Für Sandra Roth geht es als gesunde Frau mit einem Meniskusschaden in den OP. Danach hat sie Lähmungen und Schmerzen in ihrem kompletten Bein und Fuß. Eine Odyssee von Krankenhaus-Aufenthalten und Reha-Maßnahmen beginnt.

Drei Sätze, die die 46-jährige Sandra Roth von Ärzten und Therapeuten nicht mehr hören kann, lauten: „Da passt ja nichts zusammen.“ „So was hab ich noch nie gesehen.“ „Sie sind ja ein spannender Sonderfall.“ Nicht gerade tröstlich, wenn man mitten im Leben steht, beruflich und privat engagiert ist und mit einem Mann und zwei heranwachsenden Kindern ein ausgefülltes Leben führt. Doch der Reihe nach.
2020 ist Sandra Roth beruflich genau dort angekommen, wo sie immer hinwollte. Die Mutter zweier Töchter hat nach dem Abitur eine Ausbildung zur Hotelfachfrau gemacht und einige Jahre in der Hotellerie gearbeitet. In der sechsjährigen Elternzeit absolviert sie ihr Studium der Bildungswissenschaft (Erziehungswissenschaft, Pädagogik). Nach dem Ende der Elternzeit, noch während des Studiums, arbeitet die Saarländerin zuerst als Integrationshelferin an der Brennpunkt-Grundschule Füllengarten. Später ist sie als Sozialpädagogin beim Migrationsdienst der Caritas-Einrichtungen in der Landesaufnahmestelle (LASt) in Lebach angestellt. Dort begleitet sie in verschiedenen Projekten jugendliche und erwachsene Flüchtlinge bei der Integration in Arbeit und Bildung.
2020 bewirbt sie sich auf die Stelle der ständigen Vertretung der Leitung der Kindertagesstätte St. Nikolaus. Die Kita ist neben dem Migrationsdienst ein weiterer Fachbereich der Caritas-Einrichtungen der LASt. Sie bekommt ihren Traumjob. Hier kann sie pädagogisch mit den Kindern arbeiten, sich im Austausch mit den Erziehungsberechtigten um eine gute Erziehungspartnerschaft bemühen, und administrativ gemeinsam mit der Leiterin die Kita führen.
In den Sommerferien bricht die Familie statt zum geplanten Strandurlaub in Kroatien zum Wandern ins Allgäu auf. Beim Spazieren passiert es dann. „Ich sag noch zu meinen Kindern: ‚Passt gut auf die Wurzeln auf, damit ihr nicht stürzt“ und zack lag ich auf der Nase. Ich bin auf mein Knie gefallen, bin schnell wieder aufgestanden und dachte: Wird schon nicht so schlimm sein.“
Zurück aus dem Urlaub stellen sich erste Schmerzen am Knie ein. Sandra Roth beißt die Zähne zusammen. „Wird schon wieder besser werden. Im August 2021 stellt mein Orthopäde fest, dass ich einen Meniskusriss habe. Eine Operation sei unausweichlich, da ich viel zu lange gewartet habe.“ Am 27. September 2021 wird sie ambulant in einem Saarbrücker Krankenhaus operiert. „Schon kurz nach der OP habe ich gemerkt, dass irgendetwas mit meinem Bein nicht stimmt. Ich hatte keinerlei Kraft, konnte den Schuh nicht selbst anziehen. Die Krankenschwester meinte noch, ich soll mich nicht so dranstellen, sei ja nur eine kleine OP gewesen.“
Zu Hause nehmen die Schmerzen zu, das Knie schwillt an, es bilden sich Einblutungen. Sandra Roth geht jeden Tag zu ihrem Orthopäden. Er kann sich nicht erklären, was passiert sein könnte. Die Schmerzen werden von Tag zu Tag schlimmer. „Ich konnte weder meinen Fuß geschweige denn mein Bein anheben, das Knie ließ sich nicht mehr strecken. Ich konnte nur an Gehstützen gehen und zog das linke Bein hinter mir her.“ Sandra Roth bekommt Verordnungen für Krankengymnastik, Lymphdrainage und Elektrotherapie. Doch es wird nicht besser. „Während der Elektrotherapie wurde festgestellt, dass mein Oberschenkelmuskel keine Reaktion mehr zeigt. Nach Rücksprache mit dem Orthopäden schickte dieser mich mit Verdacht auf Bandscheibenvorfall zur MRT und zur weiteren neurologischen Abklärung zum Neurologen. Der Befund der MRT war negativ. Sowohl der Orthopäde als auch der Neurologe waren völlig konfus. Einen ähnlichen Verlauf hatten sie noch nie gesehen.“
„Ich hatte permanent starke Schmerzen“
Ab diesem Zeitpunkt beginnt eine wahre Odyssee an Untersuchungen, Klinikaufenthalten und Reha-Maßnahmen.
„In der SHG Klinik in Merzig wurde ich komplett auf den Kopf gestellt. Alles, was an Diagnostik möglich war, wurde durchgeführt: Ich wurde untersucht auf Schlaganfall, Multiple Sklerose, ALS (Amyotrophe Lateralsklerose), und vieles mehr.“ Die Untersuchungen bringen keine Ergebnisse. Die Neurologen der Klinik bitten Fachärzte des Friedrich-Baur-Instituts in München um ein Konsil. Bei der Beratung kommen die Mediziner zu dem Schluss, dass Sandra Roth einen ischämischen Muskelinfarkt im Quadrizepsmuskel erlitten hat, der durch die Blutsperre während der Athroskopie ausgelöst wurde. Dabei handelt es sich nicht um einen ärztlichen Fehler, sondern um eine körpereigene Reaktion. „Meinen Orthopäden trifft keine Schuld“, so Sandra Roth. „Ich habe weiterhin großes Vertrauen zu ihm.“
Nach der Diagnosestellung startet Sandra Roth optimistisch ihre ambulante Reha. Ihr Mann und ihre beiden Töchter unterstützen sie, wo sie nur können. Sprechen ihr Mut zu. Doch die Schmerzen werden immer stärker, ihr Bein verfärbt sich, es geht ihr in allem schlechter als zuvor. „Ich fühlte mich wie ein lahmes Tier. Ich ging an zwei Krücken, schleifte mein Bein hinter mir her und hatte permanent starke Schmerzen.“
Es folgen weitere Klinikaufenthalte, Vorstellungen bei Spezialisten in Homburg, Heidelberg und München und ein sechswöchiger stationärer Reha-Aufenthalt in Orscholz.
Beim Versuch, die Schmerzen zu lindern, sucht sie Hilfe in anderen Fachgebieten, wie der Osteopathie und Ergotherapie, und geht zur Akupunktur. Ohne Erfolg.
Dann bekommt der Schmerz einen Namen. Diagnose: komplexes regionales Schmerzsyndrom (CRPS Typ I). CRPS ist eine der schwerwiegendsten Schmerzerkrankungen. Dabei reagiert der Körper mit einer massiven Entzündungsreaktion, ohne dass eine Infektion vorliegt.
Durch die Krämpfe sind Sehnen gerissen
Ein Glücksfall ist es, dass sie zur Versorgung ihrer Fußheberlähmung und der Lähmung ihres Oberschenkelmuskels beim Orthopädiehaus Doppler auf ein Orthopädietechnikerteam trifft, die sich mit einer speziellen mikroprozessorengesteuerten Orthese für Menschen mit Lähmungen in den Beinen auskennt. Hierbei handelt es sich um das C-Brace der Firma Ottobock. Das C-Brace ist eine stand- und schwungphasengesteuerte Ganzbeinorthese mit Mikroprozessorensteuerung. Dank dieser Technik kann Sandra Roth auf zwei Beinen stehen und sehr kurze Strecken ohne Gehstützen überwinden. „Mir kamen die Tränen, als ich das erste Mal wieder gelaufen bin.“
Die Schmerzen können durch die Orthese nicht gelindert werden. Hierfür macht sie eine multimodale Schmerztherapie. Das bedeutet, regelmäßige Besuche bei der Hausärztin, dem Orthopäden, dem Schmerztherapeuten, dem Neurologen und der Psychologin. Sandra Roth nimmt hochdosierte Schmerzmittel und absolviert eisern ihr Reha-Programm: Je zweimal die Woche Krankengymnastik und Lymphdrainage. Daheim übt sie fleißig, hält die Schmerzen tapfer aus. Doch es wird und wird nicht besser. Im Gegenteil. Die Schmerzen werden schlimmer. Als Symptom des CRPS treten heftige Krampfanfälle (Dystonien) in Bein und Fuß auf. Diese halten bis zu 30 Minuten an und treten zwei- bis dreimal pro Tag auf. „Sie sind so schlimm, dass es kaum auszuhalten ist. Durch die Intensität der Krämpfe sind Bänder, Kapseln und Sehnen in meinem Fuß gerissen. Das Geräusch ist schrecklich, wenn eine Sehne reißt. Bisher ist dies mit der Fußhebersehne und der Strecksehne des Großzehs passiert. Außerdem besteht derzeit der Verdacht, dass ebenfalls die Peroneussehne gerissen ist. Eine MRT steht aus. Manchmal verliere ich auch das Bewusstsein, weil der Schmerz so stark ist.“
Mittlerweile ist zudem das Fußgelenk versteift, durch die damit einhergehende Spitzfußstellung ist zwischen Ferse und Boden viereinhalb Zentimeter Luft.
Auch eine spezielle stationäre Schmerztherapie mit hochdosierten Ketamin-Infusionen, „einem starken Narkosemittel“, erklärt Sandra Roth, bleibt erfolglos. Ziel dieser zehntägigen Therapie ist es, ihr Schmerzgedächtnis zu löschen.

„Doch die Schmerzen haben sich in meinem Gehirn manifestiert, die Therapie war letztendlich erfolglos. Ich habe 24 Stunden am Tag neuropathische Schmerzen, verbunden mit massiven Krampfanfällen.“ Ihr Frust und ihre Enttäuschung wachsen von Tag zu Tag. In einer Psychotherapie lernt sie, mit dem Schmerz und dem Verlust ihrer Beweglichkeit umzugehen.
„Zu akzeptieren, dass ich nie mehr unbeschwert und schmerzfrei gehen werde, ist sehr schwer. Ich kann nicht mehr arbeiten, bin berentet, schwerbehindert und habe Pflegegradstufe zwei. Ich werde nie mehr spazieren gehen, oder auch nur das Haus alleine verlassen. Ich kann im Haushalt nur sehr begrenzt helfen. Ich werde nie mehr ein Leben führen, wie ich es vor der OP hatte. Ich brauche Hilfe beim Aufstehen, beim Waschen und beim Anziehen der Socken und der Orthese. Das Bad haben wir mittlerweile behindertengerecht umgebaut. Ich bin einfach nicht mehr selbstständig. Das ist schwer auszuhalten.“
Ihr Mann geht morgens zur Arbeit, die Kinder zur Schule und sie bleibt zurück, sagt sie. „Ich fühle mich wie auf dem Bahnhof: Ständig kommt und geht einer, aber ich sitze hier fest. Mein Leben findet in der zweiten Reihe statt. Meine Familie schickt mir Bilder, ich selbst kann an ihren Aktivitäten meist nicht teilhaben.“ Ihrer Umwelt fehlt oft das Verständnis an ihrer Situation. „Weil man meinen Schmerz nicht sehen kann. Ich habe mich aus dem Leben da draußen zurückgezogen. Aber eigentlich sehne ich mich danach, wahrgenommen zu werden, wie ich früher war. Will nicht nur auf meine Krankheit reduziert werden.“
Die Hoffnung auf Heilung oder deutliche Verbesserung hat Sandra Roth nicht aufgegeben. „Ich bin aber Realist genug, um zu wissen, dass die Wahrscheinlichkeit sehr gering ist. Trotzdem setze ich alles daran, dass es besser werden kann. Eine riesige Unterstützung hierbei sind mir meine Familie, meine Ärzte und Therapeuten. Allen voran das Team der Riegelsberger Praxis Physio aktiverleben. Von all den genannten gibt mich keiner auf!“