Während das Bundestagswahlergebnis bei der Linken noch große Freude auslöste, sorgte der Koalitionsvertrag von Union und SPD eher für das Gegenteil. Linken-Co-Spitzenkandidatin Heidi Reichinnek fehlt bei dem „Dokument der Ignoranz“ der Fokus auf die Menschen.
Frau Reichinnek, mit 8,8 Prozent ist die Linke in den Bundestag eingezogen. Die Stimmung bei der Wahlparty konnte sich durchaus sehen lassen. Welche Gefühle löst das noch heute bei Ihnen aus?
Begeisterung, Dankbarkeit. Ich glaube, das ist so das Zentrale. Ich bin so stolz darauf, was meine Partei und meine mittlerweile über 100.000 Genossinnen und Genossen in diesem Wahlkampf geleistet haben, und so dankbar darüber, wie viele Menschen uns ihr Vertrauen geschenkt haben. Wie viele gesagt haben: Ja, die Linke ist die Partei, die sich wirklich für soziale Gerechtigkeit, die sich wirklich für mich einsetzt. Die dafür sorgt, dass mein Alltag besser wird.

Insbesondere viele junge Wähler haben der Linken ihre Stimme gegeben – einige auch ausdrücklich Ihretwegen. Erfüllt Sie das irgendwo mit Stolz?
Ich freue mich natürlich unfassbar, vor allem, weil ich ja auch lange in der Jugendhilfe gearbeitet habe, dass ich gerade junge Menschen, Frauen und queere Personen für Politik begeistern konnte. Das sind alles Menschen, die viel zu wenig repräsentiert werden und sich leider noch viel zu selten politisch einbringen. Aber ich sage auch ganz klar: Es geht um die Partei und die Politik, die sie macht, und nicht um mich als Person. Das sage ich auch immer, wenn ich unterwegs bin, wie zuletzt in Mainz oder Saarbrücken. Wir müssen gemeinsam etwas verändern. Das hängt nicht an einer Person, sondern daran, dass wir das zusammen hinbekommen. Und je mehr gemeinsam für Themen wie bezahlbare Lebensmittelpreise, Investitionen in den Klimaschutz oder eine Verbesserung der Gesundheitsversorgung eintreten, desto besser. Darum geht es für mich.
Sprechen wir über den Koalitionsvertrag, den Union und SPD nun vorgelegt haben. Ihre Parteichefin Ines Schwerdtner sprach von einem „Dokument der Ignoranz“. Wie sehen Sie das?
Da hat unsere Parteivorsitzende Recht, es ist eine Koalition der Ignoranz. Das Problem ist einfach, dass dieser Koalitionsvertrag die zentralen sozialen Fragen unserer Zeit nicht adressiert. Dass da einfach eine riesengroße Lücke klafft zu dem, was die Menschen umtreibt. Zu dem, was wir in den Gesprächen im Wahlkampf erfahren haben. Es gibt keine Lösungen für bezahlbares Wohnen. Ein Thema, bei dem wir ganz klar sagen: Wir brauchen einen Mietendeckel. Damit die Mieten eingefroren und gesenkt werden können. Es reicht nicht, dass diese zahnlose Mietpreisbremse nur mit ein paar kosmetischen Veränderungen nun vier statt zwei Jahre so weiterlaufen soll. Die hat doch nichts verbessert, immer mehr Menschen können sich ihre Miete nicht leisten, das kann so nicht weitergehen. Außerdem brauchen wir Investitionen in den sozialen Wohnungsbau. Das Gleiche gilt beim Thema bezahlbares Leben. Nicht nur, dass es keine Streichung der Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel gibt, wie wir sie gefordert haben, sondern hier geht es auch um den Mindestlohn. Die SPD hat einen Mindestlohn von 15 Euro versprochen. Jetzt haben wir im Koalitionsvertrag eine verklausulierte Formulierung und der zukünftige Kanzler macht in einem Interview sehr deutlich, dass er nicht kommen soll. Das Thema wird in die Mindestlohnkommission verschoben und dort haben beim letzten Mal auch die Arbeitgebervertreter die Gewerkschaften niedergestimmt. Das wird genauso wieder passieren, wenn es keinen politischen Impuls gibt. Auch die Entlastung von kleinen und mittleren Einkommen kommt erst mal nicht. Also Überraschung: Friedrich Merz macht Klientelpolitik. Das wussten wir auch vorher, aber er hat es jetzt noch mal sehr deutlich gemacht. Da ist nichts drin zum Thema Umverteilung, dazu ist gar keine Bereitschaft da. Und wenn diese Bereitschaft fehlt, das Geld bei den pervers Superreichen zu holen, dann kann auch nicht in die zentralen Bereiche investiert werden.
Wenn die neue Regierung die Schuldenbremse nur für Aufrüstung lockert und damit einen Blankoscheck zur Militarisierung ausstellt, kann sie nicht dafür sorgen, dass keine weiteren Krankenhäuser schließen, dass nicht noch mehr Unterricht ausfällt oder eine weitere Brücke zusammenbricht. Im Gegenteil, überall hören wir von Konsolidierung und Einsparung, auf wessen Rücken wird das „whatever it takes“ also ausgetragen?
Ein Herzensthema für mich ist zudem die Situation in den Kitas. Auch das kommt im Koalitionsvertrag viel zu kurz. Es gibt wieder ein neues Gesetz, das traditionell alle zwei Jahre einen neuen Namen bekommt, aber nichts verändert. Ich habe das Gefühl, dass man mit ein paar netten Worten nur wieder versucht, dieses Thema auf die Länder und Kommunen abzuschieben, und diese am Ende ohne wirkliche finanzielle Unterstützung alleine lässt. Wir als Linke wollen daher auch einen Kita-Gipfel einberufen mit Bund, Ländern, Kommunen, Gewerkschaften und Elternverbänden. Das ist etwas, was ich eigentlich von einem Kanzler erwarten würde. Aber wenn es für die Regierung keine Priorität hat, dann machen wir es eben. Insofern: Ich habe von diesem Koalitionsvertrag nichts erwartet und bin trotzdem noch enttäuscht worden.
Sie haben das Sondervermögen für Infrastruktur und Sicherheit angesprochen. Was kritisieren Sie hier?
Wir haben jetzt schon Dutzende Milliarden im Verteidigungshaushalt, wir haben 100 Milliarden Sondervermögen. Ich will erst mal wissen, wo dieses Geld überhaupt hingegangen ist und was wir wirklich brauchen, um die Verteidigungsfähigkeit der Bundeswehr zu gewährleisten. Wir als Linke stehen natürlich hinter der Bundeswehr als Verteidigungsarmee, das ist vollkommen klar und das ist auch im Grundgesetz so geregelt. Aber wir sagen zum Beispiel auch ganz deutlich: Was wir nicht brauchen, ist neues Großmachtstreben und die Ausrüstung für Auslandseinsätze. Das muss man sich doch mal vernünftig angucken und nicht einfach sagen, es gibt einen Blankoscheck und bei Rheinmetall und Co. knallen die Sektkorken. Darüber hinaus ist bei den 500 Milliarden Sondervermögen nicht klar geregelt, was damit passieren soll. Es ist also zu befürchten, dass über diese Investitionen noch mehr dieser Gelder in die Militarisierung gesteckt werden. Und genau das kritisieren wir.
Dennoch hatten auch Ihre Parteikollegen aus Mecklenburg-Vorpommern und Bremen dem zugestimmt, was Sie auch öffentlich kritisiert haben …
Weil die Länder erpresst worden sind. Man hat gesagt, ihr müsst dem jetzt im Bundesrat zustimmen, damit ihr bei der Schuldenbremse kleine Spielräume und Investitionsmittel bekommt. Natürlich sind die Länder und auch die Kommunen verzweifelt, die werden ja seit Jahrzehnten kaputtgespart und ausgeblutet. Dieses Land fährt auf Verschleiß. Sich dann hinzustellen und zu sagen: So, ihr müsst jetzt aber dieser Aufrüstung zustimmen und diesem Riesenpaket, damit ihr überhaupt ein paar Mittel bekommt, das ist Erpressung. Wir als Linke wurden da auch nicht mit einbezogen und deswegen finde ich, wir hätten dagegen stimmen sollen. Ich verstehe aber auch die beiden Landesverbände mit Regierungsbeteiligung, die sagen, wenn wir nicht mehr Geld bekommen, dann müssen wir ganz viele soziale Leistungen streichen, müssen Beratungsangebote streichen, müssen zum Beispiel Jugendarbeit reduzieren. Das wollen die natürlich nicht. Aber trotzdem finde ich, man hätte, gerade mit der Argumentation Erpressung und Nichtbeteiligung, sagen können: Nee Leute, so nicht.

Kommen wir zurück zum Thema Koalitionsvertrag. Nach einer Berechnung des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln – sofern man mit den teils unkonkreten Formulierungen arbeiten kann – sollen Bürger und Unternehmen durch die Steuerpläne von Union und SPD einen mittleren zweistelligen Milliardenbetrag einsparen. Trotzdem sagen Sie, das ist zu wenig?
Ich weiß nicht genau, wie das Institut das berechnet hat, weil im Koalitionsvertrag stehen kaum konkrete Zahlen. Das ist aktuell keine sonderlich seriöse Diskussionsgrundlage. Die Frage ist aber ja vor allem: Wer wird wie entlastet? So wie ich die Union kenne, aber auch die SPD, werden die, die sowieso schon viel haben, noch mal besonders entlastet. Die Logik konnte mir übrigens noch keiner erklären, warum man so agiert. Solange da nichts Konkretes vereinbart ist und wirklich klare Zahlen feststehen, bei denen deutlich wird, dass Menschen mit geringem und mittlerem Einkommen hauptsächlich profitieren, kann ich dazu nichts sagen, außer dass ich aus den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte weiß, wohin die Reise geht.
Also auch ein Stück weit klare Kritik an der SPD, die ja als Arbeitnehmerpartei gilt?
Ja, das ist auch schon lange her. Ich habe teilweise gelesen, dass man im Koalitionsvertrag eine starke SPD-Handschrift sehen würde. Ich habe sie noch nicht gefunden. Das einzige, womit die SPD immer wieder Werbung macht, ist das Thema 15 Euro Mindestlohn. Und da hat ihnen ja jetzt ihr Koalitionspartner ziemlich massiv das Messer in den Rücken gerammt und gesagt, das steht überhaupt nicht drin. Ich finde, dass sowohl Union als auch SPD den aktuellen Fragen der Zeit nicht gerecht werden.
Was wären diese aktuellen Fragen der Zeit?
Die aktuellen sozialen Fragen der Zeit, die ich vorhin schon genannt habe: bezahlbares Wohnen beispielsweise. Riesenthema, wurde uns immer wieder genannt. Mietendeckel, Investitionen in den sozialen Wohnungsbau, aber beispielsweise auch den Mietwucher-Paragrafen schärfen. Das ist ein Thema, was wir als Linke immer stark gemacht haben. Wir haben als Gruppe, jetzt als Fraktion, einen Mietwucherrechner, den wir mittlerweile in neun Städten anbieten. Als letztes ist Potsdam dazugekommen. Dort können Leute dann ihre Mieten eintragen und prüfen, ob sie unter diesen Mietwucher-Paragrafen fallen. Der sagt, wenn die Miete 20 Prozent über dem Durchschnitt liegt, ist das eine Ordnungswidrigkeit und bei 50 Prozent kann es sogar eine Straftat sein. Dann kann man auch dagegen vorgehen. Dann kann man es dem lokalen Wohnungsamt oder Sozialamt melden, je nachdem, wer dafür in der jeweiligen Stadt verantwortlich ist. Wir vereinfachen das für die Menschen, dass sie dieses Recht auch in Anspruch nehmen können. Das hat schon dazu geführt, dass einige Städte, in denen wir das anbieten, überlegen, solche Angebote auch selbst in der städtischen Verwaltung einzurichten. Wir selbst werden diesen Rechner auch auf weitere Städte ausweiten und den Leuten so auch konkret aus der Opposition heraus im Alltag helfen. Was wir aber zudem bräuchten, ist eine Schärfung des Mietwucher-Paragrafen. Wir als Linke haben das bereits mehrfach im Bundestag eingebracht. Im Koalitionsvertrag steht, dazu soll es eine Expertenkommission geben. Ich brauche keine Kommission, ich habe diesen fertigen Antrag hier liegen, den haben auch Expertinnen und Experten erarbeitet – und er ist im Bundesrat von unionsgeführten Ländern wie Bayern und NRW eingebracht worden. So eine Kommission ist immer der Versuch, Streitigkeiten, die es zwischen den Koalitionspartnern gibt, irgendwie outzusourcen, damit man es irgendwann vergisst. Aber wir vergessen das nicht. Das kann ich versprechen. Ein weiteres Thema ist aber auch die Bekämpfung von Altersarmut.
Im Koalitionsvertrag ist in dem Fall beispielsweise die Rede von der „Aktivenrente“ …
Damit die Menschen nach Renteneintrittsalter weiterarbeiten können und 2.000 Euro steuerfrei bekommen. Das ist sicherlich schön für diejenigen, denen es körperlich und psychisch möglich ist. Aber die, die jahrzehntelang als Pflegekraft oder auf dem Dach gearbeitet haben, die können irgendwann nicht mehr. Was ist mit einer Lösung für diese Menschen? Wie bauen wir das Rentensystem um? Da gibt es im Koalitionsvertrag keine Antworten. Dass das Rentenniveau auf 48 Prozent festgeschrieben werden soll, das zementiert nur das Elend, das wir hier gerade haben. Jeder fünfte Rentner, jede fünfte Rentnerin lebt in Armut. Es kann doch nicht das Ziel sein, das so weiterlaufen zu lassen! Wir müssen das Rentenniveau wieder auf 53 Prozent erhöhen. Das haben Rot-Grün damals in den Keller geschickt, die können nämlich auch ohne die FDP sehr schlechte Sozialpolitik machen. Zudem bräuchten wir ein Rentensystem, in das alle Erwerbstätigen einzahlen, auch Selbstständige, vor allen Dingen auch Abgeordnete. Es kann nicht sein, dass im Bundestag ständig so weitreichende Entscheidungen von Menschen getroffen werden, die letztlich gar nicht davon betroffen sind. Die Beitragsbemessungsgrenzen müssen steigen, die Auszahlbeträge abgeflacht werden, es braucht geringe Erhöhungen für alle, um das Rentenniveau wieder zu heben. Durchschnittlich 38 Euro pro Monat, das ist mit Blick auf den Effekt sehr wenig. Die Riesterrente muss in die gesetzliche Rente überführt werden – damit könnten wir dafür sorgen, dass Renten eben nicht in die Armut führen, sondern dass die Menschen nach Jahrzehnten harter Arbeit auch einen schönen Lebensabend haben können. Das muss doch eigentlich unser Ansatz sein. Wenn ich ein System habe, dass das nicht gewährleistet, sondern dafür sorgt, dass die Altersarmut immer größer wird, dann muss ich am System etwas ändern. Und dazu sind Union und SPD nicht bereit.
Was würden sie sich denn von der neuen Regierung wünschen?
Dass eine neue Regierung endlich akzeptiert, dass die Frage nach Wohlstand eines Landes nur dann beantwortet werden kann, wenn die Menschen im Land an diesem Wohlstand auch partizipieren können. Also ja, wir brauchen eine starke Wirtschaft, das ist vollkommen klar. Aber wofür brauchen wir die denn? Doch nicht als Selbstzweck, sondern damit es den Menschen in diesem Land gut geht. Wir müssen dafür sorgen, dass die Schere zwischen Arm und Reich endlich geschlossen und nicht immer weiter aufgerissen wird. Dass endlich die Alltagssorgen der Menschen Priorität werden. Das passiert nicht. Aber das wünsche ich mir.

Sie sprachen bereits an: Dafür wollen Sie als Linke kämpfen. Wie sieht das aus der Opposition heraus aus?
Zum einen, indem wir die Themen setzen, die man gerne unter den Teppich kehren möchte. Mietwucher. Eine echte Kindergrundsicherung. Die Streichung von Paragraf 218. Eine Vermögenssteuer. Während die Koalition versucht, sich da wegzuducken und Ausflüchte zu finden, werden wir immer genau an diesen Stellen konkrete Vorschläge einbringen. Wir haben einen Mieten-Gipfel geplant, einen Kita-Gipfel, eine Konferenz zur Vermögenssteuer, all das auch, um die Vernetzung mit den Aktiven aus der Zivilgesellschaft und Verbänden und Vereinen voranzutreiben. Wir wollen aber auch konkret helfen. Wir haben als Partei nicht nur die Sozialberatung, die wir weiter ausbauen möchten, sondern eben auch den Mietwucherrechner, einen Heizkostenrechner. Wir haben als Fraktion ein Portal zum Thema Mindestlohnbetrug. Es wird ja immer so gern davon geredet, dass Leute schwarz arbeiten, aber es wird nicht davon geredet, wie viele Menschen eigentlich um ihren Lohn betrogen werden, weil zu wenig Arbeitszeit aufgeschrieben wird oder Ähnliches. Das sind diese konkreten Dinge, mit denen wir zeigen wollen, dass man auch aus der Opposition heraus etwas bewegen kann. Wir setzen Themen so lange auf die Agenda, bis die anderen Parteien nicht mehr dran vorbeikommen. Das haben wir beim Mindestlohn geschafft, warum sollten wir es zum Beispiel beim Mietendeckel nicht schaffen?