Die Neuinterpretation von Desserts im Spitzenrestaurant „Coda“ ist ein Augen- und Gaumenschmaus. Erneut wurde die Neuköllner Location 2023 mit zwei Michelin-Sternen ausgezeichnet.

Der Hang zum Süßen ist mitunter evolutionär bedingt. Für unsere Vorfahren war es lebenswichtig, etwa essbare Blaubeeren von giftigen Tollkirschen schnell unterscheiden zu können. Süße Speisen galten als Orientierungshilfe dafür, dass das Essen ungefährlich und gleichzeitig ein guter Energielieferant war. Schließlich war kalorienreiche Nahrung eher selten. Zudem wird beim Genuss von Süßem das Belohnungszentrum des Gehirns aktiviert – der Botenstoff Dopamin wird ausgeschüttet.
Ein Fine-Dining-Restaurant, das sich von Desserts hat inspirieren lassen, ist eher einzigartig hierzulande. Das „Coda“ in Berlin-Neukölln wurde mit diesem Konzept im vergangenen Jahr erneut mit zwei Michelin-Sternen ausgezeichnet. Grund genug für mich, neugierig zu werden. Kaum gedacht und ausgesprochen, habe ich ad hoc auch gleich zwei Interessentinnen unabhängig voneinander, die mit mir unbedingt dorthin wollen. Am Ende musste eine der beiden terminbedingt – und schweren Herzens – absagen. So waren wir nur zu zweit dort. Das Kind, das längst keines mehr ist, und ich.
Unser Fine-Dining-Juwel liegt unweit des Hermannplatzes etwas versteckt an der Friedelstraße. Die kleine Seitenstraße wirkt etwas trist an diesem Wintertag, und viele Häuserwände sind mit etlichen, ungezähmten Graffiti-Parolen besprüht. Wirklich einladend sieht anders aus.
Wir kommen an der Nummer 47 an. Zugezogene Vorhänge und die Klingel am Eingang geben der Location etwas Geheimnisvolles. Ein sanfter Druck auf den Klingelknopf, dann öffnet man uns. Wir werden freundlich begrüßt, man nimmt uns unsere schweren Wintermäntel ab. Schon befinden wir uns in einem kleinen Gastraum, der wie ein stylisches Designer-Wohnzimmer wirkt. Die Farben Schwarz, Anthrazit und Grau dominieren, und ein Hauch Mitternachtscharme umhüllt uns.
Gesüßt wird nicht mit Industriezucker

Wir sind absorbiert in einem eher dunklen Raum mit dezenter Beleuchtung. Über den Tischen hängen schmale Leuchten, die genau auf die Mitte der Tische zielen. Die ganze Aufmerksamkeit soll den kulinarischen Stars des Abends gewidmet sein, so das erklärte Konzept. Zwölf Gänge warten heute auf uns. Meine Begleiterin und ich lassen uns am Tresen nieder, von dem wir direkte Einblicke in die offene Küche erhalten. Dort schnippeln, pürieren und flambieren sechs emsige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bereits ausgeklügelte Köstlichkeiten, während uns Küchenchefin Julia Anna Leitner begrüßt.
Meine Befürchtung, aufgrund von zwölf Gängen einen Zuckerschock zu erleiden, hat die zugewanderte Österreicherin mir schon im Vorgespräch genommen. „Es soll ja noch bekömmlich sein“, versichert sie. Außerdem werde im „Coda“ kein industriell verarbeiteter Zucker verwendet. Gesüßt wird stattdessen etwa mit Honig, Apfeldicksaft und Fruchtsaftreduktionen. Julia Anna Leitner absolvierte bereits als 15-Jährige im heimatlichen Linz eine Ausbildung als Konditorin. Danach machte sie gastronomische Stationen im „Romantik Hotel Krone“ in Lech am Arlberg und arbeitete beim Vier-Hauben-Koch Simon Taxacher. Bereits als 23-Jährige wurde sie vom Fachmagazin „Rolling Pin“ mit dem „Leaders of the Year“-Award als „Patissier des Jahres 2014“ ausgezeichnet. Doch die weltoffene Konditorin wollte mehr.
So zog die Österreicherin nach London, wo sie im Sternerestaurant „The Clove Club“ arbeitete. 2016 schließlich holte René Frank die heute 32-Jährige mit ins Boot. Der gebürtige Allgäuer zählt zu den bekanntesten Patissiers weltweit, arbeitete in der Schweiz, in Frankreich und in Japan. Er war Chef Patissier im legendären Drei-Sterne-Restaurant „La Vie“, bevor er mit seinem Kompagnon Oliver Bischoff 2016 das „Coda“ gründete. Deutschlands erste Dessert-Bar sprach sich rasend schnell herum. Noch im selben Jahr wurde die Location mit dem „Rolling Pin“-Award als bestes Gastro-Konzept des Jahres ausgezeichnet. 2019 wurden die Kochkünste des Teams um René Frank und Julia Anna Leitner mit dem ersten Michelin-Stern prämiert. Ein Jahr später folgte der zweite Stern. Zudem wurde der Wahl-Berliner im Jahr 2022 vom „Restaurant Magazine“ in der Liste mit „The World’s 50 Best Restaurants“ zum „Best Pastry Chef“ weltweit gekürt.

Angefangen mit ursprünglich nur wenigen Speisefolgen, gibt es im „Coda“ mittlerweile ganze 15 Gänge. Die dekonstruierten Desserts sind kulinarische Kunstwerke zwischen süß und herzhaft, die behutsam erobert werden wollen. Im Gespräch erzählt René Frank, dass er sich für seine Speisen gern auch von den Küchen anderer Kulturen inspirieren lässt. Am Telefon erzählt er von erstaunlichen Süßspeisen wie dem türkischen Tavuk Göğsü aus Milchreis und Hühnerfleisch. Oder von einem philippinischen Schokoladen-Porrigde namens Champorado with Tuyo, das mit gesalzenem, getrocknetem Fisch gereicht wird. „Inspirieren, das heißt nicht kopieren“, betont der Maestro.

Bereits unsere Amuse-Gueule stimmt uns auf die Coda’sche Neuinterpretation klassischer Süßspeisen ein. Der Gummibär entpuppt sich als eine süß-säuerliche Kreation, hergestellt aus einer Saftreduktion von Gelber Beete und Ahornzucker, gefolgt von einer warmen Kugel Beef Cake. Der Teig des Küchleins basiert auf Süßkartoffeln und Mandeln. Ich wähle das Original, das mit Rindermark verfeinert wurde. Unterdessen nimmt die begleitende Tochter mit der vegetarischen Variante mit Kokosnussöl vorlieb. Beide Köstlichkeitskugeln betören uns durch ihren mandeligen, nur sehr dezent süßen Geschmack.
Beinahe trüffelige Aromen treffen auf unsere Gaumen bei den warmen Brioches mit Gouda-Füllung, die wie kleine Donuts auf unseren Tellern liegen. On top verziert die Küchenchefin das Ganze noch flink mit einer karamellisierten Steckrübensoße. Das wellenförmige Fine-Tuning passt optisch wie auch gustatorisch perfekt zu dem luftigen Backwerk. Für absolute Begeisterung bei uns beiden sorgt dann die fruchtig-süß-säuerliche Kreation aus gelbemTomateneis und – Pavlova-Fans aufgepasst! – einer Merengue aus Kichererbsen statt Ei.
Gekonntes Spiel mit einem Twist
Danach geht es weiter mit der Buttercreme, einer ihrer Favoriten, wie uns die Küchenchefin Julia Anna Leitner verrät. Schon von dem Gummibär wissen wir mittlerweile, dass unter der Riege des einfallsreichen Küchen-Duos niemals genau das in den Gänge enthalten ist, was auf der Speisekarte steht. Gekonnt spielen die Küchenchefin und der Patron mit Erwartungen, die nicht erfüllt, stattdessen aber mit überraschenden Twists getoppt werden. Was kann schon seidiger sein als ein Stück Buttercremetorte?

Im „Coda“ hat sie die klassische Torte in ein rundes Pralinee mit allen Geschmacksrichtungen verwandelt. Der Biskuitteig besteht aus Walnussmehl, Maisstärke und Buchweizen. Die fruchtig schmelzende Creme besteht aus Miso-Butter und eingeweckten Zwetschgen. Ganz oben thronen knusprig frittierte Flocken aus Dulse-Algen. Sie geben dem Petit Four eine leicht salzige Note, die fast ein wenig rauchig schmeckt.
Das Wechselspiel mit Texturen, Temperaturen und Geschmacksrichtungen begegnet mir dann auch beim Caviar Popsicle. Die Kreation, die wie ein Eis am Stiel aussieht, entpuppt sich als vanilliges Topinambur-Eis mit Pekannuss, ummantelt mit knackigen Kaviarkügelchen. Gleichwohl überraschend und umami ist auch die aus Maismehl gebackene, fluffig leichte Raclette-Waffel an Kimchi-Pulver und Joghurt. Erstaunlich ist auch die Petersilienwurzel an fermentiertem schwarzen Knoblauch, karamellisierten Pistazien sowie einem Petersiliensud mit Limette und Traubenkernöl. Ein Traum, der uns noch lange in Erinnerung bleiben wird.
Zwischen den Gängen werden wir mit einem ausgeklügelten Wine-Flight begleitet, dessen Gläschen uns sanft von Gang zu Gang geleiten. Meist – aber nicht immer – ist Wein dabei. Einmal ist mit einem Junmai Ginjo von Kaneman ein Sake aus rotem Reis mit von der Partie. Ein anderes Mal werden wir von einer absolut passenden Berliner Weiße überrascht.
Am Ende unserer kulinarischen Reise über den Abend hinweg erwarten uns noch ein paar Schokoladengänge zum Ausklang. Auch hier wird nichts dem Zufall überlassen. Die noch ungerösteten Kakaobohnen kommen direkt von der ecuadorianischen Kleinbauern-Kooperative Arriba Nacional. Sie werden tagelang in der hauseigenen Steinwalze gemahlen, bis die Schokoladencreme die passende Konsistenz hat.
Cacao & Crispy wiederum ist eine wolkig feine Mousse aus hundertprozentiger Schokoladenpaste an eingeweckten Kirschen, gebettet auf einer Creme aus Mandelmilch und Kirschkernen. Gekrönt wird die schillernde Kugel von einer knusprigen Schleife aus Sojamilch. Der Hauch von Nichts schmeckt absolut köstlich. „Coda“, so erklärt uns die Küchenchefin noch abschließend, sei der ausklingende Teil eines Musikstücks. Wie passend, denke ich. Besser kann man einen perfekt komponierten, kulinarischen Abend nicht auf den Punkt bringen.