Nur anderthalb Stunden fährt man mit dem Zug von Paris nach Amiens. Ein verlängertes Wochenende inklusive einer Vélo-Exkursion entlang des Somme-Kanals ist ideal, um die Fluss-Stadt und ihr Umland bis zur Nordküste zu erkunden.
Kaum vorstellbar, dass während des Ersten Weltkriegs hier eine der dramatischsten Schlachten stattgefunden hat. Mehrfach für die Schiffbarkeit kanalisiert, fließt die Somme friedlich von Saint-Quentin 245 Kilometer bis zur Bucht von Somme, „wo sie sich ins Meer wirft“, wie es die Einwohner von Amiens beschreiben. Schroffer, felsiger und wilder als das Mittelmeer, aber durch den Klimawandel milder gestimmt, wähnt man sich am Ärmelkanal fast am Atlantik. „Samarobriva“ – „die Brücke über die Somme“ – nannten die ersten Siedler vom gallischen Stamm der „Ambianis“ ihre Stadt.
Schroffer und wilder als das Mittelmeer
Vor 700.000 Jahren formte die Eiszeit Amiens in zwölf Ebenen mit bis zu sechs Metern Höhenunterschied. Eine gelbe Blume hatte der Stadt zu ihrem blau-royalen Wohlstand verholfen. Das Färben von Textilien mit dem „Bleu d’Amiens“ brachte ihr bereits im 13. Jahrhundert großen wirtschaftlichen Aufschwung. „Isatis tinctoria“, auch Färberwaid, in Toulouse „Pastel des Tenturiers“ oder hier „La Guède“ genannt, wurde im Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert auf den Plateaus von Santerre angebaut und in etwa 65 Wassermühlen in den Vierteln Saint-Leu, Saint-Maurice und Saint-Pierre entlang der Wasserwege gemahlen und zu Blau oxidiert. Gleichzeitig wurden von den Mühlen die Wasserstände reguliert, um das Ackerland vor Überschwemmungen zu schützen. Etwa 70 Schiffe beförderten ihre Waren auf der Somme und den Nebenflüssen Selle und Avre.
Der Reichtum aus der Unterstadt floss nach oben: Auf Ebene Zwölf leistete sich die Stadt die größte Kathedrale Frankreichs – Notre Dame d’Amiens –, die sogar ihr schwesterliches Sakralgebäude in Paris in den Schatten stellt. Das im 13. Jahrhundert erbaute Wahrzeichen ist ein Meisterwerk gotischer Baukunst und gehört zum Unesco-Weltkulturerbe. Wie durch ein Wunder blieb das Gotteshaus in allen Kriegen verschont. Auf den einst vergoldeten Entrée-Rundbögen finden sich filigrane Steinmetz-Szenen mit verblassten Spuren von Blau. Die Abbildungen der Heiligen, Könige und Menschen der Epoche bewegen sich zwischen Tugend und Sünde, weltlichem Alltag und göttlicher Erhabenheit.
Im Inneren präsentieren sich Kunstschätze, Reliquien und ein Pilger-Labyrinth in reinem Tageslicht, das durch die farblosen puristischen Glasfenster scheint. In der original erhaltenen Rue de Metz, unterhalb der Kathedrale, kann man sich das Leben des Bürgertums im 18. Jahrhundert vorstellen. Unter den Hausnummern 2 bis 6 führen mittelalterliche Keller bis zu hundert Meter in die Tiefe.
Nach 1940 wurde das zu 70 Prozent zerstörte Amiens modernisiert. Zeitzeuge ist der alles überragende „360° Tour Perret“ der Architekturikone Auguste Perret. Der Panoramablick vom 19-stöckigen Wolkenkratzer, dem ersten Westeuropas, lässt sich leider nur erahnen. Lange Zeit ohne wirkliche Funktion, dient er heute ausschließlich als privat genutztes Wohn- und Bürogebäude. Der markante, 104 Meter hohe „Fingerzeig“ auf 18 Betonpfeilern am Place Alphonse Fiquet empfängt die Reisenden am Bahnhof mit einer „Lichtuhr“ in einem später angebauten Glaskubus. Er überragt die Hauptstadt der Picardie ebenso wie die Kathedrale, den Glockenturm Beffroi d’Amiens auf dem Rathaus und den Tour Gauchères als Teil der alten Stadtbefestigung.
Während in der Oberstadt und in zehn weiteren Kirchen gebetet wurde, spielte sich in der Unterstadt am Fluss der industrielle Alltag ab. Am Quai Bélu, ehemaliger Standort der Velours-Fabrikation, reihen sich erst seit wenigen Jahren Restaurants und Cafés. Er ist Treffpunkt für Studenten. Viele verwaiste Industriegebäude wurden nach der Wirtschaftskrise Ende der 60er-Jahre zu Universitätsgebäuden umgebaut. Wie ein Wächter steht der „Donneur de Somme“ mitten im Flussbett der Somme. Die übermannsgroße Skulptur von René de Saint-Marceaux wird von den Bewohnern der Stadt immer wieder neu bekleidet. Sein Blick fällt auf die wie mit der Schere geschnittene Stadtsilhouette mit den typischen „Maisons Amiénoise“ aus Back- und Kalkstein mit Schieferdächern. Viele haben rückwärtige Gärten. Das Stadtbild spiegelt die Nähe zur belgisch-flandrischen Grenze wider.
Auch der weltumtriebige Jules Verne nahm den Zug von Paris und kam auf der ersten Dampfeisenbahnstrecke. Vor 130 Jahren hat er sich in eine Amiénoise verliebt und sollte bis zu seinem Lebensende 35 Jahre lang dort verweilen. „Amiens ist brav, zivilisiert und ruhig, weit weg vom Trubel der Großstadt“, soll er bemerkt haben. 1882 mietete er das „Maison à la Tour“, eines der ältesten Palais der Stadt. Er baute es um zu einer mehrstöckigen Wohn- und Arbeits-Villa mit Pferdeställen und großem Garten. Er brauchte viel Platz, um all seine Werke und Sammlungen aufzubewahren. Heute Museum (amiens.fr/MaisondeJulesVerne), kann dort sein vor Kreativität überbordendes Lebenswerk bewundert werden. Verne lebte und arbeitete auch im „Cirque d’Amiens“, einer ehemaligen Zirkusarena, die heute als Kulturzentrum (www.cirquejulesverne.fr/) genutzt wird. Der JV-Aronnax-Parcours bietet mit seinen 18 Stationen beste Navigation, um wie bei einer Zeitreise durch Amiens Gassen, Parks und Uferpromenaden zu streifen.
Schwimmende Gärten im Zentrum
Amiens ist die viertgrünste Stadt Frankreichs. Naherholung bieten die acht Parkareale. Der zentral gelegene Parc Saint-Pierre vis-à-vis zur Kathedrale ist die urbane „Energietankstelle“ – mit weitläufigen Rasenflächen und altem Baumbestand. Aus der Vogelperspektive bietet Amiens die einzigartige Topografie eines blau-grünen Labyrinths. Mitten im Zentrum – in einem ehemaligen Sumpfgebiet – liegen die 300 Hektar großen Jardins Flottants. Die „Hortillonnages“ genannten schwimmenden Gärten sind durch ein Netz von Gräben, Brücken und unzähligen Kanälen auf einer Länge von circa 65 Kilometer miteinander verbunden. Wie verzweigte Adern fließen sie von Amiens zu den Städten Dury, Camon und Rivery.
Hätte es den Begriff „nachhaltige Stadtentwicklung“ im 12. Jahrhundert schon gegeben, die Aménois de l’Époque hätten einen Preis für innovative Stadtplanung erhalten. Im Mittelalter wusste man wohl schon viel über innovativen Gartenbau. Statt mit Maultieren konnten die lebensnotwendigen Güter nun per Schiff über die Somme und einen befestigten Flusszugang direkt ins Stadtzentrum transportiert werden. Im 16. Jahrhundert wurden 1.500 Hektar Land ohne Überschwemmungen und ohne Trockenfeldbau bewirtschaftet. Über 1.000 „Hortillons“ (Gemüsegärtner) versorgten die Stadtbevölkerung mit Gemüse, Kräutern und Blumen auf bis zu 2.000 Quadratmeter großen Einzelparzellen. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts verkauften sie ihre Produkte auf dem Wassermarkt. Mit Beginn der Industrialisierung wurde das Land kultiviert, verkauft und bebaut.
Heute sind nur noch etwa zehn Hortillons aktiv. Samstagmorgens stehen sie an der „Waterkant“ im Viertel Saint-Leu und auf dem Place Parmentier. Die Hortillonnage der Île Clermont mit ihren 800 Inselbiotopen, Nutz- und Ziergärten kann von April bis Oktober mit Elektrobooten – geführt oder individuell– erkundet werden. Am besten während des Internationalen Gartenfestivals. Die Fagots- und die Robinson-Inseln sind auch zu Fuß erreichbar. Baden ist leider nicht erlaubt.
An der Brücke zu den Fagots-Inseln, wo sich die Angler stoisch ihren Fisch für den Mittagstisch an den Haken wünschen, ist der Einstieg in den Radweg Véloroute de la Somme. In gut drei Stunden ist man ohne Zwischenstopp an der rund 70 Kilometer entfernten Baie de Somme. Das ist eigentlich gar keine Bucht, sondern die Flussmündung und eines der größten Feuchtgebiete Frankreichs. Wir radeln auf dem endlos scheinenden Canal de la Somme, der von Grün ummantelt ist, über Brücken und vorbei an Schleusen über Samara und Long und übernachten in Abbeville. Von hier aus ist es nur noch ein Katzensprung zum „Parc naturel régional Baie de Somme – Picardie maritime“.
Endlose Wasserflächen mit Salzwiesen
Vor 30 Jahren eröffnete der 3.000 Hektar große Naturpark neben den „Prés salés de la baie de Somme“ mit seinen friedlich weidenden Salzwiesenschafen. Es ist der Höhepunkt unserer Tour. Zahlreiche Wander- und Radwege führen durch die Marschlandschaft entlang der Küste. Die 7.200 Hektar endlose Sand- und Wasserflächen sind umgeben von Salzwiesen, Sümpfen, Dünen, Schilf und Gras.
Im Sand verbirgt sich ein Mikrorelief aus Muscheln, Krebsen und Meerespflanzen wie den essbaren Queller, Salicornes oder Strand-Astern. Im Frühjahr verwandeln sie die Bucht in einen violetten Blütenteppich. Wie eine Fata Morgana wirken die Hafenstädtchen Saint-Valery und Le Crotoy am Horizont. Hier sind die See- und Muschelfischer und Salzschafhüter zu Hause. Wie auf einer göttlichen Naturbühne spielt sich zweimal täglich das Schauspiel von Ebbe und Flut ab.
„Es ist wie das astronomische Ein- und Ausatmen der Natur. Kein Tag ist wie der andere, aber jede Minute zählt“, schwärmt und warnt Ökotour-Guide Maxim Marzi. Wenn sich die Flut durch eine kosmische Wasserrinne ankündigt, dauert es keine zehn Minuten, bis sie zum Meer anschwillt und bis zu 15 Kilometer ins Landesinnere zurückströmt. Das Gezeitenspiel sollte nur im Rahmen einer geführten Wattwanderung erlebt werden.
Durch Maxims Fernrohre sehen wir die Vorboten der Flut über dem Parc du Marquenterre: Wie nach einer magischen Absprache erheben sich die Vogelschwärme wie ein Raunen. Wenige Minuten vor der Flut versammeln sie sich zum Gezeitenschmaus. Über 300 Vogelarten und Tausende von Zugvögeln wie Kiebitze, Grau- und Blässgänse, Pfeifenten und Purpurreiher sind hier zu Hause.
Während sich kleine Gruppen von Seehunden im Wasser tummeln und sich dann ihren Platz auf einer Sandbank sichern, trinken wir mit Maxim noch einen geräucherten Tee. Dann machen wir es wie Jules Verne und zirkulieren mit dem historischen Dampfzug oder fahren mit den Regiozügen von Le Crotoy zurück nach Amiens.