Heike Spreter-Krick (53) befand sich mitten in den Schweizer Bergen, als sie durch einen medizinischen Notfall in Lebensgefahr geriet. Nachdem sie als Teenager den Krebs besiegt hatte, kämpfte sie nun erneut um ihr Leben – dieses Mal gegen die Sepsis.
Frau Spreter-Krick, Sie haben eine Sepsis erlitten. Wann war das und was ist genau passiert?
Die Sepsis, die ich erlebt habe, ereignete sich im Jahr 2021 in der Abgeschiedenheit der Schweizer Berge auf 1.800 Höhenmetern. Damals wollte ich für neun Wochen auf einer Schweizer Alm arbeiten, wo ich Kühe melken und Käse herstellen konnte. Es war eine Zeit der Ruhe und Zurückgezogenheit.
Nach etwa vier Wochen auf der Alp tauchten beim Frühstück plötzlich starke Schluckbeschwerden auf, die es mir unmöglich machten zu essen oder zu trinken. Diese Schmerzen waren so intensiv, dass ich meinen normalen Schluckreflex am liebsten abgestellt hätte. Es schien anfangs wie eine harmlose Erkältung, also griff ich auf meine Notfall-Kiste mit Medikamenten zurück. Doch die Schluckbeschwerden veränderten sich kein Stück. Im Verlauf von nur knapp drei Tagen entwickelte ich Schüttelfrost, Schmerzen im linken Oberarm und konnte vor lauter Schmerzen nicht mehr auf meinem linken Bein stehen. Als der Bauer mich zum Arzt bringen wollte, war ich bereits nicht mehr ansprechbar und zeigte deutliche Wesensveränderungen. Infolgedessen wurde die Schweizerische Rettungsflugwacht Rega kontaktiert, die mich ins Luzerner Kantonsspital flog.
Wie war die Zeit Ihrer Behandlung im Krankenhaus?
Ich konnte mich weder an die Rega erinnern, noch an die fünf Tage auf der Intensivstation. Von dieser Zeit gibt es nur vereinzelte Erinnerungsfetzen. Ich erinnere mich an Schläuche, die aus meinen Händen und Hals ragten, meine Füße in Gipsschienen, und auch Schläuche, die aus meinen Knien kamen. Die Erinnerung an eine beidseitige Lungenpunktion bleibt besonders schmerzhaft in meinem Gedächtnis. Ich konnte vereinzelte Gesichter sehen, die ich nicht zuordnen konnte. Das einzige, was ich zu diesem Zeitpunkt registriert habe war, dass mein Mann nicht von meiner Seite wich.
Erst als ich auf die normale kardiologische Station verlegt werde, realisiere ich, dass etwas Schwerwiegendes mit mir geschehen war. Allerdings war mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar gewesen, was genau passiert ist. Alles, was ich wahrgenommen habe, waren meine Füße in den Gipsschienen und die schwarzen Flecken, die beim Verbandswechsel sichtbar wurden. Im Laufe der Zeit habe ich erfahren, dass es sich um Nekrosen handelte und dass meine Unterschenkel, Füße und Zehen teilweise absterben könnten, wenn die vierwöchige Einnahme von Antibiotika und eine Operation nicht helfen würden. Glücklicherweise blieben meine Unterschenkel und alles, was dazugehört von einer möglichen Amputation verschont.
Was war geschehen?
Ich hatte mich auf der Alp mit Streptokokken infiziert, die meine Schluckbeschwerden verursachten. Aus irgendeinem Grund reagierte mein Immunsystem über und begann, meinen eigenen Körper anzugreifen. Dadurch gelangten die Streptokokken in meinen Blutkreislauf. Es folgten zwei Herzklappenentzündungen, mehrere Schlaganfälle und durch die Embolien Nekrosen an meinen Händen, Oberarmen und an der Hüfte, aber hauptsächlich an den Füßen. Ich erinnere mich nicht an die Untersuchungen und Operationen. Es blieben Bruchstücke in meinem Gedächtnis.
Gute fünf Wochen musste ich das Bett hüten, um zu verhindern, dass Entzündungsflüssigkeit von den Nekrosen an den Füßen zurück zum Herzen gelangte und damit den Infektionsprozess erneut startete. Das war eine Herausforderung für mich. Glücklicherweise habe ich kein Wundliegen davongetragen. Allerdings wurden durch die Gipsschienen meine Füße unbeweglich, abgesehen vom Muskelabbau aufgrund der Bewegungsunfähigkeit. Ich litt häufig unter Sehstörungen und hatte aufgrund des langen Liegens Schmerzen im Schulterblatt.
Ich erkannte, dass Sepsis eine Blutvergiftung ist, ein absoluter Notfall, bei dem jede Minute zählt. Der vermeintliche rote Strich am Arm, der bei einer Sepsis auftreten soll, ist ein absoluter Irrglaube, den auch ich im Kopf hatte.
Nach etwa sechs Wochen der Akutphase wurde ich von Luzern in ein Krankenhaus in München transportiert. Dort verbrachte ich weitere zwei Wochen, gefolgt von einer siebeneinhalbwöchigen Rehabilitation. Anschließend setzte ich meine Genesung mit ambulanter Rehabilitation im Rahmen des Irena-Programms fort, durchlief zweimal eine Behandlung in einer Schmerzklinik und unterzog mich noch zwei weiteren Operationen an den Füßen.
Sie hatten Glück, dass Sie am Leben geblieben sind. Stehen noch weitere Behandlungen an?
Ich bin zutiefst dankbar, dass ich ein zweites Mal dem Tod von der Schippe gesprungen bin und jeden Tag die Möglichkeit habe, auf eigenen Füßen zu stehen. Meine Erfahrungen haben mich gelehrt, die kleinen Fortschritte des Lebens zu sehen und zu schätzen, egal wie schwer es mir teilweise fällt.
Derzeit nehme ich keine Medikamente mehr ein. Allerdings muss ich nun durch die Herzklappenentzündung (Endokarditis), vor jedem kleinen und größeren Eingriff, selbst einer simplen medizinischen Zahnreinigung, eine Antibiotikaprophylaxe einnehmen, um das Risiko einer erneuten Sepsis zu minimieren. Bei größeren Operationen muss ich die Antibiotikaprophylaxe auch nach dem Eingriff weiterführen.
Darüber hinaus stehe ich weiterhin unter ständiger Behandlung, einschließlich solcher Physiotherapien wie der Manuellen Therapie, Krankengymnastik, Elektrotherapie. Zudem stehen Krankengymnastik am Gerät, Ausdauersport und Psychotherapie auf dem Plan.
Aufgrund der vielen Nekrosen und der Fuß-erhaltenden Operationen habe ich jedoch immer noch Herausforderungen mit meinen Füßen. Nach den Gipsschienen musste ich lernen, meine Füße wieder zu bewegen. Alles, was jeder ohne großes Nachdenken mit seinen Füßen macht, ist bei mir eine Kopfsache geworden. Einfach aufstehen und loslaufen ging gar nicht. Das war und ist weiterhin eine Herausforderung. Die chronischen Schmerzen auf der linken Seite, das Taubheitsgefühl in den Zehen auf der rechten Seite und die Bewegungseinschränkungen auf beiden Seiten machen es schwierig, die notwendige Beinkraft für mein Kardiotraining aufzubauen. Es ist eine Art Kreislauf, in dem die Frage aufkommt, was baue ich zuerst auf: die Füße oder die Fitness?
Wie sieht es beruflich und privat aus? Was verändert so ein Schicksal?
Für jemanden, der mich nicht kennt, wäre äußerlich nichts von meinem Schicksal zu erkennen. Selbst in Gesprächen würden vielleicht einige fehlende Wörter oder Gedächtnislücken nicht sofort auffallen. Wenn ich langsam und konzentriert gehe, bemerkt niemand, dass ich unsicher auf den Füßen bin und bei jedem Schritt Schmerzen empfinde. Das hat natürlich seine Vorzüge, denn äußerlich erinnert mich nichts ständig an meine Sepsis-Erkrankung, wenn ich in den Spiegel schaue.
Andererseits sind auch genau das meine Herausforderungen. Gerade weil mein Zustand nicht offensichtlich ist, habe ich manchmal das Gefühl, mich zu erklären oder rechtfertigen zu müssen.
Die Sepsis hat mein privates und berufliches Leben extrem verändert. Nicht nur durch die körperlichen Einschränkungen, sondern auch durch psychische Belastungen. Früher machte ich mir keine Gedanken darüber, Türgriffe anzufassen, in vollen Zügen zu reisen oder kleine Kinder auf dem Arm zu halten. Viren, Bakterien, Streptokokken und so weiter waren für mich damals keine Bedrohung. Heute sieht das anders aus. Die Angst vor einer erneuten Erkrankung hat dazu geführt, dass ich mein Leben einschränke. Situationen mit vielen Menschen oder kleinen Kindern meide ich, genauso wie das Schwimmen im Hallenbad oder im See. Alles, was früher Spaß machte oder worüber ich mir keine Gedanken machte, ist nun eine Beeinflussung. Ich trage immer noch eine FFP2-Maske in öffentlichen Verkehrsmitteln und beim Arztbesuch, gehe ungern in Restaurants und fürchte mich vor Ansteckungen, wenn ich meine Freunde umarme. Zusätzlich dazu werde ich schnell müde und erschöpft, kann mich nicht so lange konzentrieren und bin insgesamt weniger belastbar.
Derzeit bin ich dankbar, dass ich eine befristete volle Erwerbsminderungsrente erhalte und meine Berufsunfähigkeitsversicherung ausbezahlt wird. Doch der Gedanke, was nach Ablauf dieser Leistungen geschehen wird, belastet mich bereits jetzt. Ich bin mir bewusst, dass mein Leben sich verändert hat. Ich möchte wieder aktiver an der Gesellschaft teilnehmen und mein Leben in vollen Zügen genießen. Meine Aufgabe ist es einen Weg zu finden, wie ich das umsetzen kann.
Einen für mich bedeutenden Schritt habe ich gemacht, indem ich zurzeit ein Buch schreibe („Überlebenskampf Sepsis“), das voraussichtlich im Juni 2024 veröffentlicht wird. Im ersten Jahr nach meiner Sepsis-Erkrankung funktionierte ich nur noch. Das Aufschreiben meiner persönlichen Erfahrungen mit der Sepsis war daher eine Möglichkeit, meine fehlenden Erinnerungen zu dokumentieren und meine Situation besser zu verstehen. Eine Sepsis-Erkrankung kann so wenig, aber auch so viel anrichten, je nachdem, wie schnell sie erkannt und behandelt wird. Ich glaube, einer meiner großen Vorteile war, dass ich unter anderem einfach nicht ansprechbar und wesensverändert war.
Was raten Sie Menschen, die das gleiche Schicksal erleben?
Es ist äußerst schwierig, eine universelle Empfehlung zu geben, da jeder Mensch, der von Sepsis betroffen ist, unterschiedliche Symptome und Auswirkungen erleben kann. Eine Sepsis beginnt zwar mit einer Infektion, aber die ersten Anzeichen können je nach Infektion variieren. Die Entwicklung und Auswirkungen einer Sepsis sind ebenso vielfältig wie die anfänglichen Symptome. Es gibt keine standardisierte Vorgehensweise oder Prognose, die für alle Sepsis-Patienten gleichermaßen gilt. Für Menschen, die ähnliche Schicksalsschläge erleben, empfehle ich zunächst, sich nach der Akutphase Zeit zu nehmen, um die Situation zu verarbeiten und sich selbst zu akzeptieren. Dieser erste Schritt des Annehmens ist oft eine enorme Herausforderung. Es ist wichtig, geduldig mit sich selbst zu sein und sich bewusst zu machen, dass es völlig normal ist, in solch einer Situation Gefühle von Hilflosigkeit, Angst und Verzweiflung zu empfinden.
Nachdem man den ersten Schritt gemacht hat, ist es hilfreich, Unterstützung zu suchen – sei es durch Familie, Freunde, Selbsthilfegruppen oder professionelle Hilfe wie Therapeuten oder Organisationen wie die Sepsis-Stiftung. Es ist wichtig, nicht allein mit den Herausforderungen umgehen zu müssen und sich offen über die eigenen Gefühle und Ängste austauschen zu können.
Es ist wichtig, sich auf die kleinen Fortschritte und Erfolge zu konzentrieren und sich nicht von Rückschlägen entmutigen zu lassen. Jeder Schritt in Richtung Genesung und Anpassung an die neue Lebenssituation ist ein bedeutender Fortschritt. Zudem hat es mir geholfen, mir neue Ziele zu setzen und neue Interessen zu entdecken, die mit den neuen Umständen vereinbar sind. Flexibilität und Offenheit gegenüber Veränderungen sind entscheidend, um trotz der Herausforderungen ein erfülltes Leben zu führen. Es ist nicht immer einfach, über seinen Schatten zu springen, aber jeder Sprung ist ein Erfolg.
Ich empfehle auch den Angehörigen von Sepsis-Patienten, sich Unterstützung zu suchen und nicht allein mit der Situation zu kämpfen. Die Herausforderungen für Angehörige dürfen nicht unterschätzt werden. Es kann eine enorme Belastung sein, einen geliebten Menschen durch eine Sepsis zu begleiten, zu unterstützen oder auch zu verlieren. Es ist wichtig, dass Angehörige ebenfalls einen Raum für den Austausch ihrer Gefühle und Ängste finden. Gemeinsam können sie eine wichtige Stütze für den Patienten sein und sich gegenseitig durch diese schwierige Zeit tragen.
Denken Sie, über Sepsis wird man hierzulande ausreichend aufgeklärt?
Die Aufklärung über Sepsis ist ein äußerst wichtiges Thema, und meiner Meinung nach wird viel zu wenig dafür getan. Ich persönlich erfuhr erst vor etwa zehn bis 14 Jahren durch Zufall von der Existenz eines Asplenie-Passes, nachdem mir 1986 im Zuge meiner Krebserkrankung die Milz entfernt wurde. Ich habe diesen Pass sofort beantragt, ausgefüllt und in meinen Geldbeutel gesteckt. Erst nach der Sepsis Erkrankung habe ich mich intensiver damit beschäftigt und erkannt, dass ich als Risikopatientin für Sepsis-Erkrankungen gelte. Obwohl ich die entsprechenden Impfungen erhalten hatte, war mir nie bewusst gewesen, was eine Sepsis genau ist. Da ich mich nach meiner Krebserkrankung immer gut gefühlt hatte, habe ich diesem Thema keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Medizinische Fachbegriffe sind mir oft fremd, und ich hatte den Gedanken, dass nichts schlimmer sein könnte als Krebs.
Doch Sepsis!
Die meisten meiner Freunde und Bekannten wussten nichts mit dem Begriff „Sepsis“ anzufangen. Wenn überhaupt, assoziierten sie eine Blutvergiftung mit dem Klischee, dass man sie nur bekommt, wenn man sich an einem rostigen Nagel verletzt. Interessanterweise brachten viele den Begriff „Sepsis“ sofort mit Krankenhauskeimen in Verbindung. Dass Sepsis auch durch eine einfache Infektion oder, wie bei mir anfangs vermutet, durch einen Insektenstich ausgelöst werden kann, war den wenigsten bewusst. Allerdings berichten mir meine Freunde nun, dass sie seit meiner Erkrankung vermehrt von Sepsis-Fällen in ihrem Umfeld hören und davon erfahren. Dies zeigt mir, dass die Sensibilisierung für das Thema langsam, aber sicher zunimmt. Dennoch ist noch viel Arbeit nötig, um die breite Öffentlichkeit über die Gefahren und Symptome von Sepsis aufzuklären.
Sie sind Mitglied in der Sepsis-Stiftung und haben sich sofort für dieses Interview bereit erklärt. Aus welchen Beweggründen?
Die meisten Menschen wissen nicht, dass Sepsis in Deutschland die dritthöchste Sterberate aufweist, und auch die Dringlichkeit einer Sepsis als absoluter Notfall ist vielen nicht bewusst. Obwohl es bereits großartige Informationsplattformen über Sepsis gibt und engagierte Menschen daran arbeiten, das Bewusstsein für diese Krankheit zu schärfen, ist es dennoch eine gemeinsame Verantwortung, Sepsis ins Rampenlicht zu rücken und sicherzustellen, dass sie breiter wahrgenommen wird. Nur durch die unermüdliche Arbeit aller kann vielen Menschen (hoffentlich)so das Schlimmste erspart bleiben.
Ich bin kein Mitglied der Sepsis-Stiftung, aber ich engagiere mich als Geld-Spenderin und Sepsis-Botschafterin für die Sepsis-Stiftung. Ich habe mich sofort für dieses Interview zur Verfügung gestellt, weil ich fest daran glaube, dass die Aufklärung über Sepsis von entscheidender Bedeutung ist. Indem ich meine persönlichen Erfahrungen teile und darüber spreche, wie Sepsis mein Leben beeinflusst hat, hoffe ich, das Bewusstsein für diese Krankheit zu erhöhen und andere dazu zu ermutigen, sich ebenfalls zu engagieren. Es ist wichtig, dass wir alle zusammenarbeiten, um Sepsis als dringendes Gesundheitsproblem ins Bewusstsein zu rücken und Maßnahmen zur Prävention und rechtzeitigen Behandlung zu fördern.
Was wünschen Sie sich für Ihre Zukunft?
Für meine Zukunft wünsche ich mir vor allem, dass meine Genesung weiter voranschreitet und weder ich noch meine Angehörigen oder Freunde jemals wieder mit einer Sepsis konfrontiert werden. Ich arbeite daran, meinen Gemütszustand so zu stärken, dass ich Viren, Bakterien und andere Krankheitserreger wieder als normale Bestandteile des Lebens ansehen kann, ohne ständig von der Angst vor einer erneuten Erkrankung beherrscht zu werden. Mein Ziel ist es, mein Leben trotz meiner Einschränkungen in vollen Zügen zu genießen.
Ein weiterer Wunsch von mir ist, dass meine (nicht sichtbaren) körperlichen und mentalen Einschränkungen ernst genommen werden. Es ist mir wichtig, dass meine Sepsis-Folgen und -Spätfolgen anerkannt werden und ich die Unterstützung und Zeit erhalte, die ich benötige, um mich wieder in das „normale“ Leben zu integrieren. Es wäre sehr hilfreich, wenn die Gesellschaft insgesamt ein größeres Verständnis für die Herausforderungen aufbringen würden, denen Sepsis-Überlebende wie ich gegenüberstehen.