Warum wir wieder dringend mehr Aufbruchsstimmung im Land brauchen
Weder Regierungswechsel, vor allem, wenn er so fundamental ist wie gegenwärtig in Deutschland, reizt die Zeitgenossen natürlich zu hochgeistigen kulturellen Begleitgedanken. Ohne Zweifel hat die deutsche Presse in den Wochen seit der Wahl vielfältig und intellektuell auf ausreichend hohem Niveau darüber informiert, dass auch auf politischen Lebensstufen „jedem Anfang [...] ein Zauber inne[wohnt]“ …
Umso erforderlicher ist es, eine andere, oft vergessene Seite des politischen Neubeginns anzusprechen. Der Bruch von tradierten Regeln und bestehenden Verträgen, das chaotische wirtschaftliche und politische Umfeld und die daraus erwachsende globale Verunsicherung der Menschen liefert dazu inhaltliche Steilvorlagen. Passgenau zur allgemeinen Gefühlslage und Wahrnehmung sei hier auf eine Musikgruppe aus der ehemals Neuen Deutschen Welle hingewiesen, die den treffenden Namen „Geier Sturzflug“ trug. Sie sprachen während der zweiten Ölkrise Anfang der 80er-Jahre mit einem Lied, das zum Ohrwurm wurde, den Zeitgeist an. Ihre unmissverständliche Aufforderung lautete: „Jetzt wird wieder in die Hände gespuckt, wir steigern das Bruttosozialprodukt!“
Spötter unter den Zeitgenossen könnten jetzt mutmaßen, der Name der Band sei ein Hinweis auf den Bundesadler. Das wäre aber zu platt. Allerdings: Die ultimative musikalische Aufforderung nach einer Steigerung des Bruttosozialproduktes hat viele Bezüge zur Realität.
Zum einen stagniert das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit drei Jahren in Folge – Ökonomen sprechen sogar von Rezession, obwohl Massenarbeitslosigkeit als notwendige Begleiterscheinung völlig fehlt. Auch die jüngste Prognose des Internationalen Währungsfonds hat für die deutsche Volkswirtschaft im Jahr 2025 nur ein Null-Wachstum im Köcher.
Zum anderen erfordern die fortschreitende Alterung und Verrentung der Bevölkerung und ein schrumpfendes Arbeitskräftepotenzial, das aber zur Rentensicherung notwendig ist, mehr Arbeit statt weniger. Stattdessen träumen die Gewerkschaften und einzelnen Berufsgruppen noch immer von der Vier-Tage-Woche. Andere wollen gar die Lebensarbeitszeit wieder verkürzen, den Kreis der Rentenbezieher ausweiten oder die Vergrößerung des Arbeitskräfteangebots durch Zuwanderung prohibitiv erschweren. Wie sagte der alte Cicero schon bei ähnlicher Gelegenheit? „O tempora, o mores!“
Das Gegenteil von dem, was vielen Sozial-Illusionisten im Laufe der vergangenen 30 Wohlstandsjahre in die Köpfe gefahren ist, muss unter der neuen Bundesregierung eintreten! Jetzt heißt es anpacken! Wobei auch das In-die-Hände-spucken dazu gehört, wenn man sich den notwendigen Wohnungsbau vor Augen führt.
Der Wähler sollte sich das allerdings nicht zu leicht machen. Das „Anpacken“ als kategorischer Imperativ der Union-SPD-Koalition beschränkt sich nicht allein auf die Regierung. Der Bürger selbst ist gefragt – als Konsument und Arbeitnehmer, als Investor und Unternehmer. Union und Sozialdemokraten haben sich in Rekordzeit auf einen Koalitionsvertrag geeinigt, jetzt gilt es, dies in die Phase der politisch-praktischen Umsetzung einzubringen.
Doch der Deutsche wäre nicht der Deutsche, wenn er nicht sofort mit großen Bedenken daher käme und wenn nicht das große Jammern einsetzte. Allen voran die Wirtschaft. „Too little – too late“, also zu wenig sei im Koalitionspapier für die Wirtschaft drin und das Wenige komme zu spät, eine Mobilisierung zum Aufbruch müsse anders aussehen, so als Pars pro Toto die Stimme von Joe Kaeser, Aufsichtsratschef von Siemens Energy.
Ja mei, würde da der gelernte Bayer sagen. Lass sie doch mal machen! Wirtschaft und Gesellschaft in Deutschland brauchen Aufbruchsstimmung, keine Miesepetrigkeit. Und die neue Regierung sollte die Chance haben, das, was sie vorhat, erst einmal umzusetzen. Führung ist gefragt, es allen recht machen wird sie ohnehin nie können. Demokratie bedeutet das ständige Aushandeln von Kompromissen.