Im Spreewald hat der Mensch gemeinsam mit der Natur einen faszinierenden Kulturraum geschaffen. Doch die Zukunft ist ungewiss.
Der Spreewald ist ein stilles Meer aus Bäumen. Wie lautlos das Kanu unterm Blätterdach hindurchgleitet, immer den blauen Wasserjungfern hinterher. Die Libellen weisen den Weg durchs Labyrinth, durch Kanäle und endlose Verzweigungen des späteren Hauptstadtflusses, bis man trotz Karte die Orientierung zwangsläufig verliert.
Egal. Der in die Hand gegebene Wegeplan des Bootsverleihers schien nichts anderes zu versprechen, angesichts der über 1.000 Kilometer an Wasserpfaden, die sich wie ein Fischernetz auf engsten Raum legen. Auch egal, weil dafür die Buchen und Erlen am Ufer erhaben grüßen, weil der Blick immer eine Bewegung einfängt und sie genießt: Da ist das wiegende Schilfgras im Hochwald, hier ein schwebender Reiher und dort ein stakender Storch. Mücken tanzen überm Wasser einen zackigen Tango, eine Biberratte schwimmt eine Armeslänge entfernt mit dem Boot, und kurz vor Lübbenau legt sich weißer Schnee aus Blüten aufs Fließ. Nur die Frösche haben sich zurückgezogen und warten auf den Abend für ihr Konzert. Der Spreewald ist Biosphärenreservat und Touristenmagnet zugleich. Dieser Grat ist so schmal wie der Weg zwischen den Ufern, den das Kanu nimmt.
Frauen in bunten Trachten
Im brandenburgischen Teil der Niederlausitz erstreckt sich der Spreewald auf moorigem Grund. Die wenigen Häuser, die das Kanu passiert, sind aus Holz und tragen an den Giebeln gekreuzte Schlangen. Die Ortsnamen, die sich abwechseln, klingen nicht deutsch. Und manche Frauen zeigen sich in alten, bunten Trachten und weißen Hauben so groß wie ein Lilienstrauch. Es ist, als durchkreuzte man ein anderes Land.
Aus dem Boot ausgestiegen, ruht ein weiteres Rätsel am Wegesrand. Im Hain von Lübben, einem vom Wasser umgrenzten Wald mit 250 Jahre alten Stieleichen, die sich auf ihren 30 Metern Höhe einen schweigsamen Kampf mit dem Efeu an ihren Rinden liefern, steht „Liuba“ auf einen großen Stein geschrieben. Was das bedeutet, erklärt er nicht. Jenseits des Spazierpfads brüllt einem undurchdringbares Grün entgegen, verwachsen Bäume miteinander, schon unten am Stamm oder oben in den Kronen, lassen die schale Sonne kaum durch. Immer schon, sagen die Leute, sei der Hain dagewesen – mitten in der Stadt und dennoch weit weg.
Mensch hinterlässt seine Spuren
Ein wenig Licht in dieses Dickicht aus fremd anmutenden Elementen bringt ein ehemaliger Punk. Mitten in Lübbenau, an einer gepflasterten Gasse mit gedrungenen Altbauten in verschiedenen Pastellfarben, öffnet Sarah Gwiszcz die Tür zu ihrem Laden „Wurlawy“, „das heißt ‚Wilde Waldfrauen‘ auf Wendisch“, sagt sie. „Liuba ist die wendische Göttin des Frühlings und der Liebenden.“ Und der Stein im Hain verweise auf eine einstige Kultstätte der Wenden. Wenden? Seit dem siebten nachchristlichen Jahrhundert hatten in der Lausitz Slawen gesiedelt, im Spreewald nennen sie sich Wenden, weiter südlich Sorben. Sie fanden ein menschenleeres Gebiet vor, nachdem im Zuge der Völkerwanderung ostgermanische Stämme es verlassen hatten; deren einseitige Flächenbewirtschaftung hatte zu Erosionen, einer ökologischen Krise und zum Exodus geführt. Später, mit der deutschen Kolonisierung, blieben die Wenden, von denen Sarah Gwiszcz abstammt – wie viele es genau sind, ist unbekannt; das Sorbische Kulturlexikon zählte 1987 noch 67.000. Daher die Zweisprachigkeit der Ortsschilder und die Holzschlangen an den Giebeln, ein Symbol für den sagenhaften Schlangenkönig der Wenden, der die Bewohner schützen soll. Und die Trachten: Sarah Gwiszcz verwebt in ihrem Atelier die alte wendische Tradition mit neuen Stilen. Die Modedesignerin kommt aus der Punkszene, „bei der Kutte mit ihren Nieten und Aufnähern geht es wie bei der Tracht um viele Details, dahinter stand für mich stets ein Plan“, sagt sie. „Nicht jeder Punk hat einen Deko-Fimmel und einen Blick fürs Detail, aber ich fand mich damit in der Trachtenwelt wieder“ – in ihrem eigens geschaffenen Label. Wo über lange Zeit Wenden ihre Herkunft verbargen, von den Deutschen auch diskriminiert wurden, werde nun ihre Geschichte neu entdeckt. „Die Beschäftigung mit dem Wendischen nimmt zu.“ Sie selbst lerne gerade Wendisch von Grund auf neu. „Das ist wie ein Fokus auf etwas Positives, auf ein gutes Miteinander.“ Wie das Miteinander im Spreewald zwischen Mensch und Natur: Es kann gut geraten. Muss aber nicht.
Auf den Wasserwegen stauen sich im Hochsommer zuweilen die Kanus, Kähne, Kajaks und die Stand-up-Paddler. Der Mensch hinterlässt seine Spuren, nur zwei Prozent des Biosphärenreservats sind für ihn unzugänglicher Naturraum. Der Schwarzstorch als Bruttier hat sich seit Längerem nicht mehr blicken lassen, der Hase wird seltener. Die Populationen von Insekten, Reptilien und Amphibien nehmen stark ab. In der Lausitz nimmt die Versteppung ihren Lauf, die den Spreewald durch Stauhaltung zwar nicht erreicht, aber wie lange noch? Forscher erkennen als Gefahren für den Spreewald eingeschleppte Pilzkrankheiten, die industrialisierte Landwirtschaft rund um das Gebiet – und natürlich den Klimawandel, der die Dürre einschleppt.
Ein verwunschenes Inseldorf
Und dann sorgt man sich auch wegen einer veränderten Wasserchemie, sie macht Fischen und Krebsen zu schaffen. Um zu verstehen, was von außen auf den Spreewald zutreibt, auf dieses Konglomerat aus verschiedenen Biotop-Typen, muss man ihn südlich verlassen, immer die Spree gegen den Strom hinauf. Im keine 40 Kilometer entfernten Spremberg zeigt sie sich nicht glasklar, sondern schmutzig braun. Auch die Gräser und die Steine am Ufer – alles ist in ein unnatürliches Ocker getunkt, als habe ein riesiger Wolkenfarbeimer seinen Inhalt ausgeschüttet. Der Strom kommt hier aus der Verbrennung von Braunkohle, und die Auswaschungen ihres Tagebaus ganz in der Nähe bringen Eisenockerschlamm in die Spree. Der Gegensatz, hier das Naturparadies und dort ein Fluss wie vom Mars, wird nördlich von Cottbus noch größer. In Grießen, eine Autodreiviertelstunde von der Grenze des Spreewalds entfernt, führt eine Kante Dutzende Meter steil in einen Abgrund. Furchen graben sich dann wieder einen Damm hinauf, rein in ein Niemandsland, das nur aus grauem Staub besteht. So weit das Auge reicht.
Bei der Fahrt zurück versteckt sich der Spreewald vor den Straßen. Er lässt nicht erahnen, was alles in ihm steckt – durchs Autofenster sieht er aus wie ein dürres Potpourri aus schalen Birken und langen Fichten. In der Ferne schält sich wie eine Trutzburg Raddusch heraus, die Rekonstruktion einer wendischen Slawenburg aus dem 10. Jahrhundert. 1.500 Eichenstämme hatte man für den Bau verwendet. Nun patrouillieren auf seinen Mauern keine Soldaten, sondern Touristen. Wir lassen den Abend ausklingen am Ufer in Leipe, einem verwunschenen Inseldorf, dessen 110 Einwohner und ihre Häuser man teilweise nur mit dem Boot erreicht. Wir lassen uns nieder auf den Sitzbänken eines Gasthofs, bei Grützwurst mit Kartoffeln und geräuchertem Saibling mit Essiggurke und Meerrettich – alles aus dem Spreewald.
Am nächsten Morgen zieht ein Mann mit einem Blumenkranz um seinen Strohhut unsere Blicke auf sich. Er steht am Straßenrand eines Dorfes, dessen Kirche gegenüber im Inneren mit Feldfrüchten bemalt ist. Er trägt einen Arm voll Holunderzweige ins Innere, in seinen „Un-Kraut-Laden“. „Die lasse ich trocknen“, erklärt Peter Franke, „und dann mach ich daraus Likör, Tee, Gelee und Sirup“. Er nimmt das Grün von Dirk Drevenstedt entgegen, der Landwirt hat seine Büsche geschnitten, damit sie mehr Früchte tragen. Im Tausch dafür erhält er von Franke Limonade, Kräuter, Öl und Essig. „Meine Mission ist die kulinarische Rückentdeckung des Spreewalds“, sagt Franke, 66. „Vorwärts zurück zur Natur! Der Spreewald ist voller Genusspflanzen – diese Schönheit, das hebt doch die Macke!“ Zu ihm kämen Leute, die so ticken wie er. „Um den Spreewald zu retten“, ergänzt Bauer Drevenstedt, 56, „müssen wir auf das Wissen der Alten schauen“ – wie im Schatten der um sich greifenden Dürre die Winterfeuchte mitgenommen werden könne, wie der Boden das Wasser am besten speichere. „Ich habe schon 1995 auf Bio umgestellt“, mittlerweile bewirtschafte er auf 24 Hektar Apfelbeeren, „normaler Getreideanbau lohnt nicht mehr“. Franke beobachtet, wie die Spreewälder zunehmend Unkraut als Genusskraut erkennen und ernten, in ihren Gärten wieder mehr zum Eigenverbrauch anbauen – so wie Franke selbst, den die Mutter in seiner Kindheit rausschickte zum Brennnesselnpflücken, für die Hühner, und Huflattich und Lindenblüten; der mit zwölf Bohnen schnippelte und Koch wurde. Mit 20 folgte er dem Ruf der Druschba, dem Bau einer 2.750 Kilometer langen Erdgasleitung, und bekochte die Trassenarbeiter. Dann die Handelshochschule, eine Stelle im „Astoria“ in Leipzig und schließlich Vize-Direktor der „Interhotel“-Kette mit 16.000 Mitarbeitern und verantwortlich für die Valuta-Wirtschaft. In der Bundesrepublik wurde er kulinarischer Botschafter des Landes Brandenburg, er sieht sich in einer Mission: „Ich will nicht produzieren, ich will Freunde haben.“ „Der Spreewald lebt stark vom Tourismus“, sagt er, „aber darauf darf sich die Region, die schon immer der Vorgarten Berlins war, nicht verlassen.“ Die geschützten Zonen müssten bewahrt werden, „mit einer Naturwacht, die auch was zu sagen hat, und einer Wasserschutzpolizei, die nicht nur einen Kahn hat“. Und die Ströme der Touristen sollten besser kanalisiert werden, „wir bräuchten eine Zuganbindung und Insellösungen im Spreewald für die Unterkünfte, Apps, welche die Leute führen“. Und es brauche „Genusshandwerker“, welche den pharmazeutischen und kulinarischen Reichtum des Spreewalds erkennen, „die Monokultur des Tourismus ist verhängnisvoll – angesichts eines Sterbens von Molkereien, Metzgereien und Landgasthöfen“. Eine Schande sei es, sagt er zum Schluss, diesen Reichtum liegenzulassen. Zum Abschied drückt er mir ein Glas geriebenen Meerrettich mit Kräutern in die Hand; auf Brot geschmiert ein Gedicht!
Roggen wird zu Whiskey
Wie radikal nachhaltig ein Berliner in seinem „Vorgarten“ Spreewald wirken kann, zeigen drei Männer in Schlepzig. Es ist Mittag und womöglich nicht die beste Tageszeit für einen Whiskey, aber die Schönheit der alten Häuser im Dorf, auf Wendisch „Słopišća“, seit Jahren von einem Bürgermeister der „Wählergruppe Freiwillige Feuerwehr“ regiert, und die vielen Störche auf den Schornsteinen sorgen für eine gewisse Nachlässigkeit. Steffen Lohr, 41, steht gemeinsam mit Bastian Heuser, 46, vor einer Reihe Holzfässer, sie tragen den Aufdruck „Rye Spreewood“. Es riecht würzig nach Holz und süßlich nach Frucht. „Das ist die ganze Bandbreite des Roggens“, lächelt Lohr. Die beiden betreiben hier gemeinsam mit Sebastian Brack die einzige Destillerie in Deutschland, die nur Roggen zu Whiskey verarbeitet.
Ihr Stork Club wurde bei den World Whiskey Awards zum „World’s Best Rye Whiskey“ gewählt. Das klingt alles ziemlich Angelsächsisch, ist aber echter Spreewald. „Wir beziehen den Roggen von den umliegenden Feldern“, sagt Heuser, „Brandenburg ist doch traditionell Europas größte Anbauregion und bekannt für dessen Qualität“; Roggen ist genügsam, und die Böden hier die einer Sandbüchse. Die Destille betreiben sie erst seit 2016. Der Spreewald habe sie verzaubert, sagen die Großstädter. „Wir haben uns in ihn verliebt.“
Trafen sie etwa die Göttin Liuba? Immerhin konnten ihre Entscheidungen weitreichender Natur sein. Einer Legende nach war eine Wendenprinzessin mit einem Fürstensohn aus einem verfeindeten Stamm heimlich verlobt. Als der in einen Kampf zog, bat sie Liuba, sie rasch wieder mit ihrem Geliebten zusammenzubringen. Auf dem Weg nach Hause versank die Prinzessin im Morast. Und auf dem Schlachtfeld wurde ihr Liebster zur selben Stunde von einem vergifteten Pfeil ins Herz getroffen. So hatte die Göttin beide im Tod wieder vereint. Das war einmal. Heute verschwindet keiner mehr im Moor, im Gegenteil: Nun gräbt der Mensch dem Spreewald das Wasser ab. Und schickt ihm manchen Pfeil.