Im September 2021 haben die Berlinerinnen und Berliner bei einem Volksentscheid für die Enteignung großer privater Wohnungsunternehmen gestimmt. Passiert ist seitdem nichts.
Carmel Fuhg sitzt an einem kleinen Ecktisch im „Two Planets“. Das kleine Café in Neukölln ist der passende Ort für die Geschichte, die die junge Frau erzählt. Es ist eine Geschichte über einen großen Erfolg, über eine Euphorie, die der Ernüchterung gewichen ist. Über eine Freude, die in Fassungslosigkeit umschlug. Und es ist eine Geschichte, deren Protagonistinnen und Protagonisten offenbar auf verschiedenen Planeten leben.
Carmel Fuhg ist Teil des Kommunikationsteams der Initiative „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“. Steigende Mieten und hohe Profite der Immobilienkonzerne, immer mehr Menschen, die keine bezahlbare Wohnung finden. Und eine Politik, die darauf keine Antworten findet. Das hat die Bürgerinitiative, die von einigen Sozialverbänden unterstützt wird, stark gemacht. „In zehn Jahren haben sich die Mieten verdoppelt, aber die Gehälter nicht“, sagt Carmel Fuhg. Das sei nicht nur für Menschen mit wenig Geld ein immer größer werdendes Problem, sondern „auch schwierig fürs Gewerbe“.
„Auch Kitas haben Mietprobleme“
Dass der Preis für einen Döner von drei auf sechs Euro gestiegen ist, liege ja nicht daran, dass die Budenbesitzer wahllos die Preise erhöhten. Es liege an den hohen Mieten. „Und wenn Menschen weniger Geld haben, weil sie einen zu großen Teil ihres Einkommens für die Wohnung ausgeben müssen, dann bedeutet das, dass sie weniger für Kultur und weniger für Gastronomie ausgeben. Auch Kitas haben inzwischen Mietprobleme“, weiß Carmel Fuhg. Wenn Politiker von mehr sozialem Wohnungsbau sprechen, dann sei das hilfreich – sofern dann auch wirklich gebaut werde. Aber es löse das Problem nicht wirklich. Deshalb lautet die Forderung: Unternehmen, die mehr als 3000 Wohnungen vermieten, sollen enteignet werden.
Ende September 2021, so schien es, hatte die Initiative ihr Ziel erreicht. Den Berlinerinnen und Berlinern wurde pa- rallel zur Bundestags- und Abgeordnetenhauswahl auch der Volksentscheid vorgelegt. Laut Berliner Verfassung musste mindestens ein Viertel der Stimmberechtigten für die Forderung stimmen, damit der Entscheid Erfolg hat. 611.900 Stimmen hätten gereicht. Es waren dann aber sogar etwas mehr als eine Million Berlinerinnen und Berliner, die für die Enteignung stimmten. 57,6 Prozent votierten dafür, 39,8 Prozent dagegen. Der Rest der Stimmen war ungültig.
Der Jubel war gewaltig. Und dann passierte – nichts. Der Senat, damals noch unter Führung der SPD unter Beteiligung von Grünen und Linken, setzte erstmal eine Kommission ein. Die stellte dann nach knapp zwei Jahren fest: „Die Vergesellschaftung“, wie Carmel Fuhg die Enteignung lieber nennt, „ist rechtlich machbar und finanzierbar. Dadurch stürzt sich Berlin in kein Risiko.“ Spätestens jetzt wäre der Moment gewesen, in dem der Senat ein dem Willen der Wählerinnen und Wähler entsprechendes Gesetz vorlegt. Denn ein Volksentscheid ist keine unverbindliche Empfehlung. Dennoch passierte wieder nichts.
Denn nun hatte nach Neuwahlen der Senat gewechselt. Die CDU regiert nun mit der SPD – und damit die beiden Parteien, die sich immer strikt gegen die Enteignung ausgesprochen hatten. Die neue Koalition will „ein Rahmengesetz schaffen“. Das Gesetz soll klären, was die Kriterien bei einer Vergesellschaftung sind. Dabei ist nun nicht nur von Wohnungen, sondern auch von Strom und Wasser die Rede. Es sei ja „grundsätzlich gut, dass anerkannt wird, dass das Grundbedürfnisse sind“, sagt Carmel Fuhg. „Aber das sind ganz andere Sachen mit ganz anderen Kriterien. Das Ganze ist juristischer Humbug.“
Außerdem gebe es einen „Rahmen für die Vergesellschaftung“: das Grundgesetz. In Artikel 15 heißt es: „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden.“ Aufgrund dieses Artikels hätte längst ein Gesetz verabschiedet werden müssen, sagt die Initiative.
Die Sache mit der Expertenkommission sei nicht ganz verkehrt gewesen, findet Carmel Fuhg. Immerhin habe die Kommission viele Dinge geklärt, die fürs Gesetz wichtig sind. Die Sache mit dem Rahmengesetz sei aber eine „riesige Hinhaltetaktik“. Das Gesetz werde „ein Desaster, zum Scheitern verurteilt“. Und genau das sei auch der Plan von CDU und SPD. „Dann wollen sie gegen ihr eigenes Gesetz klagen. Es wird etwa zwei weitere Jahre brauchen, damit das Gesetz vorm Bundesverfassungsgericht geprüft wird. Das wird bewusst gegen die Wand gefahren. Dann wird es heißen: Geht so nicht, haben wir ja gleich gesagt“, vermutet Carmel Fuhg. Aber erstmal wird es wohl ein neues Gutachten zum Rahmengesetz geben. „Da wird zu Tode geprüft. Das ist wie Ankündigungen, dass Wohnungen gebaut oder gekauft werden, ein PR-Coup“, sagt sie. Und es passiert weiterhin nichts.
Aus der Berliner Senatsverwaltung für Finanzen, die die Federführung in dieser Sache hat, klingt das auf FORUM-Anfrage so: „Die schwarz-rote Koalition hat sich darauf verständigt, eine verbindliche verfassungsrechtliche Klärung der Vergesellschaftung zu erreichen. Hierzu plant die Koalition ein Vergesellschaftungsrahmengesetz, das einen Rechtsrahmen und objektive qualitative Indikatoren beziehungsweise Kriterien für eine Vergesellschaftung nach Artikel 15 Grundgesetz in den Geschäftsfeldern der Daseinsvorsorge (zum Beispiel Wasser, Energie, Wohnen) sowie Grundsätze der jeweils erforderlichen angemessenen Entschädigung definieren soll. Es ist vereinbart, dass in diesem Zusammenhang der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren ist.“
Initiative schreibt nun selbst Gesetz
Zur „Umsetzung des Auftrags des Koalitionsvertrags“ haben die beteiligten Senatsverwaltungen für Inneres, Justiz, Finanzen, Stadtentwicklung und Wirtschaft „bereits mehrmals getagt“, teilt eine Sprecherin der Senatsverwaltung für Finanzen mit. Und: „Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass wir uns zu laufenden Verhandlungen nicht näher äußern.“
Für die Initiative ist der Punkt gekommen, selbst zu handeln. „Wir haben uns das zwei Jahre lang angeguckt. Die SPD stand von Anfang an auf der Bremse und die CDU sagt: Unter uns wird nicht enteignet. Was sich die Politik da leistet, ist undemokratisch. Wir können uns anschauen, wie die weiter verschleppen, oder wir machen es selbst“, sagt Carmel Fuhg. Denn: „Die Zeit drängt. Wir haben eine Baukrise und eine Zinskrise. Da wollen die großen Unternehmen Kohle reinbekommen über noch höhere Mieten und Nebenkosten.“
Zusammen mit einer Kanzlei und Wissenschaftlern schreibt die Initiative nun selbst einen Gesetzestext. Das kostet Geld. Aber mehr als 100.000 Euro an Spenden sind bereits eingegangen. Wenn der Text fertig ist, soll es einen neuen Volksentscheid geben. „Beim letzten Mal war es ein Beschlussentscheid, der den Senat beauftragt, alle Schritte einzuleiten. Das war aus damaliger Sicht nicht anders machbar“, erklärt Carmel Fuhg. Das sei nun anders: „Jetzt existiert durch die Kommission eine bessere Expertise. Diesmal wird es ein Gesetzes-Volksentscheid. Das heißt: Die Berlinerinnen und Berliner stimmen über ein fertiges Gesetz ab.“ Ein solches Gesetz müsse der Senat dann sofort umsetzen.
Das Problem sei, die Menschen für einen zweiten Volksentscheid zu mobilisieren. „Viele haben gesagt: Das bringt nichts, die machen eh, was sie wollen. Da können wir inzwischen schwer gegenhalten“, sagt Carmel Fuhg. Aber die Initiative stellt eben nicht nur Forderungen, sondern ist auch in vielen Kiezen organisiert. Und da zeige sich schon, dass es gut ist, wenn man sich organisiert.
Als die Rechnungen mit den Nebenkosten-Nachzahlungen kamen, haben in den Kiez-Gruppen organisierte Mieterinnen und Mieter Widerspruch eingelegt und Nachweise gefordert. „Dann hieß es plötzlich: Sorry, da gab es einen Fehler. Dort, wo Mieterinnen und Mieter nicht organisiert sind, wurden die Rechnungen nicht zurückgenommen“, erzählt Carmel Fuhg. Sie weiß: „Wenn man alleine vor einer 5000-Euro-Rechnung sitzt, ist man nur verzweifelt. Wir brauchen Strukturen, die es ermöglichen, sich zu wehren – nicht nur erleiden, sondern aktiv werden. Viele wissen nicht, welche Möglichkeiten sie haben.“
Das Problem sei: Die Immobilienfirmen und die Politiker leben offenbar in einer anderen Welt als die Menschen, die auf nicht zu teuren Wohnraum angewiesen sind. Das zeige auch der Umgang mit Mieterinnen und Mietern. Carmel Fuhg: „In einer Wohnung ist Asbest. Antwort des Vermieters: Schlagen sie keine Nägel in die Wand. Dass Menschen sich dagegen nicht wehren, weil sie Angst haben, selbst diese Wohnung zu verlieren, zeigt, wie dringend wir handeln müssen.“