Zwar sinkt seit mehreren Jahren der Alkoholkonsum hierzulande, doch Deutschland ist weiterhin ein Land, in dem auf hohem Level konsumiert wird. Die Experten von der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen dringen deshalb auf eine wirksame Alkoholprävention.
Deutschland belegt weiterhin einen traurigen Platz, was den Alkoholkonsum angeht. Hierzulande wird mehr Alkohol als im europäischen Durchschnitt getrunken. Mit Blick auf den Gesamtalkoholkonsum von Erwachsenen (ab 15 Jahren) liegt Deutschland im europäischen Vergleich im oberen Mittelfeld mit 10,6 Litern pro Person und Jahr. Zum Vergleich: Im EU-Durchschnitt liegt der Pro-Kopf-Verbrauch bei zehn Litern. Rechnet man den Konsum der Fertigware zusammen, sprich Bier, Wein, Schaumwein und Spirituosen, sind es sogar 115 Liter pro Kopf. „Wohlgemerkt – da ist jedes Baby, jede betagte Person in der Rechnung inkludiert“, sagt die Geschäftsführerin der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS), Christina Rummel.
Jahrbuch Sucht der DHS vorgestellt
Vor Kurzem hat die DHS ihr „Jahrbuch Sucht“ vorgelegt. Der hohe Durchschnittskonsum spiegele sich in einer hohen Zahl von alkoholbedingten Sterbe- und Erkrankungsfällen wider, betont Rummel. 47.500 Menschen sterben in Deutschland jährlich infolge von Alkoholkonsum. „Der langsame Rückgang des Pro-Kopf-Alkoholkonsums kann also nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir mit geeigneten Regelungen im Bereich der Verhältnisprävention bereits viel weiter wären und mehr für die Gesundheit der gesamten Bevölkerung tun könnten“, sagt die Suchtexpertin. Überdies seien auch Kinder und andere nicht am Konsum beteiligte Personen von den Folgen des weit verbreiteten Alkoholkonsums betroffen. Auch kann die DHS beziffern, welchen Preis es hat, dass Deutschland weiterhin „ein Hochkonsumland“ ist: Die ökonomischen Folgekosten belaufen sich jedes Jahr auf mehr als 57 Milliarden Euro, für die letztlich die gesamte Gesellschaft aufkommen muss. Die könnten durch einen weiteren Rückgang des Konsums – der Pro-Kopf-Alkoholkonsum ist hierzulande seit 2018 nahezu konstant gesunken – verringert werden.
Bisher war man davon ausgegangen, dass Männer pro Tag maximal 24 Gramm Reinalkohol trinken können, Frauen 12 Gramm. Laut dem Bundesinstitut für Öffentliche Gesundheit (BIÖG) gilt bei erwachsenen Frauen ein Standardglas pro Tag als risikoarme Konsummenge. Bei Männern liegt diese Grenze bei zwei Standardgläsern pro Tag. Ein Standardglas ist dem Institut zufolge zum Beispiel ein 0,3 Liter-Glas Bier mit einem Alkoholgehalt von 5 Volumenprozent oder ein Glas Wein, das entspricht 0,125 Liter mit einem Alkoholgehalt von 11 Volumenprozent. Laut Empfehlung, schreibt das BIÖG, sollte man auch an mindestens zwei Tagen in der Woche vollständig auf Alkohol verzichten. Doch das wissenschaftliche Kuratorium der DHS unterzog 2023 diese Empfehlungen zum Umgang mit Alkohol einer kritischen Überprüfung und bezog dabei neueste wissenschaftliche Erkenntnisse mit ein – mit überraschendem Ergebnis. „Die Ergebnisse der Wissenschaft zeigen jedoch zunehmend, dass es keinen potenziell gesundheitsförderlichen und keinen sicheren Alkoholkonsum gibt“, sagt Christina Rummel. Selbst geringe Mengen an konsumiertem Alkohol können demnach dazu beitragen, Krankheiten zu verursachen. Um den physischen Gesundheitszustand zu verbessern sollte der Alkoholkonsum –
ganz gleich, wie hoch die Trinkmenge – reduziert werden.
Wie ist also der seit mehreren Jahren sinkende Alkoholkonsum pro Kopf hierzulande zu erklären? Der langsame Rückgang des Konsums kann zum einen auf die jüngere Generation und ihre veränderte Einstellung gegenüber Alkohol zurückgeführt werden. „Fitness und Alkohol passen nicht zusammen. Zudem entwickelt sich eine Community, die es bevorzugt, weniger zu trinken oder auch ganz nüchtern zu bleiben. Normen verändern sich dadurch. Es ist nicht mehr cool, Alkohol zu trinken, sondern, keinen zu trinken“, erklärt Christina Rummel. Doch nicht nur: Auch das Angebot an nicht-alkoholischen Getränken sei größer geworden. Das mache es leichter, zu Null-Prozent-Alkohol-Alternativen zu greifen.
Trotzdem erfährt Alkohol als Suchtmittel immer noch eine hohe gesellschaftliche Akzeptanz hierzulande. Woran liegt das? „Zu trinken ist ‚normal‘. Kritisch beäugt wird man, wenn jemand nichts trinkt oder wenn jemand einen problematischen Konsum hat. Nicht-Konsumierende müssen sich rechtfertigen, Menschen mit einer Abhängigkeitserkrankung sind mit Stigmatisierungen konfrontiert. Alkohol trinken gilt als Norm und wir Erwachsenen sind natürlich auch die Vorbilder für Kinder und Jugendliche“, sagt die Suchtexpertin von der DHS. Auch halte sich hartnäckig die Auffassung, dass Alkohol gesund sei. Vonseiten der Alkohol-Hersteller werden die alkoholhaltigen Getränke in ein positives Licht gerückt und „als Lifestyle-Produkte mit dem Rang eines Kulturgutes“ präsentiert, sagt Rummel.
Im Vorwort des aktuellen Jahrbuchs der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen schreibt der erste Vorsitzende Prof. Dr. med. Norbert Scherbaum unter anderem von der „hohen Verfügbarkeit von Alkohol rund um die Uhr“. Heißt: In jedem Supermarkt, an jedem Kiosk, an jeder Tankstelle gibt es Alkohol rund um die Uhr, sieben Tage die Woche. „Alkohol ist allgegenwärtig und das geht natürlich auch an Kindern und Jugendlichen nicht spurlos vorbei“, merkt Christina Rummel an. Immerhin gibt es beim Konsum der jüngeren Menschen eine positive Entwicklung zu vermelden: Im Schnitt lag das Alter in der Gruppe der Zwölf- bis 25-Jährigen, die erstmals Alkohol konsumierten, bei 15,1 Jahren und damit ein Jahr später als in der BIÖG-Befragung von 2004. Dennoch: „Das Alter liegt aber weiterhin unter der Altersgrenze von 16 Jahren, ab der Jugendliche Bier und Wein kaufen dürfen“, sagt Christina Rummel. Diejenigen, die ihren ersten Alkoholrausch erlebten, waren im Schnitt 16,2 Jahre alt.
„Dieses Zuviel ist jedoch schnell erreicht“
Der Epidemiologische Suchtsurvey unterscheidet zwischen episodischem Rauschtrinken und dem Konsum riskanter Mengen. Ihm zufolge ist unter Erstgenanntem ein Konsum von fünf oder mehr alkoholischen Getränken an mindestens einem der letzten 30 Tage zu verstehen. Der Konsum riskanter Mengen bezeichnet demnach den bis dato definierten durchschnittlichen Konsum von mehr als 12 Gramm bei Frauen beziehungsweise 24 Gramm bei Männern Reinalkohol pro Tag. Wie eine Tabelle im „Jahrbuch Sucht“ mit Daten aus dem Epidemiologischen Suchtsurvey von 2021 zeigt, tranken innerhalb der letzten 30 Tage hochgerechnet 36,1 Millionen Erwachsenen im Alter zwischen 18 und 64 Jahren Alkohol. Unter der Bevölkerungsgruppe, die episodisches Rauschtrinken betrieben, wurden hochgerechnet zwölf Millionen gezählt. Zu riskantem Alkoholkonsum neigten der Erhebung zufolge knapp acht Millionen Menschen.
Zwar ist es natürlich keine neue Erkenntnis, dass Alkoholkonsum zu schwerwiegenden gesundheitlichen Folgeproblemen führen kann, doch viele hängen immer noch dem Irrglauben an, dass nur Alkoholabhängigkeit ein Auslöser dafür sein kann. „Jedes Glas zu viel kann der Gesundheit schaden. Dieses Zuviel ist jedoch schnell erreicht. Studien zeigen, dass mehr als 200 Erkrankungen durch Alkoholkonsum mitverursacht sind. Alkohol schädigt die Leber, zerstört Gehirnzellen, bringt das Herz aus dem Takt und gehört zudem zu den Top 10 der Stoffe, die Krebs auslösen können“, berichtet Christina Rummel.
Hinzu kommen die psychischen Erkrankungen, die durch Alkoholkonsum hervorgerufen werden. 2023 wurden laut der DHS 232.737 Behandlungsfälle mit der Diagnose „Psychische und Verhaltensstörungen durch Alkohol“ gezählt. Überwiegend waren mehr Männer als Frauen davon betroffen, nämlich 169.790 und 62.947. „Männer konsumieren mehr Alkohol als Frauen. Das macht sich bemerkbar in der Prävalenz alkoholbezogener Störungen. Hier spielen bio-psychosoziale Faktoren mit unterschiedlichster Gewichtung eine Rolle. Alkohol zu trinken ist für Männer in sozialen Situationen viel akzeptierter“, erläutert Christina Rummel.
Tatverdächtige unter Alkoholeinfluss
Ein weiterer Aspekt, der im „Jahrbuch Sucht“ untersucht wurde, sind die Straftaten, die unter Alkoholeinfluss geschahen. Über alle drei Deliktgruppen Mord, Vergewaltigung und Körperverletzung hinweg gibt es einen deutlich höheren Anteil männlicher als weiblicher Tatverdächtiger unter Alkoholeinfluss. Auch über andere Deliktgruppen hinaus sind männliche und jüngere Tatverdächtige im Vergleich zu weiblichen oder älteren Personen signifikant vertreten, heißt es im Jahrbuch. Eine Analogie findet sich bei den alkoholisierten Personen im Straßenverkehr, die nach wie vor eine relevante Ursache für Unfälle mit Personenschäden darstellen. Die Zahl der Alkoholunfälle, bei denen Personen verletzt wurden, ist im Zeitraum 2014 bis 2023 um 15 Prozent auf 15.652 Unfälle gestiegen. Auch die Zahl der alkoholisierten Beteiligten an Unfällen mit Verletzten zwischen 2014 und 2023 erhöhte sich ebenfalls um 15 Prozent auf 15.806 Personen. Dabei fällt die Anzahl der an Unfällen mit Personenschaden beteiligten alkoholisierten männlichen Beteiligten etwa 6,3-mal so hoch aus wie die der weiblichen.
Vor diesem Hintergrund müsse eine wirksame Alkoholprävention darauf zielen, gesundheitliche, soziale und ökonomische Schäden zu minimieren, sagt Christina Rummel. Konkret heißt das: In diesem Zuge gilt es den Alkoholkonsum zu vermeiden oder den Beginn weitestgehend hinauszuzögern, riskante Konsummuster früh zu erkennen und zu reduzieren sowie Substanzkonsumstörungen zu verhindern oder deren Folgen zu mildern. Denn: Laut dem aktuellen „Jahrbuch Sucht“ ist in den vergangenen Jahren die Aufmerksamkeits-Hyperaktivitäts-Störung als komorbide psychische Störung bei substanzbezogenen Störungen aufgetreten. ADHS führte zu einem erhöhten Risiko für die Entwicklung von substanzbezogenen Störungen, darunter auch eine Alkoholabhängigkeit. „Etwa ein Drittel der Menschen mit ADHS entwickelt eine Alkohol- oder Substanzstörung – meist deutlich früher als andere“, erklärt Christina Rummel. Zwischen 15 und 21 Prozent der Menschen mit substanzbezogenen Störungen sind von ADHS betroffen. Trotzdem bleibe ADHS gerade bei diesen Betroffenen oft unerkannt.
„Notwendig ist dazu ein Zusammenspiel aus verhaltens- und verhältnispräventiven Maßnahmen: Die Verhaltensprävention beeinflusst das individuelle Verhalten Einzelner. Verhältnisprävention verändert die strukturellen Rahmenbedingungen, die den Konsum und Konsumfolgen beeinflussen“, sagt die Expertin für Suchtfragen Christina Rummel. Gerade im Bereich der strukturellen Prävention werde hierzulande „bislang deutlich zu wenig getan“. Um den Alkoholkonsum zu senken, sei ein effektives Mittel, die Preise für alkoholische Getränke zu erhöhen. Damit Alkohol nicht rund um die Uhr verfügbar sei, müssten die Alkohol-Kaufzeiten eingeschränkt werden. Auch Werbung wirke sich auf den Konsum aus – und an Erwachsene adressierte Werbebotschaften würden ebenfalls einen „messbaren Einfluss auf Kinder und Jugendliche“ ausüben, sagt Rummel und ergänzt: „Doch lässt auch hier eine Verschärfung der Regelungen für Marketing und Sponsoring bei Alkohol und auch für Nikotin auf sich warten.“