Der Restaurator Wolf-Dieter Thormeier hat jeden Stein seiner Heimatstadt Stralsund mehr als einmal umgedreht. Dabei hat er in den Häusern mittelalterliche Malereien freigelegt, Fresken und Schnitzereien saniert und große Stadtkirchen restauriert.
Hinter den Fenstern im unteren Stockwerk des alten Bürgerhauses stehen Rauchglasflaschen. Große. Kleine. Grün, weiß, braun. Schlank. Langer Hals. Leicht verstaubt. Den schmalen Treppeneingang schmücken Strauchwerk und Blumentöpfe, aus denen Stockblumen hervorragen, wie sie fast an allen Häusern in der Badstüber Straße zu bewundern sind. Sie gilt als eine der idyllischsten Straßen der Stralsunder Altstadtinsel.
Hier hat Wolf-Dieter Thormeier seine Werkstatt. Das seit Ende der 1970er-Jahre leer stehende Haus setzte er instand, nahm Decke und Balken heraus und baute oben eine Galerie ein, von der er seine Werkstatt aus der Vogelperspektive überblickt. Eine Wand dekorieren Einmachgläser mit Schraubverschluss. Darin fein sortiert Knochenleim, Hasenleim, Fischleim, Bienenwachs, Bologneser Kreide, Champagner Kreide. Über den Gläsern ragen Teile opulenter barocker Bilderrahmen. Vergoldete Zeugnisse einer alten Zeit.
„Es war für Stralsund fünf vor zwölf“
Nicht immer waren die Zeiten in der Hansestadt am Stralsund golden. Von den grauen Fassaden bröckelte der Putz ab. Die Bausubstanz in der Altstadt war zu DDR-Zeiten marode und hinfällig. „Überall wurde improvisiert. Waren die Dächer undicht, hielt man Schüsseln darunter, um den Regen aufzufangen. Material, Handwerker und Kapital fehlten. Es gab sogar schon Pläne, die Altstadt großflächig abzureißen. Doch selbst dafür hatte Stralsund keine Kapazität“, erzählt Thormeier – und freut sich: „Zum Glück! Auch wenn die Bausubstanz ruinös war, konnte sie wenigstens erhalten bleiben. So betrachtet, war Armut der beste Denkmalpfleger.“ Nach der Wiedervereinigung vergingen noch weitere Jahre bis zur Aufbruchstimmung. „Es war für Stralsund wirklich fünf vor zwölf“, erinnert sich Thormeier. „Die meisten Häuser standen leer, waren aufgebrochen. Die Leute wollten raus aus der Altstadt und sich auf der grünen Wiese Häuser bauen.“ Nach der Gründung des Bürgerkomitees „Rettet die Altstadt Stralsund“ wurden die kaputten Häuser zunächst gesichert: Notdächer aufgesetzt, Türen und Fenster verschlossen, damit sie nicht noch mehr zerfielen. Die Haustüren in der Stralsunder Altstadt waren genauso morbid wie die ruinösen Häuser selbst. Schlösser oder Drücker wurden von skrupellosen Antiquitätensammlern abgeschraubt, manche Türen sogar ganz gestohlen. Eigentumsverhältnisse waren vielfach ungeklärt.
Wolf-Dieter Thormeier erkannte auch die Chancen der Stadt. Drei altehrwürdige Kirchen, das historische Rathaus, die Stadtmauer mit den Toren, das Scheelehaus, das Wulflamhaus, die Klosteranlagen und viele weitere denkmalgeschützte Bauten. „Die Stadt war prädestiniert dafür, wieder aufgebaut zu werden. Westdeutsche Investoren kamen. Den meisten ging es allerdings mehr ums Geld als um eine denkmalgerechte Sanierung, war mein Eindruck. Manche der Bauleute fragten mich, was pulst du denn da so lange an den Dingen herum? Was bringt denn das? Wenn das Werk dann fertig war, freuten sich alle.“
Für den Restaurator war es ein Glücksfall, nach der Wende den Wiederaufbau der Altstadt begleiten zu dürfen. In der Triebseer Vorstadt geboren, zog es ihn schon als Kind ins Stadtzentrum. Die Unterrichtspausen verbrachte er mit seinen Mitschülern oft am Hafen, am Alten und Neuen Markt, in den Kirchen und Klosteranlagen. „Im Gymnasium lehrte uns ein Kunstlehrer, alte Bausubstanz mit anderen Augen zu betrachten. Wir mussten verschlissene Türen aufarbeiten, nahmen die Farben runter, strichen sie neu an und retteten sie so vor weiterem Verfall. Die nun in neuer Schönheit erstrahlten Türen fielen auf in den Straßen. Da spürte ich, dass ich so etwas zu meinem Beruf machen möchte.“ Nach dem Abitur studierte Thormeier in Weimar Architektur. Doch als er erfuhr, dass es auch ein Direktstudium Restaurierung gibt, brach er das Studium ab. Um Restaurator zu werden, war es in der DDR üblich, zunächst ein Handwerk zu erlernen. Der junge Mann machte eine Lehre als Maurer und arbeitete für einige Zeit auf dem Bau und in einer Restaurierungswerkstatt, bis er in Potsdam das lang ersehnte Studium im Fach Restaurierung begann. Seit 1999 ist er in der Weltkulturerbe-Stadt Stralsund als Restaurator tätig. Sein Beruf ist ihm zugleich Berufung. Voraussetzungen seien sehr viel Geduld, die man mitbringen müsse, ein gutes Auge, Farbgefühl und Präzision, erklärt Thormeier.
„Ich fühle mich wie ein Forscher“
Seit mehr als einem Vierteljahrhundert hat er in den alten Bürgerhäusern die historische Farbschichtenfolge von Türen, Fenstern und Wänden untersucht, die durch häufigen Anstrich stark verkrusteten Profile freigelegt, hat Hölzer entwurmt, Haustüren und Treppen restauriert. Viele schon fast verloren geglaubte Türen wurden so zu einem echten Schmuckstück, erzählen Geschichten von Seefahrern, stolzen Ratsherren oder wohlhabenden Kaufleuten.
Aus einem Regal greift der Restaurator ein paar Bücher. Allesamt im quadratischen Format. „Stralsunder Bürgerhäuser – Haustüren“ steht darauf oder „Stralsunder Bürgerhäuser – Wand- und Deckenmalereien“. Die Bände sind ihm eine Herzensangelegenheit. Bei denkmalpflegerischen Voruntersuchungen und beim Abkratzen der Farbschichten machte er in vielen historischen Altstadthäusern sensationelle Entdeckungen. Wandmalereien aus allen historischen Zeitepochen, aus dem Mittelalter, der Renaissance, dem Barock, Klassizismus, Gründerzeit. Barocke Akanthusmalereien an Wänden und Decken und auch Schablonenmalereien des 19. und 20. Jahrhunderts. Mittelterliche Wappen oder wunderschöner Stuck kamen zum Vorschein. „Da kommt Freude auf“, schwärmt der Mann mit der randlosen Brille und dem blaukarierten, nach hinten gebundenen Kopftuch. „Ich versetze mich in die Zeit zurück, frage mich, wie diese Menschen damals hier gewohnt und gelebt haben. Es beeindruckt mich, dass ich oft der Erste bin, der nach so langer Zeit die historischen Artefakte wiederentdeckt. Dann fühle ich mich wie ein Forscher, wie ein Retter der Geschichte Stralsunds.“
Wolf-Dieter Thormeier streift sich feine Baumwollhandschuhe über seine Hände und blättert in einem Album. Sanft streicht er über alte Tapetenreste, die er bei seiner Arbeit in den Altstadthäusern von Stralsund entdeckt und geborgen hat. Anhand alter Zeitungsausschnitte, die sich zwischen den Tapetenlagen erhalten haben, kann er die Tapeten ziemlich genau datieren. Neben Wandmalereien waren vor allem handbemalte oder bedruckte Wachstücher und Leinwandtapeten als Wanddekoration beliebt. Später kamen Papiertapeten hinzu.
Er hat schon zahlreiche Häuser saniert
Bis zu zwölf oder 15 Tapeten hat man übereinander gelegt. Der Tapetenforscher dokumentiert seine Funde, allein 50 Stück aus einem einzigen Haus in der Stralsunder Knieperstraße. Die Tapeten stammen aus der Zeit des 18. bis Mitte des 20. Jahrhunderts. Die akkurat nach Motiven, nach Adressen und Ort der Auffindung geordneten Tapeten geben Einblick über die einstige Wand- und Deckengestaltung. Die restaurierten Tapeten zeigen dekorative florale Motive, Jagdszenen, Hafenimpressionen, klassizistische Ruinenlandschaften, Harfe spielende Engel oder figürliche Liebeszyklen. „Sie beschreiben Zeitgeschichte, Hausgeschichte. Sie verraten uns etwas vom damaligen Zeit- und Individualgeschmack der früheren Bewohner. Man erfährt, ob die Leute arm oder wohlhabend waren, ob sie in hochwertigen Bürgerhäusern wohnten oder als kleine Handwerker auf engstem Raum, ob sie sich gute Künstler leisten konnten oder nur einfache Maler aus den Nebengassen. Aus manchen Decken und Wänden, so scheint es, würden Blumen wachsen. Wollten die Bewohner in einem Paradiesgarten leben? Hatten Besitzer andererseits in dunkel gestrichenen Räumen möglicherweise miese Laune? Und in Zimmern, in denen lustige kleine Engel an den Wänden auftauchen, gab es dort vielleicht Freude und Heiterkeit? Ich kann nur mutmaßen.“
Thormeier setzt ein Spotlicht auf ein paar Bretter an der Wand und zeigt auf wunderschöne Deckenmalereien. Die Bauherren wollten sie nicht. Drei weitere alte Bretter sind Fundstücke, die er aus einem Container gezogen hat. „Als ich sie reinigte, kam dieses besondere Bildnis zum Vorschein: ein Jesuskopf. Über ihm als schützendes Symbol Gottvater in Gestalt einer Taube.“
Thormeier hat in Stralsund inzwischen zahlreiche Häuser saniert, an den großen Stadtkirchen gearbeitet, am Rathaus, am Theater. Eine besonders schöne Arbeit war die Restauration der Deckenmalerei in der Bahnhofshalle mit der Altstadt, der Insel Rügen und dem Darß. Thormeier hält Vorträge im Museumsverein, an der Volkshochschule und im Stralsunder Kunstverein. Nach getaner Arbeit schwingt er sich oft noch auf sein Fahrrad und unternimmt längere Touren. Auch bei Triathlon-Wettkämpfen ist er dabei, beim Schwimmen, Radfahren und Laufen. Wenn er jedoch gemütlich durch Höfe und Gassen der Hansestadt spaziert, bleibt er oft stehen und entdeckt immer wieder Neues in seiner geliebten Stadt am Meer. „Der Blick auf die Spuren der Vergangenheit sollte uns bewusst machen, dass jede Kultur auf den Leistungen vorangegangener Epochen aufbaut und dass wir achtsam mit dem Erbe umgehen sollten. Ohne Kriege und Zerstörungen.“