Zwischen türkisblauem Meer und aufheizendem Sand hat sich auf Curaçao etwas bewegt, das größer ist als Sport. Eine Insel, deren Name bisher nach Cocktails und Ferien klang, ringt plötzlich um einen Platz in der Welt. Sie will dabei sein, wenn 2026 die Fußball-WM anläuft – als kleinster Teilnehmer der Geschichte.
Der Abend, an dem die Nationalmannschaft Curaçaos Jamaika mit 2:0 besiegte, war mehr als ein sportliches Ereignis. Es war der Nationalfeiertag der Insel, und für ein paar Stunden klang Willemstad wie ein Stadion inmitten eines Volksfestes. „Mein Telefon vibriert ständig. Auf der Insel sind unsere Spiele das Tagesgespräch“, erzählte Torschütze Kenji Gorré. „Die Leute sind begeistert, die Stimmung ist gut, es wird gelacht und Musik gemacht. Alle fiebern mit.“ Der 28-Jährige, Sohn des ehemaligen niederländischen Nationalspielers Dean Gorré, lebt wie fast alle Teamkollegen in den Niederlanden.
In dieser Durchmischung, dieser Verbindung von Karibik und Europa, liegt das Wesen des Projekts Curaçao. Am Hafen leuchten die bunten Fassaden des Stadtteils Punda, dort, wo Kreuzfahrtschiffe anlegen und Händler Papayas aufschneiden. An diesem Abend jedoch mischt sich in das Summen der Touristen eine andere Art von Klang – Trommeln, Rufe, die vom Stadion herüberwehen. Wer hier steht, hört Fußball und Brandung zugleich. Es ist, als hätte die Insel beschlossen, für ein paar Stunden an etwas anderes zu glauben als an Sonne und Postkartenmotive.
Die Insel ist ein autonomer Teil des Königreichs der Niederlande, und diese politische Zugehörigkeit prägt auch ihren Fußball. Kaum einer der Spieler ist auf Curaçao geboren, fast alle haben ihre Laufbahn in der Eredivisie begonnen. Im Tor steht Eloy Room, einst Ersatzkeeper in Nijmegen. Im Mittelfeld zieht Juninho Bacuna, ausgebildet in Groningen und inzwischen in der Türkei aktiv, die Fäden. Der bekannteste Name ist Riechedly Bazoer, der einst für 15 Millionen Euro von Ajax Amsterdam nach Wolfsburg wechselte. Und vorne stürmt Jürgen Locadia, der von Eindhoven über Brighton, den Iran und Bochum einmal um die Welt gereist ist. Sie alle tragen nun das Trikot der „Blauen Welle“.
Dick Advocaat hat sie zusammengeführt. Der 78-Jährige, der in seiner Karriere fast alles erlebt hat, nennt die Mannschaft „eine einzigartige Truppe“. Er weiß, was er sagt. Advocaat war mit den Niederlanden 1998 und mit Südkorea 2006 bei der WM, trainierte Glasgow Rangers, Zenit St. Petersburg, Borussia Mönchengladbach. Nun, im Spätherbst seiner Laufbahn, hat er ein Team übernommen, das kaum mehr war als eine Idee. „Alles muss gut organisiert sein – das Material, die Kleidung, die Hotels. Aber es gibt wenig Geld. Und die Spieler wollen wirklich – sie geben Vollgas auf dem Platz. Sie beschweren sich nie“, sagte er kurz nach Amtsantritt.
Ältester Nationaltrainer
Dass Curaçao trotz bescheidener Mittel zu einem der spannendsten Fußballprojekte des Jahres geworden ist, liegt an der Verbindung aus Erfahrung, Pragmatismus und Identität. Advocaat, der älteste Nationaltrainer der Welt, hat ein System aufgebaut, das auf Disziplin und taktischer Ordnung beruht, aber auch auf Zugehörigkeit. „Wir sind einfach eine Familie“, sagt Außenverteidiger Livano Comenencia, 21 Jahre alt, in den Niederlanden geboren, ausgebildet bei der PSV Eindhoven und nun bei Juventus Turin unter Vertrag. Für ihn ist das Trikot Curaçaos mehr als eine sportliche Wahl: „Es ist eine Ehre, für die Insel zu spielen.“
Hinter diesem Satz steckt eine Geschichte, die älter ist als der Verband selbst. Bis 2010 trat Curaçao als Teil der Niederländischen Antillen auf, zusammen mit Aruba, Bonaire, Sint Maarten, Saba und Sint Eustatius – kleine Punkte auf der Landkarte, verstreut im Karibischen Meer. Nach der Auflösung dieses Staatenverbunds blieb wenig außer Symbolik: eine Hymne, ein paar Stadiontribünen, die im tropischen Regen verfielen. Erst die Fifa-Anerkennung als eigenständige Nation eröffnete Curaçao die Chance, eine eigene Fußballsprache zu entwickeln. Es war, als müsse die Insel sich neu erfinden – nicht nur politisch, sondern auch sportlich.
Die Idee, Spieler mit niederländischen Wurzeln zurückzuholen, ist nicht neu. Schon Patrick Kluivert, der 2015 für ein Jahr Nationaltrainer war, hatte mit dieser Strategie begonnen. Sein Sohn Justin, mittlerweile beim AFC Bournemouth, wäre der „Königstransfer“ gewesen, doch er entschied sich für Oranje. Dick Advocaat setzte die Suche fort, unterstützt vom neuen technischen Direktor Khalid Sinouh, und klopfte bei Spielern an, die einst von einer Karriere in der niederländischen Nationalmannschaft träumten, inzwischen aber in der Zwischenwelt des Profifußballs angekommen sind. „Es gibt eine große Anzahl von Spielern, die hoffen, sich eines Tages für Oranje zu qualifizieren. Einige sind nun 23, 24, 25 Jahre alt. Sie denken nicht mehr so sehr an die Niederlande. Die muss man ausprobieren“, erklärte Advocaat.
So entstand eine Auswahl aus Zweiflern und Spätberufenen – Profis, die zwischen zwei Heimaten pendeln, zwischen den Grachten Amsterdams und den Hügeln von Willemstad. Sie tragen denselben Pass, aber verschiedene Erinnerungen. Und vielleicht ist gerade dieses diffuse Zugehörigkeitsgefühl ihre Stärke: Wer nicht genau weiß, wohin er gehört, kämpft doppelt so hart, um dazuzugehören.
Dass Curaçao in der WM-Qualifikation lange Zeit Tabellenführer war und trotz des jüngsten Rückschlags gegen Trinidad und Tobago weiter im Rennen bleibt, ist auch einem Strukturwandel außerhalb des Platzes zu verdanken. Gilbert Martina, ein früherer Finanzmanager, wurde 2025 zum Präsidenten des Fußballverbandes gewählt und hat in kurzer Zeit geschafft, was auf der Insel zuvor jahrelang als unmöglich galt: Er brachte Ordnung, Sponsoren und eine Vision. Eine Fluggesellschaft übernimmt heute die Kosten für Reisen und Unterkünfte, die nationale Liga, die drei Jahre pausierte, wurde wieder aufgenommen. „Es war eine wunderbare Reise“, sagte Martina rückblickend. „Wir haben mit vielen Herausforderungen begonnen, um Ruhe, Gelassenheit und eine Struktur zu schaffen, damit die Nationalmannschaft ihre Leistung bringen kann.“
Curaçao blickt bei all dem nach Jamaika. Dort gelang 1998 das, was für die Karibik seither ein Mythos ist: eine WM-Teilnahme. „Es wird etwas Außergewöhnliches sein, weil diese Leistung nicht nur für die Nationalmannschaft, sondern auch für die Jugendlichen Hoffnung und Inspiration bringen wird“, sagt Martina. Hoffnung – das ist das Wort, das in Willemstad häufiger fällt als jedes andere. Hoffnung, dass die Insel mehr sein kann als ein Urlaubsziel. Hoffnung, dass Fußball eine Identität formt, die über Sandstrände und touristische Bilder hinausreicht.
Ein Produkt der FIFA
In dieser Hoffnung liegt auch eine Form von Widerstand. Gegen das Bild, das Europa seit Jahrhunderten auf diese Inseln projiziert – exotisch, klein, schön, aber ohne Stimme. Curaçao antwortet darauf mit etwas so Unwahrscheinlichem wie organisierter Leidenschaft. Und während in Europa über überfüllte Turniere geklagt wird, bedeutet die Aufblähung der WM für Länder wie dieses schlicht: Sichtbarkeit.
Der Erfolg Curaçaos ist in gewisser Weise auch ein Produkt der Fifa. Seit Gianni Infantino das Weltturnier aufgebläht hat, gibt es Platz für Mannschaften, die früher in der Qualifikation untergingen. Für viele Romantiker klingt das wie eine Verwässerung des Wettbewerbs, doch ohne diese Ausweitung gäbe es Geschichten wie die von Kap Verde, Usbekistan – und vielleicht Curaçao – gar nicht. „Wer Mannschaften wie Kap Verde und Curaçao bei der WM abfeiern will, sollte Gianni Infantino dankbar sein“, schrieb ein Kolumnist kürzlich. In dieser Ironie liegt Wahrheit. Denn mit jedem neuen Teilnehmer wächst auch die Vielfalt dessen, was Fußball bedeuten kann.
Curaçao ist damit Teil eines größeren Phänomens: des Fußballkosmos der kleinen Staaten. Orte, die einst Randbemerkungen waren, füllen nun die Seiten der Qualifikationsstatistiken. Es sind Länder, in denen jeder Sieg ein Feiertag ist und jeder Flug zum Auswärtsspiel eine logistische Meisterleistung. Ihre Existenz erinnert daran, dass der Fußball immer noch Geschichten schreiben kann, die größer sind als seine Gewinnerlisten.
Curaçao steht für das Prinzip der zweiten Chancen. Für Spieler, die einst übersehen wurden. Für einen Trainer, der alles gesehen hat. Für eine Insel, die den Fußball nutzt, um sich selbst zu entdecken. Vielleicht wird sie es nicht bis in die Stadien von Los Angeles oder Guadalajara schaffen. Vielleicht bleibt der Traum an einem späten Abend in der Karibik liegen, im Wind, der vom Meer herüberweht. Aber für einen Moment – in diesem Jahr, in dieser Qualifikation – war Curaçao Teil des großen Gesprächs. Und das allein ist schon eine Art Teilnahme.