Kevin Vogt ist als Abwehrchef eine Bank bei Union Berlin. Gegen Borussia Dortmund glänzt er auch als Torschütze. Aufgrund seiner Vita ist das keine große Überraschung.
Die Zahl von 275 Spielen, die zwischen seinen beiden letzten Toren in der Fußball-Bundesliga lagen, schockte Kevin Vogt nicht. Aber als er die Zeit hörte, staunte der Abwehrchef von Union Berlin schon. „Die zehn Jahre haben mich gerade irritiert“, sagte Vogt, als er im Sky-Interview darauf angesprochen wurde. Am 18. Oktober 2014 hatte er im Trikot des 1. FC Köln ein Tor geschossen –
gegen Borussia Dortmund. Und wie es der Zufall so will, klappte es fast genau ein Jahrzehnt später gegen denselben Gegner erneut mit einem Treffer für den Innenverteidiger. Und das nicht irgendwie, sondern mit der Präzision eines Topstürmers. Den Elfmeter zur 1:0-Führung hätte auch kein Harry Kane, kein Kylian Mbappé und kein Lionel Messi besser verwandeln können. Scharf, ins obere rechte Eck, unhaltbar für BVB-Torhüter Gregor Kobel. „Der war gut geschossen, und deswegen kann ihn auch ein guter Gregor Kobel nicht halten“, sagte Vogt trocken.
Offensivflaute als großes Thema
Aber warum durfte überhaupt er als Defensivakteur nach dem Foul von Nico Schlotterbeck an Benedict Hollerbach vom Punkt antreten? Die Stürmer strotzten nicht gerade vor Selbstvertrauen, die Offensivflaute war ein großes Thema. Doch es gab noch einen anderen Grund. „Im Training haben wir oft Elfmeter geschossen und irgendwie waren die Jungs mit mir zufrieden“, erklärte Vogt. „Als der Pfiff kam, habe ich sechs, sieben Gesichter auf mich gerichtet gesehen. Da wusste ich: Alles klar, komm, dann nehme ich ihn und mache ihn rein.“ Mit diesem Selbstverständnis erzielte der 33-Jährige das so wichtige 1:0 gegen den BVB und hinten verteidigte er gegen die hochgelobte Dortmunder Offensive bärenstark und organisierte den Abwehrverbund meisterlich. Bei seiner Auswechslung nach einer Stunde stand es 2:0, zwei Minuten später fing sich Union einen Gegentreffer durch den Ex-Unioner Julian Ryerson. „Am Ende haben wir dem Druck standgehalten und nicht ganz unverdient gewonnen“, sagte Vogt über den 2:1-Überraschungscoup gegen die Dortmunder, die in der Champions League vier Tage zuvor beim 7:1 gegen Celtic Glasgow brilliert und dort die Tabellenführung übernommen hatten.
In der Bundesligatabelle musste der BVB aber unter anderem Union an sich vorbeiziehen lassen. Die Eisernen weisen nach sechs Spielen elf Punkte auf – eine beachtliche Startbilanz. Die zweiwöchige Pause wegen der Länderspiele der Nationalmannschaften lässt sich so sehr entspannt verbringen, ehe es am 20. Oktober mit einem Auswärtsspiel bei Holstein Kiel weitergeht. Der Aufsteiger ist Tabellenvorletzter und weiterhin sieglos, doch das jüngste 2:2 nach einem 0:2-Rückstand bei Meister Bayer Leverkusen sollte Union eine Warnung sein. Doch in Berlin-Köpenick hat die katastrophale Vorsaison mit dem Beinahe-Abstieg Demut gelehrt, ohne dass man sich dort kleiner machen will, als man ist. „Wir bleiben weiter richtig ehrgeizig“, sagte Club-Präsident Dirk Zingler bei der jüngsten Mitgliederversammlung: „Wir wollen besser werden.“
Gegen Borussia Dortmund sah man das auch eindrucksvoll auf dem Platz. „Die Jungs haben sich für die Leistung belohnt. Es gibt niemanden, der es heute nicht gut gemacht hat“, sagte Trainer Bo Svensson. Für seinen Abwehrspieler Vogt traf das besonders zu. Das Elfmetertor „bedeutet ihm sehr viel“, berichtete Svensson. Dass er seinen Führungsspieler nach 60 Minuten auswechselte, war einzig der frühen Gelben Karte nach einer Viertelstunde geschuldet. „Es war eine Vorsichtsmaßnahme und war total in Ordnung“, sagte Vogt, „die anderen Jungs werfen sich genauso rein“. So wie er selbst zuvor in etlichen Zweikämpfen gegen Dortmunds Sturm-Bulle Serhou Guirassy. „Ich habe ein Privatduell mit Serhou gehabt, wir beide haben auch gelacht“, berichtete Vogt: „Es war gut, es war aufreibend. Jetzt sind wir wieder gut miteinander.“ Vogt kennt Guirassy noch aus gemeinsamen Zeiten beim 1. FC Köln, „er hat sich fantastisch entwickelt“.
Die Mannschaft ist auf einem guten Weg
Vogt kennt ohnehin eine Menge aktuelle Spieler und Ex-Profis persönlich. Das liegt auch daran, dass er inklusive Union Berlin bereits bei sechs Bundesligaclubs angestellt war. Vor seinem Wechsel nach Köpenick lief er auch für Hoffenheim, Bremen, Köln, Augsburg und Bochum auf. Nur zwei Profis haben einen Bundesliga-Club mehr in ihrer Vita vorzuweisen: Sebastian Polter und Michael Spies. Polter ist aktuell beim Zweitligisten SV Darmstadt unter Vertrag, Spies ist nicht mehr aktiv. Diesen Rekord könnte Vogt also noch einstellen – doch er fühlt sich bei Union pudelwohl und denkt überhaupt nicht an einen erneuten Vereinswechsel. Das liegt nicht nur daran, dass er sich nach seinem Wechsel im vergangenen Januar auf Anhieb einen Stammplatz erkämpfte und dafür den langjährigen Abwehrchef Robin Knoche auf die Bank verdrängte. Sondern auch am aufregenden Leben in der Hauptstadt. „Wir sind als Familie hier für alles offen. Wir kennen das Großstadtleben bereits – und wir mögen es auch. Deswegen haben wir uns bewusst für die Stadt und den Club entschieden“, sagte Vogt. In Berlin sei vieles „anonym“ – aber die Union-Fans outen sich sehr gern. „Die Eisernen sind überall in Berlin“, berichtete Vogt und fügte hinzu: „Aber das auf einem sehr angenehmen Weg.“
Auf einem guten Weg ist auch die Profimannschaft von Union, die unter Trainer Svensson wieder zur Stabilität und Geschlossenheit zurückgefunden hat, mit der sie über die Jahre zur Champions-League-Mannschaft aufgestiegen war. Das Spiel gegen Dortmund war dafür ein Paradebeispiel. „Unsere Einstellung, wie wir in das Spiel reingegangen sind, war maßgeblich entscheidend“, sagte Vogt. „Wir haben ohne Furcht gespielt, wir waren mutig, wir haben gelitten.“ Dortmund verfüge fußballerisch über „eine sehr gute Truppe“, sagte er, „aber was sie nicht mögen, ist, wenn man mit richtig viel Intensität und Leidenschaft in die Zweikämpfe geht. Ich glaube, das haben wir sehr gut umgesetzt.“
Dass er selbst gegen Dortmund als Verteidiger und Torschütze brilliert, scheint fast schon kein Zufall gewesen zu sein. Zwei seiner insgesamt vier Bundesligatore in 341 Spielen hat er gegen diesen Club erzielt, doch da ist noch mehr: Sowohl in der B-Jugend, der Regionalliga als auch in der Bundesliga debütierte der gebürtige Ruhrpottler gegen den BVB. „Ich spiele schon gerne gegen Dortmund, muss ich sagen“, gab Vogt einmal zu: „Individuell sind sie immer gut, lassen aber auch was zu. Man hat immer seine Chancen. Das ist eine gute Mischung.“
Von Dortmunds fast schon chronischer Defensivschwäche profitierten diesmal auch Unions zuletzt viel gescholtene Stürmer. Hollerbach holte den Elfmeter zur Führung heraus, Yorbe Vertessen durfte sich beim zwischenzeitlichen 2:0 über sein erstes Saisontor freuen. Svenssons Taktik, ohne klassischen Mittelstürmer aufzulaufen und stattdessen auf die wenigen und lauffreudigen Vertessen, Hollerbach und Woo-yeong Jeong zu setzen, ging auf. „Ich bin sehr stolz auf meine Mannschaft“, sagte der Däne. Sie habe ihre Lehren aus dem 0:1 bei Borussia Mönchengladbach in der Woche zuvor gezogen. „Dass sie das alles nach der Enttäuschung in Gladbach so umgesetzt hat, das freut mich sehr.“