Kitas leiden unter Personalmangel bei gleichzeitig höheren Anforderungen. Die Beitragsfreistellung im Saarland entlastet Familien und Kommunen, jedoch nicht die Fachkräfte vor Ort.
Gute Nachrichten für die Eltern: Ab 2027 sind die saarländischen Kindertagesstätten komplett beitragsfrei, bis dahin wird der Kitabeitrag Jahr für Jahr weiter abgesenkt. Eine tolle Entlastung für die Eltern, ist sich die Landesregierung sicher. Ausgangspunkt der Beitragssenkung ist das sogenannte „Gute Kita-Gesetz“. Es soll in einer ganzen Reihe von Bundesländern, darunter im Saarland, die Bedingungen für Kitas verbessern. Im Saarland stehen dafür nach Ministeriumsangaben rund 93 Millionen Euro zur Verfügung. Das Land investiert mithilfe des Bundes. 2021 seien 105 Millionen in die Refinanzierung von Fachkräften geflossen, 20 Millionen in den Ausbau und die Sicherung von Kitaplätzen. 112,6 Millionen Euro kostet insgesamt die Absenkung des Kitabeitrages der Erziehungsberechtigten in den Jahren 2023 bis 2027.
„Das ist reine Verblendung“, findet Sabine Yöndel. Sie leitet die Kita Eschberg, die in städtischer Trägerschaft 83 Kinder betreut. Eine Gruppe ist gerade draußen vor dem Gebäude, sät ein paar Pflanzen ein, eine Krippengruppe hat sich in einem ruhigen Raum um einen kleinen Snack versammelt. Zwei andere Gruppen spielen draußen oder betrachten fasziniert, wie Kindergärtner Marian mit ihnen zusammen Holz bearbeitet. Das vordringliche Problem ist für Sabine Yöndel nicht, dass die Kita für alle Eltern nichts kosten darf. „Das ist zwar schön, denn der Schulbesuch ist ja auch kostenlos. Aber unser Problem ist ein anderes. Wir verwalten einen Notstand. Damit wird es eben ein für die Eltern kostenfreier Notstand.“
Klar ist jedoch auch: Durch den Wegfall der Kitagebühren müssen die Kommunen auch nicht mehr für einkommensschwache Familien finanziell einspringen. Das Land rechnet mit kommunalen Einsparungen von 13 Millionen Euro – Geld, das für neue Kitaplätze aufgewendet werden könnte.
Drängendes Problem aber vor Ort: Die Fachkräfte fehlen, die rechtlich verankerten Betreuungszahlen passen nicht mehr zur Realität. Der vom Land festgelegte Personalschlüssel liegt bei Krippen bei 1 zu 3,6 (Fachkraft zu Kinder) und bei Kindertagesstätten bei 1 zu 9,6; für eine gute Betreuung und Bildung der Kinder seien Fachkraft-Kind-Relationen von 1 zu 3 (Krippe) und 1 zu 7,5 (Kitas) erforderlich, sagen jedenfalls die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) und die Bertelsmann Stiftung.
Der Grund, warum der Schlüssel aus Sicht der Kitas dringend gesetzlich verkleinert werden müsste, sind die vielfältigen Aufgaben, die diese Einrichtungen heute zusätzlich bewältigen sollen. „Ich bin in den 70er-Jahren in den Kindergarten gegangen“, erinnert sich Yöndel, „mittags zum Mittagessen wieder nach Hause und nachmittags zum Spielen zurück. Heute sind die Anforderungen so viel höher an eine Kindertagesstätte. Der Personalschlüssel ist aber der gleiche, der in den 70er-Jahren angelegt wurde. Obwohl wir immer wieder sagen, dass dies unbedingt geändert werden muss, ist bis heute nichts passiert.“
Begrüßen, verköstigen, wickeln oder zur Toilette bringen, spielen – zu Yöndels Zeiten im Kindergarten waren diese reine Betreuungseinrichtungen. Heute sollen sie auch bilden. Vor den Gruppenräumen steht eine Tafel. „Die Kinder schreiben hier jeden Morgen Tag, Uhrzeit und manchmal das Wetter und die Jahreszeit auf“, erklärt die Kita-Leiterin. Es gibt ein Humboldt-Zimmer, in dem die Kinder auf geografische Entdeckungsreise gehen können, draußen einen Garten und einen Teich, Modelle des menschlichen Körpers und vieles mehr. Gleichzeitig braucht es Zeit für Entwicklungsgespräche mit den Eltern, Telefonate mit Ärzten und das Akquirieren von Partnern, die für eine Stunde vorbeikommen und beispielsweise zeigen, wie Holz bearbeitet wird.
Bildung ist heute, neben der Betreuung, wichtigste Aufgabe der Kitas. Es gehe darum, die Kinder „neugierig auf die Welt zu machen“, sagt Sabine Yöndel. Gleichzeitig sollen die Fachkräfte Praktikanten und Azubis ausbilden. Um alle drei Aufgaben zu gewährleisten, reichen die Kräfte manchmal nicht aus.
Zu wenig Plätze, zu wenig Fachkräfte
„Du siehst ganz schön fertig aus“, sagen manchmal Eltern zu ihr. Als Kita-Leiterin springt sie ein, wo es nötig ist. „Im Dezember waren wir nur zu zweit in Notgruppen – die Nachwirkungen von Corona haben für eine hohe Ausfallquote gesorgt“, sagt sie. Wenn morgens Kräfte vor dem Frühstück ausfallen, hilft sie mit, 83 Brote im Turbomodus zu schmieren oder bringt die kleine Lea zur Toilette, wenn sonst niemand Zeit hat. Diese Zeit fehlt ihr dann woanders: Zu wenig Fachkräfte, das bedeute für eine Kita auch weniger Zeit für die Vor- und Nachbereitung von pädagogischen Arbeiten, das Anleiten von Azubis und Praktikanten, Gespräche, Eingewöhnungszeiten. Die Fachkräfte leiden an Überlastung, brennen aus. Der Krankenstand steigt, damit fehlt wieder Personal.
Ein gesetzlich verkleinerter Personalschlüssel löst also das Problem nicht vollends. Mehr Fachkräfte müssen her, die Attraktivität des Berufs muss steigen. Ein wenig Entlastung kommt da seitens der Hochschulen und einem verbreiterten schulischen Angebot für angehende Kita-Kräfte. Die praxisintegrierte Ausbildung (PIA) – sprich, Hochschulstudium der Pädagogik und gleichzeitiges Arbeiten in einer Kita – findet laut Hochschule für Technik und Wirtschaft im Saarland Interesse. Auch am Eschberg arbeiten zwei PIA-Kräfte. „Eine super Idee“, sagt Sabine Yöndel. „Wenn die Studierenden dabei noch Geld verdienen, fördert das die Attraktivität.“ Ob die gut ausgebildeten Studentinnen und Studenten jedoch in einer Kita arbeiten, bleibt abzuwarten – für viele dürfte dies nur ein Sprungbrett werden.
Klar ist: Legt man den von der Gewerkschaft geforderten Personalschlüssel im Saarland an die Zahl fehlender Kitaplätze an, fehlen bis 2030 4.400 Fachkräfte in den Kindertagesstätten im Saarland. Gleichzeitig geht der Jahrgang der Babyboomer der Erziehungskräfte in Rente. Auch so manche angehende Fachkraft benötigt einen Kindergartenplatz, findet aber keinen. Also kann sie, und diese Erfahrung hat Sabine Yöndel schon gemacht, ihre Ausbildung nicht beenden, weil sie auf ihr Kind aufpasst. Die Plätze sind nicht vorhanden, weil die vorhandenen Kitas aus allen Nähten platzen und für mehr Kitaplätze kein Fachpersonal vorhanden ist.
Laut Bildungsministerium werden 2023 600 Kitakräfte fertig ausgebildet sein, zusätzlich 160 Kinderpflegekräfte. „Die Zahl hört sich gut an, aber es kommt nun darauf an, ob sie alle in die Kitas gehen. Es gibt ja auch die Möglichkeit, dass sie zu anderen sozialen Einrichtungen wechseln: in die Reha, Lebenshilfe, Wohngruppen, SOS-Kinderdorf, Schulen und so weiter. Es stehen also nicht plötzlich 600 neue Kräfte für die Kitas im Land zur Verfügung“, relativiert Sabine Yöndel.
Hinzu kommen fehlende Kitaplätze. Die Bertelsmann Stiftung hat Ende 2022 4.700 fehlende Plätze im Saarland diagnostiziert. Häufig kommt es aber auch auf die individuellen Angebote der Kitas an – einige schließen bereits um 14 Uhr, was vielen Erziehungsberechtigten aufgrund ihrer Berufstätigkeit viel zu früh ist.
Auf der Warteliste der Kita Eschberg stehen mittlerweile viele Eltern, die im Kern der Landeshauptstadt wohnen, weil sie in der Nähe keinen freien Kitaplatz mehr finden. Hilfreich dabei, findet die Leiterin der Kita Eschberg, sei der Kita-Planer des Regionalverbandes, der den Eltern per Internet beim Suchen eines freien Platzes helfen soll. „Er hilft auch uns, eine gewisse Sicherheit bei der Planung zu bekommen. Den Eltern können wir also klarer eine Antwort geben, ob und wann sie Chancen auf einen Platz haben.“
Eine Rolle bei den Chancen auf einen Kita- oder Krippenplatz in der Nähe spielt auch der demografische Wandel von Stadtbezirken wie dem Eschberg. Dieser galt lange als Bezirk mit der ältesten Bevölkerung. Dies wandelt sich gerade. Viele junge Familien ziehen her. Knapp die Hälfte der 7.000 Einwohner am Eschberg sind derzeit zwischen 18 und 59 Jahre alt, etwa zehn Prozent jünger als 18 Jahre, belegen Zahlen der Landeshauptstadt aus dem Jahr 2021. Die Chance auf einen Kitaplatz am Eschberg für Eltern außerhalb des Stadtteils sinkt also tendenziell.
Betreuung und Bildung am Tag splitten
Um die personellen und damit zeitlichen Probleme innerhalb der Kitas zu lösen, hat nun der Verband für Kita-Fachkräfte Saar einen Vorschlag zur Trennung von Bildungs- und Betreuungszeit auf den Tisch gelegt. Dieser sieht vor, dass die Randzeiten, etwa von sieben bis acht Uhr und von 15 bis 17 Uhr Betreuungszeiten sind. Von acht bis 15 Uhr findet Bildungszeit statt. „Beim Modell B&B liegt die Verfügungszeit der pädagogischen Fachkräfte außerhalb der Bildungszeit und kann dadurch gesichert ausgeführt werden. Dies ist zwingend notwendig, um eine qualifizierte Bildungsarbeit, einen kollegialen Fachdiskurs und eine enge Zusammenarbeit mit den Erziehungsberechtigten zu gewährleisten“, schreibt Susanne Schwarz-Uff, zweite Vorsitzende des Verbandes, in einem Beitrag der Arbeitskammer. Bildungsministerin Christine Streichert-Clivot hat signalisiert, dass die rechtliche Grundlage für einen Test dieses Systems durchaus vorhanden sei.
„Ich halte dies für einen sinnvollen Vorschlag“, sagt Kita-Leiterin Yöndel. „Zumindest um die nächsten Jahre zu überbrücken, bis die Probleme, die wir jetzt haben, ausgebügelt sind.“ Es sei kein Wunschprogramm, man brauche im Grunde Pädagogen von morgens sieben bis nachmittags um 17 Uhr. „Deshalb sollten wir dieses Ziel, den Personalschlüssel und die Ausbildungskapazitäten, nicht für die Trennung von Bildungs- und Betreuungszeit aus den Augen verlieren.“
Jetzt, gegen Mittag, hat Sabine Yöndel keine Zeit mehr für ein Gespräch. Die Gruppe draußen, 21 Kinder stark, ist zurück, zieht Jacken und Schuhe aus, will beschäftigt werden. Von jener Diskussion darüber, ob Kitas künftig als Bildungseinrichtungen stärker im Fokus stehen sollen, bekommen sie in ihrer Unbeschwertheit noch nichts mit. Und das sollte so bleiben.