Die gesetzlichen Kassen in Deutschland sind in einer prekären Finanzlage. Zusätzliche Gelder sind beantragt, die Koalition ringt darum, wie Reformen auf den Weg gebracht werden können.

Kein glorreicher Einstand, aber das ist in der Gesundheitspolitik Deutschlands auch kaum zu erwarten. Die erste Amtshandlung der neuen Gesundheitsministerin: Nina Warken (CDU) musste aus dem Bundeszuschuss der Krankenkassen vorzeitig 800 Millionen Euro locker machen, um die Geldnot der deutschen gesetzlichen Krankenkassen (GKV) zu lindern. Das hätte verhindert werden können. Ursprünglich verfügten die Kassen über milliardenschwere Rücklagen, 2021 noch in einem Umfang von elf Milliarden Euro. Nachdem Ex-Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) die Krankenkassen in der Corona-Krise angewiesen hatte, ihre Rücklagen aufzubrauchen, um das Gesundheitssystem zu sichern, schmolzen diese Milliarden ab. Damit hatte er das Problem von Beitragserhöhungen in die Zukunft verschoben. So berichtete es jedenfalls der Chef der Techniker Krankenkasse (TK), Jens Baas, in einem Podcast Ende vergangenen Jahres. Die TK ist mit knapp zwölf Millionen Versicherten die größte gesetzliche Krankenkasse Deutschlands. Baas bezeichnete die Maßnahme Spahns als „Beschiss“. Seit der ministeriellen Entscheidung beklagen die Kassen ihre prekäre Finanzlage bei steigenden Ausgaben. Und steuern notgedrungen jetzt mit Beitragsanhebungen gegen.
Nach deutlichen Anhebungen der Zusatzbeiträge auf breiter Front zu Jahresbeginn haben für Anfang Juli sechs Kassen Erhöhungen beantragt, wie die Chefin des Spitzenverbands, Doris Pfeiffer, sagte. Bis Mai habe es bereits acht weitere Anhebungen gegeben. Der Pflegeversicherung droht in diesem Jahr nochmals ein kleines Defizit.
Kassenvorstände laufen Sturm und mahnen
Die Kassenvorstände sind alarmiert. „Die Beitragsspirale darf sich nicht weiter zu Lasten von Versicherten und Arbeitgebern drehen“, mahnt etwa Hans-Jürgen Müller, Vorstandsvorsitzender der Mitgliederversammlung der Innungskrankenkassen (IKK e.V.). „Es ist ein wichtiges Signal, dass Ministerin Warken die prekäre Finanzlage offen anspricht und entschlossenes Handeln ankündigt. Wir brauchen jetzt kurzfristige Maßnahmen zur Stabilisierung der GKV und tiefgreifende Reformen, um die GKV langfristig wieder auf stabile Beine zu stellen.“ Müller betont, dass der finanzielle Überschuss bei den Innungskrankenkassen im ersten Quartal kein Zeichen der Entwarnung sei. Denn die Ausgabendynamik mit Steigerungen von über zehn Prozent im Arzneimittel- und im Krankenhausbereich habe sich auch 2025 fortgesetzt. Den Vorschuss des Bundes müssten die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler im nächsten Jahr ausgleichen. „Das Unterschreiten der Mindestreserve des Gesundheitsfonds ist ein deutliches Warnsignal.“
Ursprünglich soll eine Kommission laut Koalitionsvertrag von Schwarz-Rot bis 2027 Vorschläge für Reformen erarbeiten. So lange können die Kassen jedoch nicht warten. Daher hat einerseits Ministerin Warken bereits Gelder ausgeschüttet, andererseits stellen sich weitere Fragen, welche kurzfristigen Maßnahmen die Kosten senken könnten. Eine schnellere Krankenhausreform zum Beispiel. Die Linke brachte den Vorschlag einer stärkeren Beteiligung von Gutverdienern ein. So sollte die Beitragsbemessungsgrenze laut „Ärzteblatt“ auf 15.000 Euro angehoben werden und langfristig ganz wegfallen. Oberhalb der Bemessungsgrenze bleiben die Kassenbeiträge konstant, auch wenn das Einkommen weiter steigt. Derzeit liegt diese Grenze bei knapp 5.500 Euro. Die SPD diskutiert eine Anhebung um 2.500 Euro, die CDU lehnt eine solche kategorisch ab. Stoff für Koalitionsausschüsse. Denn die Lage ist ernst.
Vorgänger Karl Lauterbach (SPD) hatte zwar darauf bestanden, dass es keine Leistungskürzungen geben dürfe. Ob dies weiterhin Bestand hat, ist unklar. Immerhin: Nach den Beitragsanhebungen wird für dieses Jahr zumindest kein neues Minus erwartet. In den nächsten Wochen und Monaten würden Überschüsse bei den Kassen zu sehen sein, machte Doris Pfeiffer deutlich, fügte aber hinzu: „Das ist nicht, weil es den Kassen so gut geht.“ Die Beitragserhöhungen seien nun „Reparaturkosten“ eines politisch erzwungenen Abbaus einst hoher Reserven – eben jenes Abbaus durch Ex-Minister Spahn.

Nina Warken nun hat bereits signalisiert, dass neue Beitragsanhebungen für Versicherte und Unternehmen vermieden werden sollen. Im Blick steht mehr Geld aus dem Bundeshaushalt über den regulären Zuschuss von 14,5 Milliarden Euro im Jahr hinaus. Die Kassen fordern schnelle Maßnahmen zum Bremsen von Ausgaben. Außerdem müsse der Bund Kosten für die Versorgung von Bürgergeldempfängern als gesamtgesellschaftliche Aufgabe voll übernehmen, was jährlich zehn Milliarden Euro ausmachen würde.
Für die Pflegeversicherung, in der es Anfang 2025 auch eine Beitragsanhebung gab, wird in diesem Jahr noch ein kleines Minus von 166 Millionen Euro erwartet – nach einem Verlust von 1,5 Milliarden Euro im vergangenen Jahr. In den ersten drei Monaten 2025 wurden 90 Millionen Euro Defizit verbucht. „Es wird immer enger“, sagte Verbandschefin Pfeiffer. Ohne zusätzliche Mittel könnten weitere Pflegekassen Liquiditätshilfen benötigen. Es brauche jetzt eine „finanzielle Atempause“, um grundlegende Reformen angehen zu können. Der Kassenverband forderte als Sofortmaßnahmen erneut, dass der Bund die Rentenversicherungsbeiträge für pflegende Angehörige übernimmt und den Pflegekassen Milliardenausgaben aus der Corona-Krise erstattet. Pfeiffer betonte außerdem in dem Gespräch mit den „Stuttgarter Nachrichten“ die Notwendigkeit eines Ausgabenmoratoriums, welches umgehend beschlossen werden müsse: „Das bedeutet, dass sich die Ausgaben der Krankenkassen an den tatsächlichen Einnahmen orientieren. Dadurch werden keine Zahlungen oder Leistungen gekürzt, aber die Honorare und Preise für Krankenhäuser, Ärzte und die Pharmaindustrie steigen dann nur noch so schnell wie die Einnahmen der Krankenkassen.“
Ob die Ministerin dem Spitzenverband und den Kassen entgegenkommt, hängt nicht zuletzt vom Finanzminister ab. Lars Klingbeil (SPD) weiß um die Notlage, zusätzliche Gelder sind aus dem Gesundheitsministerium angefragt. Wie die notwendigen Reformen auf den Weg gebracht werden sollen, darüber müssen die Spitzen der Koalition beraten. Und zwar dringend.