Die Europawahl Anfang Juni ist anders als alle früheren, „weil in Europa Krieg herrscht“, sagt David Lindemann, Chef der Staatskanzlei und Bevollmächtigter für Europafragen im Saarland. Nun steht die EU vor grundlegenden Entscheidungen – und „einer Art Schicksalswahl“.
Herr Lindemann, vor Wahlen wird in der Regel auf die Bedeutung der Wahl hingewiesen. Die bevorstehenden Europawahlen stehen allerdings tatsächlich unter besonderen Bedingungen. Worauf richtet sich Ihr Augenmerk besonders?
Für mich stehen die jungen Leute im Zentrum dieser Wahl. Erstmals dürfen Jugendliche ab 16 Jahre ihre Stimme abgeben. Ich hoffe, dass gerade jüngere Menschen, die sich um ihre Zukunft Gedanken machen, proeuropäisch eingestellt sind und deshalb auch die demokratischen Kräfte unterstützen werden. Das versuche ich auch den jungen Menschen in meinem Umfeld mitzugeben. Ja, es eine Art Schicksalswahl für die Europäische Union. In vielen Mitgliedsstaaten sind nationalistische Kräfte auf dem Vormarsch, es herrschen internationale Krisen. Deshalb ist es wichtig, die Bedeutung der EU für Frieden und Sicherheit in den Vordergrund zu stellen – und die Menschen zu motivieren, sich mit ihrer Stimme dafür einzusetzen.
Eine deutliche Mehrheit der Deutschen hält Europa für wichtig, gleichzeitig ist die Begeisterung für die EU einigermaßen überschaubar. Wie erklärt sich dieser Widerspruch?
Ich glaube, dass man dafür eine gewisse begriffliche Unschärfe verantwortlich machen kann. Da ist einmal die Unterscheidung zwischen Europa und der EU als institutionelles Gefüge. Dass in diesem institutionellen Gefüge einiges zu überarbeiten ist, ist weitgehend unstrittig. Was über die EU kommuniziert wird, sind meistens die Dinge, die nicht gut laufen. Missstände zu kritisieren ist gutes Recht der Europäer. Gleichzeitig an die Idee der europäischen Einigung zu glauben, ist ebenfalls ihr gutes Recht, aus meiner Sicht sogar in gewisser Weise eine Pflicht. Wir müssen den Mehrwert im Auge haben, den der Einigungsprozess mit sich bringt. Da lassen sich viele Verdienste der EU aufzählen: Freizügigkeit, Abschaffung der Roaminggebühren, Erasmus für Studierende und viele mehr. Kritik an der Institution und an der als zu bürokratisch empfundenen Arbeitsweise muss weiter erlaubt bleiben und macht einen deshalb nicht gleich zum Antieuropäer. Ich habe selbst sieben Jahre in Brüssel gearbeitet und mich dabei kritisch mit den Institutionen auseinandergesetzt, aber ich bin glühender Europäer geblieben.
Es gibt den Eindruck, in der deutschen Politik wird alles, was bei Bürgern nicht gut ankommt, auf Brüssel geschoben – obwohl Deutschland bei vielen Beschlüssen mitgemacht hat. Welche Rolle spielt bei der Bewertung der europäischen Politik die Berliner Politik?
Es ist besser geworden. Ich habe zuletzt kaum wahrgenommen, dass man in Berlin auf die „böse EU“ schimpft, erst recht nicht, wenn man Dingen zugestimmt hat. Wichtig ist, kommunikativ zu begleiten, was in Brüssel geschieht. Da gibt es aus meiner Sicht ein riesiges Defizit. Man bekommt Entscheidungen mit, beispielsweise das Verbrenner-Aus, aber vom demokratischen Vorlauf dieser Entscheidung hat man wenig bis nichts gehört. In Deutschland ist das anders. Beim Cannabis-Gesetz etwa wurde ständig berichtet, vom Referentenentwurf bis zur Entscheidung. Entscheidungen aus Brüssel erfahren Menschen eher Knall auf Fall, ohne dass zuvor darüber berichtet wurde. Die Zahl der nationalen Korrespondenten in Brüssel schrumpft, auch aus Kostengründen. Dazu kommt, dass es keinen europäischen Blick auf die Dinge gibt. Es gibt den nationalen Blick, und dann haben Sie Nord gegen Süd, Ost gegen West, Industrie gegen Mittelstand und was auch immer. Das wird aber nicht europäisch eingeordnet.
Liegt es nicht aber auch daran, dass die Abläufe auf EU-Ebenen mit 27 Mitgliedern sehr komplex sind?
Brüssel ist kompliziert, die Abläufe sind kompliziert. Man muss Wege finden, mit 27 Mitgliedsländern zu Entscheidungen zu kommen. Das ist auch oft für die Korrespondenten kaum nachzuvollziehen. Da wird auf das Ergebnis geblickt und dann berichtet, dass es ein undurchsichtiger Prozess war. Das macht es nicht leichter.
Die Landesregierung hat ihre Europapolitik mit Amtsübernahme neu aufgestellt. Was hat das gebracht?
Europapolitik ist bei uns auf einem guten Weg. Es war ein richtiger Schritt, dass wir die Europaabteilung in die Staatskanzlei geholt haben und Europa jetzt Chefinnensache ist. Die Staatskanzlei ist die koordinierende Stelle der Landesregierung – und Europapolitik längst innere Angelegenheit, da sie fast alle Politikbereiche berührt. Das hat sehr geholfen, Europapolitik in alle Fachabteilungen zu bringen. Aufgrund unserer Geschichte und unserer Lage ist es für uns leicht, den Europagedanken zu leben. Ich sage: Als Grenzland fühlt man sich manchmal wie am Tellerrand der Bundesreplik, aber deshalb fällt es uns auch leichter, über den Tellerrand hinauszuschauen. Uns Saarländern ist auch klar, dass wir stark von Europa profitieren. Grenzüberschreitender Arbeitsmarkt, grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung – sie wären ohne Europa gar nicht möglich.
Was hat der Aachener Vertrag gebracht? Der hat den Grenzregionen ja neue Möglichkeiten eingeräumt.
Das hat sehr geholfen. Der Verein Vita futura für den europäischen Kulturpark Bliesbrück-Reinheim ist ein gutes Beispiel. Der Park hatte in seiner langen Geschichte oft das Problem der Autorisierung, also: Wer unterschreibt was nach welchem Recht? Das ist jetzt in einem grenzüberschreitenden Verein organisiert. Das erleichtert vieles. Wir können hier gut Erfahrungen sammeln für weitere grenzüberschreitende Projekte.
Derzeit wird an einer Weiterentwicklung der Frankreichstrategie gearbeitet. Wo soll die Reise hingehen?
Unser Ziel ist, ein Stück weit die Perspektive zu ändern und die Strategie zu erweitern. Mehrsprachigkeit ist nach wie vor eines der wichtigsten Ziele. Aber das müssen wir mit einer neuen Motivation angehen: Französisch zu lernen, nur weil wir Nachbarn von Frankreich sind – wo steckt da der Nutzen? Andersrum wird ein Schuh draus: Als Nachbarland von Frankreich haben wir viele Chancen. Und wenn wir die für unser Land nutzen wollen, hilft es, wenn wir Französisch können. Und ich meine nicht den Einkauf auf der anderen Seite der Grenze. Es verbessert beispielsweise die Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Bei uns sind viele Firmen angesiedelt, die französischsprachige Expertise brauchen. Dieser Zwischenschritt hat in der Frankreichstrategie bislang etwas gefehlt. Im Ansiedlungsgeschäft sagen Unternehmen oft: Wir wollen im Herzen Europas sein und auch den französischen Markt bedienen. Von dort kommt auch Lob für die Frankreichstrategie. Sie sehen, dass wir Menschen mit französischer Expertise haben, dass hier bei uns viele Grenzpendler leben und arbeiten, die sich auskennen. Dieses große Alleinstellungsmerkmal weiter voranzutreiben, ist schon ein Stück weit gelungen. Aus anderen Grenzregionen werden wir gefragt, wie wir das hinkriegen.
Wir würden Sie insgesamt den aktuellen Zustand Europas beschreiben?
Schwierig. Das heißt es aber vor jeder Europawahl, ebenso, dass es um eine Schicksalswahl geht. Die jetzige ist anders, weil in Europa Krieg herrscht. Und weil grundlegende Entscheidungen vor uns liegen, etwa im Hinblick auf die EU-Erweiterung oder den Haushalt. Diese Wahl ist aber auch die Chance, grundlegend darüber nachzudenken, was wir von der EU erwarten und welche Konsequenzen das für die Institutionen haben muss, etwa beim Einstimmigkeitsprinzip. Das muss man offen fragen dürfen, gerade weil man eben überzeugter Europäer ist. Denn nur eine EU, die funktioniert, ist eine EU für die Bürgerinnen und Bürger – und eine EU mit Zukunft.