Das Scheitern der Ampel war gleich mehrfach „historisch“, sagt der Politikwissenschaftler und Publizist Albrecht von Lucke. Er erwartet einen „sehr pointierten, sehr harten“ Wahlkampf, warnt gleichzeitig davor, sich gegenseitig zu dämonisieren.
Herr von Lucke, das Wort „historisch“ ist schnell zur Hand. Aber ist der 16. Dezember 2024 mit der wie geplant gescheiterten Vertrauensfrage des Bundeskanzlers tatsächlich ein „historischer Tag“, wie einige meinen, oder nur eine Zwischenstation der deutschen Politik?
Es ist ein historischer Tag, alleine schon deshalb, weil Vertrauensfragen in diesem Land immer etwas Historisches bedeuten. Er ist es auch deshalb, weil es die erste Vertrauensfrage ist, die aus dem Status einer Minderheitsregierung erfolgt ist. Das hat es in dieser Weise noch nicht gegeben. Diese Regierung hat ja schon davor ihre Mehrheit faktisch verloren. Mit der auf Ablehnung angelegten unechten Vertrauensfrage holt sie das Scheitern jetzt bloß nach.
Insofern war also auch diese Ampelregierung ein bisher einmaliger Versuch?
In der Tat, und auch das macht das Scheitern historisch. Es ist also ein historischer Tag, aber es ist auch nur ein vorbereitender Tag in einer absolut historischen Zeit. Man versteht dieses Ereignis nicht richtig, wenn man es nicht zugleich in die globalen Umbrüche einordnet. Wir stehen gewissermaßen an einer Wegscheide, in der eine deutsche Regierung just an demselben Tag gescheitert ist, an dem in den USA mit dem Comeback von Donald Trump eine historische Wahl vonstattengegangen ist. Und wenn jetzt die Bundestagswahl am 23. Februar stattfindet, dann wird schon vier Wochen vorher, am 20. Januar, Donald Trump als US-Präsident vereidigt worden sein, was enorme Konsequenzen zur Folge haben wird. Das ist die eigentliche historische Dimension dieser Wahl.
Der Bruch der Koalition und die vorgezogenen Neuwahlen sind also nicht ohne die globalen Rahmenbedingungen denkbar. Verändert das auch diesen Wahlkampf?
Die Parameter werden sich fundamental verändern. Wir haben eine Entwicklung, in der auf Europa und damit auf Deutschland als Zentralmacht eine Situation zukommt, die die Bundesrepublik so noch nicht kannte. Wir befinden uns quasi in Neuland: Wir haben mit Donald Trump einen Präsidenten, der in härtester Weise mit Europa und dem Multilateralismus brechen wird, also mit der Vorstellung, dass, wenn Kontinente und Völker etwas gemeinsam machen, alle einen Vorteil davon haben sollen. Trump steht für eine Politik des Deals, bei dem immer nur einer gewinnen soll, nämlich die Vereinigten Staaten. Er wird dafür maximalen Druck aufwenden, auch in der Frage der Ukraine, und dafür Europa die Rechnung aufmachen. Das wird uns extrem viel Geld kosten.
Und genauso wird es sich wirtschaftspolitisch verhalten, weil Trump über hohe Einfuhrzölle einen Handelskrieg gegen China führen will, der Europa und speziell Deutschland als Exportnation teuer zu stehen kommt. Die ganze Weltwirtschaft wird durch Trump geschädigt. Und am Ende auch die US-Wirtschaft, weil der Dollar aufwertet. Aber so rechnet Trump nicht. Er sagt: Ich muss jetzt das Maximale herausholen. Das ist eine hochdramatische Situation.
Dass auf Europa besondere Herausforderungen zukommen, ist spätestens seit dem 5. November, dem Tag der US-Wahl, klar. Ist das in der deutschen Politik ausreichend angekommen?
Europa müsste eigentlich viel geschlossener auftreten, aber wir haben das Problem, dass gerade jetzt der Kontinent zerrissen und führungslos ist. Die beiden klassischen Protagonisten, Deutschland und Frankreich, fallen als Motor aus, während zugleich Viktor Orbán versucht, seine „illiberale Demokratie“ als Gegenmodell zur rechtsstaatlich-liberalen aufzubauen. Also die denkbar schlechteste Voraussetzung, um einerseits der Herausforderung Trumps zu begegnen, und auf der anderen Seite einem Wladimir Putin, der gegen die Ukraine in massivster Weise vorgeht, um das Land zu zerstören und Millionen in die Flucht zu treiben, und dadurch den Druck auf Europa zu erhöhen.
Wenn Trump tatsächlich ernst macht, wird er der Ukraine einen Landverlust abzwingen für einen Waffenstilstand, und dann wird es darum gehen, wer die Sicherheit der Ukraine garantiert, also wer die Truppen zu dessen Einhaltung stellt. Und das sind aus Trumps Sicht nicht die USA, sondern die Europäer. Da sind dann auch wir Deutschen gefragt. Aber da traut sich im Wahlkampf keiner ran.
Die Bundestagsdebatte zur Vertrauensfrage war von besonderer Schärfe geprägt. Was wird das für ein Wahlkampf?
Das wird ein sehr pointierter, sehr scharfer, auch ins Persönliche gehender Wahlkampf, der die Gefahr beinhaltet, dass man sich in der demokratischen Mitte so sehr attackiert, dass danach ein gemeinsames Regieren nur schwer möglich ist. Um es konkret zu sagen: Wenn momentan speziell die SPD aus eigener Schwäche ganz stark austeilt, gegen Christian Lindner, aber auch gegen Friedrich Merz, fühle ich mich an das große Wort von Gustav Heinemann, selbst SPD-Mitglied und Bundespräsident von 1969 bis 1974, erinnert, der einst gesagt hat: Wenn du mit einem Finger auf andere Leute zeigst, dann zeigen drei auf Dich zurück. Olaf Scholz und die SPD betreiben eine Angstpolitik gegenüber Merz nach dem Motto: „Der Kanzler der Eskalation des Krieges und der sozialen Kälte“. Dabei war ja „Respekt“ eigentlich das Kernwort von Olaf Scholz im Wahlkampf 2021. Dieser droht diesem Wahlkampf, übrigens von allen Seiten, auf der Strecke zu bleiben. Und das ist schon deshalb eine gefährliche Situation, weil doch ziemlich klar ist, dass CDU/CSU und SPD nach dem 23. Februar wieder gemeinsam werden regieren müssen.
Sie gehen also von einer Neuauflage der Großen Koalition aus?
Ja, und offensichtlich wollen das auch große Teile der Bevölkerung. Das ist ja die eigentliche Ironie der Geschichte: Nach drei Großen Koalitionen hatten fast alle, salopp gesagt, ein stückweit „die Schnauze voll“. Doch heute, nach nur drei Jahren Ampel, hat man den Eindruck, dass sich die Bevölkerung schon wieder nach der Ruhe einer Großen Koalition sehnt – eben weil die Ampelzeit so desaströs war.
Wir beobachten seit einem guten Jahr in Umfragen ein ziemlich gleichbleibendes Bild …
… und gleichbleibend schlechte Stimmung der jetzt ja ehemaligen Ampel gegenüber. Aber dramatischer noch: Die Kritik an der Ampel ist mittlerweile zu einer Kritik an der Demokratie geworden. Wir erleben einen massiven Vertrauensverlust gegenüber den demokratischen Institutionen. Die Aufgabe der nächsten Regierung wird daher auch darin bestehen, dieses Vertrauen zurückzugewinnen, in das Regieren der Bundesregierung wie in das Parteiensystem insgesamt. Wenn das nicht gelingt, droht in vier Jahren der Sieg der Antidemokraten von der AfD. Für das BSW gilt das nur bedingt, weil es immerhin bereit ist, im Osten mitzuregieren und sich damit auch angreifbar zu machen, obwohl Sahra Wagenknecht in Sachen Ukraine-Krieg eine ähnlich populistische Politik betreibt wie die AfD. Also: Wenn die Regierung die nächsten vier gewiss nicht weniger problematischen Jahre nicht besser nutzt als die Ampel die letzten drei, dann wird, so meine Befürchtung, der Rechtsradikalismus weiter massiv an Boden gewinnen.
Nun gibt es auch den Vorwurf an die Union, dass sich ihr Tonfall gelegentlich stark in Richtung AfD entwickelt hätte.
Markus Söder klingt in der Tat – speziell was die Kritik an den Grünen anbelangt – massiv AfD-lastig. Das hat auch einen ganz banalen Grund: Die CSU hat die Sorge, dass sie Stimmen an die Freien Wähler von Hubert Aiwanger verliert, wenn sie nicht selbst nicht scharf genug von den Grünen abgrenzt. Das ist die Hauptintention der Abgrenzung von Markus Söder. Das ist auch deshalb dramatisch, weil man den Eindruck hat, Teile vor allem der CSU, aber auch der CDU, rennen den Populisten hinterher. Die Grünen sind auf der rechten Seite eine regelrecht verhasste Partei. Man muss dort fast den Eindruck haben, dass die Brandmauer gegenüber den Grünen zum Teil höher errichtet wird als gegenüber der AfD. Für Friedrich Merz ist das wiederum ein großes strategisches Problem, weil irgendwann die Frage auftaucht: Mit wem will der Mann eigentlich noch koalieren? Außer mit der SPD, was deren Aktien im Machtpoker nach der Wahl natürlich massiv erhöht.
Seit klar ist, dass es vorgezogene Wahlen gibt, wird heftig über mögliche Koalitionskonstellationen danach diskutiert und spekuliert. Wie beeinflusst das den Wahlkampf?
Dieser Wahlkampf wird ganz zentral auch mit Blick auf die künftigen Koalitionsoptionen ausgetragen werden. Stellen wir uns einmal vor, am Ende reicht es nicht für CDU/CSU und SPD. Dann muss ja noch irgendwas dazukommen. Bleiben eigentlich nur die Grünen, denn auf die FDP wird sich die SPD schwerlich wieder einlassen. Und selbst wenn es für die beiden, Union und SPD, reicht, ist es für Merz eine katastrophale Ausgangssituation. Denn Merz braucht Koalitionsoptionen, um die SPD unter Druck zu setzen. Umgekehrt ist das Kalkül von Söder als einem Taktiker vor dem Herrn. Bei Söder müssen wir unterstellen, dass er jetzt vor der Wahl „Keine Zusammenarbeit mit den Grünen“ propagiert, um am Tag nach der Wahl nach der Devise zu agieren: Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern.
Wie ordnen Sie die Entwicklung der Grünen in den drei Jahren seit der letzten Wahl ein?
Die Entwicklung der Grünen, der extreme Hass gegen sie, ist tragisch. Schon deshalb, weil die Grünen ja weiter die Advokaten des Jahrhundertthemas sind, nämlich des Kampfes gegen die ökologische Krise. Und die ist ja keineswegs kleiner geworden, wenn wir uns nur an die Bilder aus Valencia erinnern. Im Gegenteil: Die Krise ist in den letzten Jahren noch eher größer geworden. Und trotzdem sind die Grünen von Everybody‘s Darling zur meist-gehassten Partei geworden. Das ist nicht nur für die Grünen selbst dramatisch, sondern auch für die kommenden Generationen. Und wenn man sich dann noch ansieht, wie die jungen Menschen wählen, nämlich vor allem im Osten mit teileweise fast 40 Prozent die AfD, dann manifestiert sich darin eine fundamentale Veränderung der Thematiken seit 2021, also seit der letzten Wahl. Damals hatte das grüne Kernthema einen Höhepunkt erreicht, Fridays for Future war omnipräsent, auf allen Kanälen. Doch in den letzten drei Jahren ist die Ökologie total ins Hintertreffen geraten und damit auch die Beliebtheit der Grünen immer mehr geschwunden.
Stattdessen ist Wirtschaft zum Thema Nummer eins geworden. Wird das alles andere dominieren?
Die Wirtschaftskrise ist schon jetzt omnipräsent und hat die ökologische Thematik total verdrängt. „Erst kommt das Fressen, dann die Moral“, könnte man mit Bert Brecht sagen. Das Moralische der Ökologie wird in dem Moment sekundär, wo die ökonomischen Verhältnisse nicht mehr stimmen. Das verkennt aber etwas Entscheidendes: Ökologische Fragen sind längst auch wirtschaftliche Fragen. Wenn wir die ökologische Krise nicht in den Griff bekommen, wird die wirtschaftliche Basis selbst immer stärker Schaden nehmen, durch den Verlust an Grund und Boden, aber auch an Immobilien. Das haben wir ja jüngst mit den Überflutungen in Spanien gesehen. Und das war nur ein einzelnes Ereignis unter vielen.
Die Wirtschaftsthematik wird aber mit dem 20. Januar und dem Amtsantritt von Donald Trump wahrscheinlich noch einen weiteren enormen Schub erhalten. Trump wird China mit seiner Hochzoll-Politik faktisch einen Wirtschaftskrieg erklären, mit dramatischen Folgen für Europa und vor allem für die Exportnation Deutschland.
Heißt das für die politische Auseinandersetzung, dass wieder die bekannten alten „Lager“ gegeneinanderstehen?
In der Tat haben wir es durch den Bruch der Koalition wieder mit dem klassischen wirtschaftsliberalen Lager auf der einen Seite und dem sozial-ökologischen auf der anderen zu tun. Allerdings driften auf der rechten Hälfte des Parteienspektrums die wirtschaftspolitischen Ansichten noch einmal erheblich auseinander. Dort steht mit der FDP eine radikal neoliberale Partei, die mehr Musk wagen will und auch mehr Milei (Anm.: Präsident von Argentinien). Seit dem Ampel-Aus betreibt die FDP dezidiert ihre wirtschaftsradikale Profilierung in dem Wissen darum, dass sie ja nur fünf Prozent der Wählerinnen und Wähler braucht, um im Parlament zu bleiben. Meine Prognose ist: Weil es einen derartigen Anteil an neoliberaler Wählerschaft durchaus gibt, wird die FDP es wieder schaffen – und weil die Union gar nicht so radikal sein kann. Die muss nämlich Sorge haben, dass sie sonst die Wähler in der Mitte verliert, sozusagen die „Merkel-Mitte“. Ihr Slogan lautet daher eher Leistung muss sich wieder lohnen. Gleichzeitig bedient die SPD die Angstthematik, also die Frage der sozialen Sicherheit, wie Mindestlohn und sichere Renten, sozusagen ihre Brot- und Butter-Themen. Die CDU/CSU setzt dagegen darauf, dass wieder mehr und härter gearbeitet wird. Diese Konstellation erinnert sehr daran, wie Angela Merkel 2005 Schiffbruch erlitten hat. Denn Friedrich Merz bietet die gleiche Angriffsfläche, Stichwort „soziale Kälte“.
Wenn Sie von einer Großen Koalition nach der Wahl ausgehen, wie kann das dann zusammen gehen?
Am Ende wird meines Erachtens eine Kombination dessen nötig sein, was Union und SPD im Wahlkampf propagieren. Andrea Nahles, die Chefin der Bundesagentur für Arbeit, sagt bekanntlich immer wieder: Wir brauchen 400.000 Arbeitskräfte mehr pro Jahr. Wo sollen die aber herkommen? Das kann nur zum Teil durch Migration aufgefangen werden. Der andere Teil könnte von Frauen geleistet werden, die aus der Teilzeit in die Vollzeit gehen. Was aber wiederum heißt, dass wir mehr Kita- und Betreuungsplätze brauchen. Insgesamt werden wir wahrscheinlich im Durchschnitt wieder länger arbeiten müssen. Wer soll denn sonst die explodierenden Renten zahlen? Also wird die SPD ihrer Klientel mehr Leistung abverlangen müssen.
Das gilt aber vor allem auch für die Union und ihre Klientel. Fest steht, dass gerade mit einem neuen Präsidenten Trump enorme Aufgaben und Ausgaben auf Deutschland zukommen: für die Verteidigung, aber auch für die Erneuerung der maroden Infrastruktur. Bisher macht die Union nur Versprechungen in Sachen Steuersenkung. Sie wird aber auch die Frage beantworten müssen, woher das Geld kommen soll. Das heißt, dass sie vor allem den besonders Vermögenden auch mehr abverlangen muss. Beide Parteien sind also letztlich zu mehr Ehrlichkeit gegenüber ihrer eigenen Klientel aufgefordert – spätestens nach der Wahl. So wird es auch wohl nach dem 23. Februar kommen. Eigentlich passen da beide Volksparteien durchaus zusammen. Umso mehr werden die Wahlkämpfer also aufpassen müssen, dass man sich nicht gegenseitig zu sehr beschädigt und so am Schluss gar nicht mehr zusammenkommen kann, weil man den jeweils anderen zu sehr dämonisiert hat. Denn wie nach jeder Wahl müssen auch nach dieser die aufgerissenen Gräben des Wahlkampfs am Ende wieder überwunden werden.