Schweizer Forscher haben ein Gel entwickelt, mit dessen Hilfe Alkohol schon im Magen-Darm-Trakt abgebaut werden kann. Das Zellgift gelangt nicht in den Blutkreislauf und löst auch keinen Rausch aus. Die Freisetzung des gesundheitsschädlichen Acetaldehyds wird vermieden.
Laut der Weltgesundheitsorganisation WHO sterben jährlich rund drei Millionen Menschen infolge von übermäßigen Alkoholkonsums. Selbst geringe Mengen des Zellgiftes können kurzfristig die Konzentrations- und Reaktionsfähigkeit beeinträchtigen und daher im Autoverkehr das Unfallrisiko erheblich erhöhen. Angaben des Statistischen Bundesamts zufolge war hierzulande zuletzt bei gut fünf Prozent aller Unfälle mit Personenschaden Alkohol im Spiel. Die Entwicklung wirksamer Gegenmittel zur Verringerung der globalen Gesundheitsauswirkungen, die auf regelmäßigen Konsum von Alkohol zurückgeführt werden können, als auch eine Reduzierung der durch den Genuss alkoholischer Getränke verursachten Todesfälle im Straßenverkehr, sind daher ein überaus herausforderndes Thema für die Wissenschaft.
Neue Hoffnung für Alkoholkranke?
Insbesondere gilt es, möglichst wirksam Schädigungen der Leber von Leberzirrhose bis hin zu Leberkrebs zu vermeiden und auch die Mitleidenschaft anderer Organe wie Milz oder Darm durch Alkoholmissbrauch einzudämmen. Alkohol gelangt größtenteils über die Magenschleimhaut und den Darm ins Blut. Über den Blutkreislauf wird er anschließend zur Leber transportiert. Dort kommt es mit Hilfe von Enzymen zum gesundheitlich fatalen Abbau des Ethanols. Daraus entsteht das giftige Zwischenprodukt Acetaldehyd, das die Leber bei dauerhaftem Alkoholmissbrauch schädigenden kann und auch für den „Kater“ am folgenden Morgen verantwortlich ist. Bislang gibt es kaum zufriedenstellende Lösungen, um die Bildung dieses natürlichen Stoffes, der auch als Ethanal bekannt ist, zu vermeiden.
Doch dank einer neuen Forschungsarbeit der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich unter Leitung von Raffaele Mezzenga, Professor für Lebensmittel und weiche Materialien, sowie seiner Kollegin Dr. Jiaqi Sun gibt es neue Hoffnung vor allem für alkoholkranke Menschen. Das Schweizer Team hat seine Studien über eine Innovation in Gestalt eines oral applizierbaren Protein-Gels, das Alkohol schnell und effizient bereits im Magen-Darm-Trakt, also vor Eintritt in den Blutkreislauf, in harmlose Essigsäure ohne berauschende oder gesundheitsschädigende Wirkung umwandeln könnte, jüngst im Fachmagazin „Nature Nanotechnology“ veröffentlicht. „Das Gel verlagert den Alkoholabbau von der Leber in den Verdauungstrakt“, so Prof. Mezzenga. „Im Gegensatz zum Alkoholstoffwechsel in der Leber entsteht dabei aber nicht das schädliche Zwischenprodukt Acetaldehyd.“
Bald klinische Studien in Aussicht
Wenn das Gel also vor oder während des Alkoholkonsums eingenommen wird, kann es den Alkohol im Magen direkt in harmlose Essigsäure umwandeln, ohne dass dabei Acetaldehyd gebildet werden kann. „Wenn der Alkohol jedoch bereits im Blut ist, ist es zu spät“, so Prof. Mezzenga.
Für die Herstellung des als Gerüst dienenden Gels verwendeten die Forscher gewöhnliche Molkenproteine. Dabei erwies sich vor allem das Beta-Lactoglobulin, das häufigste Molkenprotein in der Kuhmilch und ein bei der Käseherstellung anfallendes Nebenprodukt, als besonders geeignet. Dieses Protein wurde mehrere Stunden lang gekocht, wodurch es zur Ausbildung von langen, dünnen Fäden namens „Amyloidfibrillen“ gekommen war. Anschließend wurden Salz und Wasser als Lösungsmittel hinzugegeben, damit sich diese Fäden zu einem Gel vernetzen konnten. Der Vorteil eines Gels gegenüber anderen möglichen Verabreichungsformen besteht darin, dass es im Magen nur langsam verdaut wird. Doch das Gel allein kann den Alkohol nicht abbauen. Dafür bedurfte es der Zugabe mehrerer in das Gel-Gerüst eingefügte Katalysatoren. Als Hauptkatalysator wurden einzelne Eisenatome beigegeben, die gleichmäßig auf der Oberfläche der langen Proteinfasern verteilt wurden. „Wir tauchten die Fasern quasi in ein Eisenbad“, so Dr. Jiaqu Sun, die Erst-Autorin der Studie, „so dass sie wirksam mit dem Alkohol reagieren und ihn in Essigsäure verwandeln können.“ Um genau diese erwünschte Wirkung im Magen auslösen zu können, waren zusätzlich winzige Mengen an Wasserstoffperoxid nötig, die durch eine vorgelagerte Reaktion zwischen Glukose und Goldnanopartikeln gewonnen werden konnten.

Die Wissenschaftler entschieden sich für Gold als Katalysator für Wasserstoffperoxid, da dieses Edelmetall im Magen nicht verdaut wird und daher im Verdauungstrakt länger wirksam bleiben kann. Mit Hilfe der dem Gel beigefügten Substanzen Eisen, Glukose und Gold konnte eine mehrstufige Kaskade von enzymatischen Reaktionen ausgelöst werden, an deren Ende sich der Alkohol in Essigsäure umgewandelt hatte.
Die Wirksamkeit ihres speziellen Gelproteins überprüften die Forscher dann in Labor-Versuchen mit Mäusen. Dafür verwendeten sie zwei Versuchsanordnungen. Im ersten Versuch wurde die einmalige Vergabe von Alkohol an die Tiere getestet, wobei einer Gruppe das Gel verabreicht wurde, während die zweite Kontrollgruppe kein Gel appliziert bekam. Im zweiten Versuch wurde die regelmäßige Vergabe von Alkohol an eine Mäusegruppe über einen Zeitraum von zehn Tagen hinweg, mit oder ohne gleichzeitiger Verabreichung des Gels, getestet. Bei der erstgenannten Versuchsanordnung konnte durch die prophylaktische Anwendung des Gels der Alkoholpegel der Mäuse eine halbe Stunde nach der Alkoholverabreichung um 40 Prozent im Vergleich zur Kontrollgruppe ohne schützendes Gel gesenkt werden. Fünf Stunden nach der Alkoholaufnahme war der Blutalkoholspiegel der mit Gel versorgten Tiere im Vergleich zur Kontrollgruppe sogar um 56 Prozent gesunken. „Dabei sammelte sich bei diesen Mäusen“, so die ETH-Pressemitteilung, „das schädliche Acetaldehyd weniger an, und die Stressreaktionen der Leber wurden deutlich gemildert, was sich in besseren Blutwerten widerspiegelte.“ Bei den Tieren, die zehn Tage lang Alkohol erhalten hatten, konnten die Wissenschaftler neben einem niedrigeren Alkoholpegel eine anhaltende therapeutische Wirkung des Gels nachweisen. „Die Mäuse“, so die ETH-Info, „die zusätzlich zum Alkohol täglich das Gel bekamen, zeigten einen deutlich geringeren Gewichtsverlust, weniger Leberschäden und damit einen besseren Fettstoffwechsel in der Leber sowie bessere Blutwerte. Auch andere Organe wie die Milz oder der Darm sowie das Gewebe der Mäuse wiesen deutlich weniger durch Alkohol verursachte Schäden auf.“ Somit scheint das Gel selbst bei chronischem Alkoholkonsum eine gute Schutzwirkung entfalten zu können. „Wir haben in Tierversuchen nachgewiesen“, so Prof. Mezzenga, „dass die Verwendung unseres Gels in Kombination mit Alkohol Mäusen ein Verhalten verleiht, das dem von nüchternen Mäusen ähnelt. Wir erwarten daher auch, dass das Gel positive Auswirkungen auf die Linderung von Kater-Erscheinungen hat.“ Das ETH-Team hat bereits ein Patent für das Gel beantragt. Bevor es jedoch für Menschen zugelassen werden kann, müssen noch einige klinische Tests durchgeführt werden. „Wir planen, bald klinische Studien durchzuführen“, so Prof. Mezzenga.
Da die Forscher schon nachgewiesen haben, dass die Molkeproteinfasern, aus denen das Gel besteht, gefahrlos gegessen werden können, sind sie bezüglich einer baldigen Zulassung des Gels ziemlich zuversichtlich. Viel spricht dafür, dass durch Einsatz des Gels die gesundheitsschädigenden Auswirkungen von Alkohol reduziert werden können. Auch könnten die mit Alkohol in Verbindung stehenden Todesfälle womöglich deutlich minimiert werden. Laut Prof. Mezzenga könnte das vor oder während des Trinkens oral einzunehmende Gel zudem für all jene Menschen interessant sein, die einerseits nicht auf Alkohol verzichten, aber andererseits ihren Körper nicht mit den negativen Folgen des Alkoholkonsums belasten möchten, wofür sie sicherlich gerne bereit seien, auf die berauschende Wirkung des Alkohols zu verzichten. „So könnte man damit beispielsweise ein paar Gläser Alkohol trinken und trotzdem sicher mit dem Auto nach Hause fahren“, so die ETH-Forscher. Das Gel solle allerdings „keinesfalls zu erhöhtem Alkoholkonsum anregen“, so Prof. Mezzenga. „Es ist gesünder, gar keinen Alkohol zu trinken.“ Dennoch sei das Gel, das nur wirksam sein kann, so lange sich der Alkohol noch im Magen befindet, nicht aber bei Alkoholvergiftungen, wenn der Alkohol bereits ins Blut übergegangen ist, mehr als vielversprechend: „Wir haben eindeutige Beweise dafür, dass unsere Technologie die negativen Auswirkungen von Alkohol in allen Organen wie Leber, Darm und so weiter verringert.“