nicht verpassen“, schrieb Netflix in Social Media zu einem Werbetrailer dazu. Als Austragungsort haben sich die Veranstalter das AT&T Stadium in Dallas ausgesucht, das bei Footballspielen der Cowboys bis zu 100.000 Zuschauer fasst. Sie gehen also von einem Mega-Hype um den Showkampf aus – Tyson selbst ganz bestimmt auch. Ansonsten würde er sich nicht noch mal körperlich so quälen und die Box-Handschuhe überstreifen. „Der Vertrag ist unterschrieben“, bestätigte Tyson bei Instagram. Allein diese Nachricht wurde in einer Woche mehr als 1,8 Millionen Mal gelikt.
Großes Talent, aber kaum Bedeutung
Das von zahlreichen Menschen und Medien gehypte Comeback von Tyson, der in den 80ern und 90ern mit seinem gradlinigen und spektakulären Boxstil sowie seinen wilden Auftritten abseits des Rings ein Millionenpublikum vor die Bildschirme lockte, steht sinnbildlich für die Krise im Profiboxen. Die Leute hängen eher der Vergangenheit nach, als dass sie sich auf die Stars der Gegenwart einlassen. Ähnliches kann auch Abass Baraou berichten. Der 29-Jährige sicherte sich Anfang März in einem höchst spektakulären Titelkampf gegen Sam Eggington den EM-Gürtel und die WM-Chance – doch in Deutschland nahm davon außerhalb der Boxszene kaum jemand Notiz. Hierzulande ist der Boxsport nach dem Abdanken der Generation um Henry Maske, Sven Ottke, Graciano Rocchigiani und Axel Schulz nahezu in der Versenkung verschwunden. Schon vor einigen Jahren haben Experten geäußert, dass dieser Abass Baraou ein potenzieller „Retter“ sein könnte.
„Ich hatte selten einen so talentierten Boxer wie Abass unter meinen Fittichen“, sagte zum Beispiel Erfolgstrainer Uli Wegner über seinen Ex-Schützling: „Er bringt alle Voraussetzungen für eine große Karriere mit.“ Der im württembergischen Aalen geborene Sohn togolesischer Eltern ist dank seiner erfolgreichen Amateur-Laufbahn, in der er EM-Gold und WM-Bronze gewann, technisch bestens ausgebildet. Dazu machte sich bei ihm früh eine besondere Gabe bemerkbar, die gemeinhin als „Box-Intelligenz“ bezeichnet wird. „Er kann meine taktischen Vorgaben umsetzen“, lobte Wegner. „Auch das spricht für seinen klugen Kopf.“ Die größten deutschen Boxstars besaßen ähnliche Fähigkeiten. „In seiner Einstellung und Zielstrebigkeit erinnert er mich immer mehr an Henry Maske und Sven Ottke“, verglich Wegner.
Doch ein neuer Maske oder neuer Ottke wurde aus Abass Baraou nicht. Noch jedenfalls nicht. Die so hoffnungsvoll gestartete Karriere war in den vergangenen Jahren aus diversen Gründen ins Stocken geraten. Auch daran musste der Superweltergewichtler denken, als er an jenem 1. März am Ringrand der Arena im englischen Telford saß und von einem DAZN-Reporter als neuer Europameister interviewt wurde. „Es war ein langer Weg, ich kann nicht glauben, dass ich es so weit geschafft habe“, sagte Baraou mit stockender Stimme, im Kampf gegen die Tränen war er hoffnungslos unterlegen. „Ich musste viele Herausforderungen meistern …“, sagte er noch schluchzend – dann ging gar nichts mehr. Der Reporter hatte ein Einsehen und ließ den Deutschen mit seinen Emotionen alleine. Zuvor hatte Baraou in zwölf hart umkämpften Runden alles aus sich herausgeholt und sprichwörtlich sein Herz im Ring gelassen. Er wusste, dass er gegen den Lokalmatadoren Eggington dominieren musste, um zu gewinnen. Und beide Kämpfer schenkten sich nichts, die Fans kamen ohne Zweifel auf ihre Kosten. Nach einem ausgeglichenen Start übernahm der Deutsche ab Mitte des Kampfes die Kontrolle, überzeugte mit beweglichen Beinen, einer soliden Deckung und harten Schlägen. Er sorgte bei Eggington für einen Cut über dem Auge, was diesen zusätzlich beeinträchtigte. Am Ende sahen Baraou zwei Punktrichter vorne, einer wertete den Kampf Unentschieden. Er nahm freudestrahlend den EM-Gürtel der European Boxing Union entgegen, es ist der größte Erfolg seiner bisherigen Karriere. Und gleichzeitig die Eintrittskarte für etwas noch viel Größeres.
Unmittelbar vor dem Fight hatte der Boxverband WBA bekannt gegeben, dass es sich dabei um einen Eliminator handelt, also um einen WM-Ausscheidungskampf. Als Sieger hat Baraou, aktuell Weltranglisten-Siebter der WBA, damit das Recht auf einen Titelkampf erworben. Er müsste demnach als Pflichtherausforderer auf den Gewinner des WM-Fights am 8. März in Saudi-Arabien zwischen Israil Madrimov (Usbekistan) und Magomed Kurbanov (Russland) treffen. Superchampion der WBA ist Jermell Charlo aus den USA. Kann Baraou, der erst 16 Profikämpfe (15 Siege) vorzuweisen hat, in dieser Riege tatsächlich mithalten? Für Wegner steht das außer Frage. „Er wird Weltmeister. Da bin ich mir sicher“, sagte der Kult-Trainer, der sich gerade von einer Herzoperation erholt: „Ich wusste immer, dass Abass es ganz nach oben schaffen kann. Ich freue mich für ihn.“
„Staaten sind der nächste Schritt“
Auch Kalle Sauerland hat immer an das Potenzial des Boxers geglaubt. Baraou sei „der kommende Mann im Superweltergewicht“, hatte der Promoter schon im Jahr 2019 prophezeit, als der Sauerland-Boxstall noch nicht von der Wasserman Media Group des US-Unternehmers und Sportagenten Casey Wasserman übernommen worden war. „Er ist das Beste, was Deutschland in den letzten 20 Jahren hervorgebracht hat. Er wird unser Muhammad Ali.“ Fünf Jahre später ist klar, dass er seinem Schützling mit solchen Vergleichen keinen Gefallen getan hat. Der gebürtige Aalener tat sich mit der Erwartungshaltung schwer, seine knappe Punktniederlage im August 2020 durch eine Split Decision gegen Jack Culcay-Keth war ein herber Rückschlag im Karriereplan. Hinzu kamen Verletzungen, die ihn zurückwarfen, und geplatzte Kämpfe, die ihn nach vorne hätten bringen können. Der mit so viel Talent gesegnete Boxer sah sich selbst in einer Sackgasse angekommen – und er wagte einen Neuanfang.
Er trennte sich zwischenzeitlich von Wasserman-Boxing und ging seine eigenen Wege. Er zog in die USA, um in Miami unter dem kubanischen Trainer Jorge Rubio neue Impulse zu erhalten und seiner Karriere neuen Schwung zu verleihen. „Die Staaten sind für mich der nächste Schritt“, begründete Baraou damals seine Entscheidung: „Hier ist das Boxen größer und es gefällt mir gut. Alles läuft sehr gut.“ Vor allem die Arbeit mit Rubio, der als ausgewiesener Experte seines Faches gilt. „Es gibt noch ein paar technische Dinge, an denen wir arbeiten müssen“, sagte der Kubaner: „Das würde ihm sehr helfen, auch um bald Weltmeister werden zu können.“ Der Plan ging auf. Rubio erweiterte Baraous Boxstil, der erste Kampf in den USA war ein Erfolg – und Wasserman war plötzlich wieder sehr interessiert an einer Zusammenarbeit. Inzwischen sind beide Parteien wieder vertraglich gebunden – und Baraou hat klare Vorstellungen davon: „Ich will die ganz großen Fights – und niemand kann mir diese Kämpfe besser liefern als Wasserman Boxing!“
Der gewonnene EM-Titelkampf soll nur der Anfang gewesen sein. Mit dem Boxstall und seinem Trainer Rubio an der Seite sei er „sehr zuversichtlich, was meine Zukunft im Ring betrifft“, sagte Baraou: „Mein Team und ich haben einen exzellenten Plan, um meine Träume zu verwirklichen.“ Und mit dem EM-Sieg habe er den Weltmeistern in seiner Gewichtsklasse „eine klare Message geschickt“. Laut Sauerland müsse sich Baraou vor niemandem verstecken, er sei „einer der besten Superweltergewichtler der Welt“, auf den ein „historisches 2024“ warte. „Abass wird alles dafür tun, Deutschlands nächster Box-Weltmeister zu werden. Abass ist der schlafende Riese im Superweltergewicht – seine beste Zeit als Boxer kommt jetzt!“
Seine schwierigste Zeit liegt bereits hinter Abass Baraou. Seine Kindheit in Oberhausen als Junge mit afrikanischen Wurzeln war hart, nur wenige Türen standen ihm damals offen. Im Jugendcenter traf er dann auf einen Coach, der ihn zum Boxtraining einlud. Baraou schaute vorbei – und sein Leben veränderte sich. „Ab da konnte ich nicht mehr vorbei am Boxen“ erinnerte Baraou. Der Sport gab ihm eine Perspektive. „An dem Tag, an dem ich die Halle betrat, habe ich die anderen Jungs gesehen, wie sie richtig Gas gegeben und sich gequält haben““, erzählte er. Er habe sich dann „selbst gefragt: Ey, was machst du denn eigentlich? Du machst nur Quatsch! Das wäre doch etwas für dich!“ Baraou trainierte fortan hart, und er schaute sich die großen Kämpfe von Mike Tyson und Muhammad Ali an – und plötzlich hatte er ein Ziel im Leben. „Was die geschafft haben, das ist auch irgendwie für mich möglich, egal welche Umstände ich habe“, sagte Baraou. Er träumt von einem großen Kampf im Mekka des Boxsports: „Irgendwann mal im Madison Square Garden zu boxen, darauf arbeite ich hin.“
Dann könnte er auch die Hoffnung in Box-Deutschland auf einen neuen Star, der wie einst Henry Maske oder Axel Schulz Millionen Fans begeistert, vielleicht erfüllen. „Das schmeichelt mir, dass ich die Rettung sein soll“, sagte er zwar, „aber ich versuche das auszublenden. Es gibt mir keine Sicherheit, ich gewinne dadurch keinen Kampf.“