Die deutsche Wirtschaft spürt den Abschwung und gleichzeitig die schwierigen Auflagen einer sozialen und ökologischen Transformation. Bürokratieabbau und politische Verlässlichkeit werden zunehmend zur Existenzfrage.
Es sind mahnende Worte. „Immer mehr Menschen haben das Gefühl, dass Politik hinter verschlossenen Türen stattfindet. Wir wünschen uns, dass die Wirtschaft mit ihrer Expertise wieder mehr einbezogen wird in politische Entscheidungen, dann tragen wir diese auch mit.“ Ina Hänsel, Präsidentin der IHK Potsdam, hat zusammen mit anderen Industrie- und Handelskammern einen offenen Brief an den Bundeskanzler verfasst. Darin beschreiben sie die Lage vieler Unternehmen als bedroht, sollte sich an der derzeitigen Politik nichts ändern.
2024 wird in mehreren Bundesländern gewählt. Die Umfragewerte für die Ampelparteien sind schlecht, aber auch die übrigen Parteien kommen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen nicht gut weg. Stattdessen droht ein Sieg der AfD und eine in Folge dessen schwierige Regierungsbildung in den jeweiligen Landtagen. Keine guten Aussichten, auch nicht für die soziale Marktwirtschaft, die stabile politische Verhältnisse braucht. Zusammenfassend beschreiben die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner des offenen Briefes ihre Situation so: „Die regionale Wirtschaft, für die wir als Präsidentin und Präsidenten der ostdeutschen Industrie- und Handelskammern Verantwortung tragen dürfen, steckt in einem sich zuspitzenden Dauerkrisenmodus.“ Einen gewichtigen Grund sehen sie darin, dass die Einbindung wirtschaftlicher Interessen in den politischen Prozess nicht mehr stattfinde und dass Worten und Taten der Bundesregierung nicht im Einklang zueinander stünden. Die Haushaltsdebatte, kurzfristig beschlossene Belastungen wie das Ende der Agrardiesel-Subvention, fehlende Kostensicherheit im Energie- und Baubereich, zu viel Bürokratie und „Anreize für Nicht-Arbeit“: „All dies führt dazu, dass die internationale Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands erodiert“, heißt es in dem Schreiben.
„Wettbewerbsfähigkeit erodiert“
Laut World Competitiveness Ranking 2023 des schweizerischen International Institutes for Management Development fiel Deutschland im weltweiten Vergleich der Wettbewerbsfähigkeit von Platz 15 auf 22. Laut des Länderrankings Familienunternehmen des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung sank die Attraktivität des Landes zwischen 2020 und 2022. Damit rangierte Deutschland nur noch auf Rang 18 von 20 der untersuchten führenden Wirtschaftsnationen der Welt.

Die Bundesregierung gebe in der Öffentlichkeit ein desolates Bild ab, schreiben die Autorinnen und Autoren. Die „aufgeheizte Stimmung im ganzen Land“ sei hausgemacht. Dies sei „Wasser auf die Mühlen extremer Kräfte“, so die IHK-Vertreter mit Blick auf die in diesem Jahr anstehenden Landtagswahlen. „Wenn sich an Ihrem Handeln und Auftreten nichts grundlegend ändert, fürchten wir, dass ein ostdeutsches Bundesland nach dem nächsten zu einem Sehnsuchtsort für Rechtsextremisten und wirtschaftlich zum Transitland verkommt.“ Eine sachorientierte und abgestimmte Arbeit sei das beste Mittel gegen Rechtspopulismus.
Gleichzeitig senden die deutschen Spitzenverbände der Wirtschaft einen offenen Brief an den Kanzler. Auch darin spiegeln sich die immer weiter zunehmenden Unsicherheiten wider: „Mit großer Sorge beobachten wir die politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung, in der sich unser Land befindet“, heißt es in dem Schreiben. Der Standort Deutschland verliere an Attraktivität. Die Verlagerung von industrieller Produktion ins Ausland nehme zu. „Wenn aber die Investitionen hierzulande unterbleiben und der Mittelstand schrumpft, kann die Transformation in Richtung Klimaneutralität nicht gelingen.“ Mit einem „kräftigen Aufbruchssignal“ und langfristig verlässlichen, wirtschaftsfreundlichen Rahmenbedingungen könne und müsse die Politik bei den Unternehmen wieder mehr Vertrauen aufbauen.
Die Zeit drängt. Die Exporte, essentiell wichtig für das Wirtschaftsmodell des Landes, sanken 2023 um 1,4 Prozent. Dass Deutschland mit einem Minus von 0,3 Prozent die europäische Wachstumstabelle 2023 nur von unten anführt und von Spanien und Italien outperformt wird, ist das Land nicht gewohnt. Wasser auf die Mühlen der FDP, für Finanzminister Christian Lindner ist sozialer und ökologischer Wandel ohne Wachstum der Wirtschaft nicht möglich. Da wäre nach Ansicht seiner Partei möglicherweise ein EU-Lieferkettengesetz eine neuerliche Belastung für Unternehmen und deren Berichtspflichten gewesen, weshalb sich Deutschland nun bei der Abstimmung in Brüssel enthält.
Industrieproduktion sinkt
Auch für das aktuelle Jahr sind die Aussichten für Deutschland eher trübe. Nach Prognosen der OECD wächst Deutschland im aktuellen Jahr um 0,3 Prozent, obwohl die Auftragslage in der deutschen Industrie kurzfristig hervorragend ist. Dies aber sei zurückzuführen auf einen Effekt innerhalb einer bestimmten Branche: Die Auftragseingänge im Flugzeugbau hatten im Dezember erheblich zugenommen. Der Gegenwind für die deutsche Wirtschaft komme nach Ansicht der Volkswirte des Kreditversicherers Allianz Trade neben den hohen Energiekosten vor allem von der schwachen globalen Nachfrage, insbesondere nach Gütern wie Autos, Werkzeugmaschinen und Chemikalien, heißt es in einer Analyse zu Deutschland. „Darüber hinaus macht der hiesigen Wirtschaft das einseitige globale Wachstum von Dienstleistungen im Vergleich zu Waren zu schaffen.“ Die Allianz-Trade nennt ein ganzes Bündel struktureller Herausforderungen, vor denen die deutsche Wirtschaft stehe: Arbeitskräftemangel, hohe Energiekos-ten, eine hohe Regulierungs- und Steuerlast, die schleichende Digitalisierung und politische Unsicherheit.
Erste Vorstöße zum Abbau von wirtschaftlichen Hindernissen gibt es: Lindners Wachstumschancengesetz mit Entlastungen von rund sieben Milliarden Euro, derzeit blockiert von der CDU, die dafür die Rücknahme der auslaufenden Agrardiesel-Subvention für die Landwirte fordert; Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hatte nach Konsultationen mit Wirtschaftsvertretern 80 Regelungen abgeschafft. Weitere würden geprüft. Priorität hat dabei das schnellere und unbürokratischere Vergabeverfahren für öffentliche Aufträge. Laut Justizminister Marco Buschmann (FDP) geht das aber nicht schnell genug. Ein Referentenentwurf für ein sogenanntes Viertes Bürokratieentlastungsgesetz seitens des Bundesjustizministeriums liegt bereits vor. Darin geht es um eine verkürzte Aufbewahrungspflicht für Buchungsbelege, wegfallende Hotelmeldepflichten für deutsche Staatsangehörige und stärkere digitale Verwaltung, etwa digitale Flugtickets. Kein gewaltiger Wurf, allenfalls kleine Stellschrauben.
Und auch keine, die die verarbeitende Industrie oder die energieintensive Industrie interessieren könnten. Nach Angaben von Destatis sinkt die deutsche Produktion in beiden Industriezweigen, die der energieintensiven Betriebe sogar auf ein 28-Jahres-Tief. Zwar sinken die Gaspreise kontinuierlich weiter. Der höhere CO2-Preis, der auf 19 Prozent erhöhte, also wieder übliche, Steuersatz und höhere Netzentgelte der Betreiber schlagen dennoch zu Buche. An dieser Stelle kein Silberstreif am Horizont. Der Druck auf die Ampel bleibt also bestehen, trotz des notwendigen ökologischen Umbaus der Wirtschaft, trotz Schuldenbremse, trotz des Krieges die Quadratur des Kreises zu ermöglichen.
Wie, darüber sind sich Wirtschaftsministerium und Finanzministerium uneins: Robert Habeck schlug ein Sondervermögen vor, effektiv also Schulden, bei gleichzeitigen Steuervergünstigungen und Abschreibungsmöglichkeiten, während Lindner Steuererleichterungen anstrebt. Der Kanzler indessen scheint dem Wachstumschancengesetz, das derzeit dem Vermittlungsausschuss vorliegt, eine Chance geben zu wollen. Ob mehr politisch machbar ist, muss sich zeigen – beispielsweise beim anstehenden Spitzengespräch der deutschen Wirtschaft mit dem Kanzler in München. Und auch dort wird es mahnende Worte in Richtung der Politik geben.