Der Friede in Europa ist in Gefahr – nicht nur aufgrund des Krieges in der Ukraine. FDP-Chef Christian Lindner über die Bedeutung der liberalen Demokratie und deren Schutz.
Herr Lindner, Europa ist vieles, insbesondere aber auch ein Friedensprojekt. Doch die aktuelle politische Lage im Ausland spricht für sich …
Wir haben geglaubt, dass mit der Europäischen Union die Friedens- und Freiheitsordnung in Europa ein für alle Mal gesichert sei. Dass der Frieden in Europa gesichert, die Demokratie gestärkt sei und dass die Marktwirtschaft so überzeugend ist, dass selbst Sozialdemokraten für sie entflammen würden. Und heute stellen wir fest: Viele der wesentlichen Dinge, auf denen unser Wohlstand, unsere Freiheit, unser Frieden basiert, die sind nicht ein für alle Mal erreicht, sondern die müssen im Grunde in jeder Generation neu begründet und teils neu erkämpft werden. 2022 mit dem Angriff Putins auf die Ukraine wurde nicht nur das Recht auf Selbstbestimmung der Ukraine beschnitten. Geben wir uns nicht der Illusion hin, das sei eine Konfliktsituation zwischen der Ukraine und einem Aggressor Russland. Dort geht es auch um uns. In der Ukraine wird nicht nur das Leben der Menschen und das Recht auf Selbstbestimmung dieses Volkes verteidigt, sondern auch die Frage von Frieden und Freiheit in Europa insgesamt. Erreicht Putin in der Ukraine seine Kriegsziele, dann rückt der Krieg näher an uns ran. Dann werden die baltischen Staaten, unsere Partner und Freunde in Osteuropa und die nordischen Staaten, Norwegen, Finnland, Schweden, sich noch bedrohter fühlen als heute. Es geht auch um unsere Werte, um unsere Freiheit und unseren Frieden. Die Ukraine ist unsere „First Line of Defense“. Und deshalb muss die Durchhaltefähigkeit der Ukrainer immer größer sein als die Bösartigkeit, die von Putins Krieg ausgeht.
Wie wichtig ist es da, an Freiheit und Demokratie festzuhalten?
Als Beispiel muss ich da leider Ungarn nennen, wo die liberale Demokratie, also eine Demokratie mit Rücksichtnahme auch auf unterlegene Meinungen, durch die Programmatik von Viktor Orbán ersetzt wird. Durch eine illiberale Demokratie. Also eine Mehrheitsherrschaft, in der die Mehrheit der Minderheit die Kommandos erteilt. Das ist der Unterschied zu unserer liberalen Demokratie: In der liberalen Demokratie achtet auch die Mehrheit die Minderheit. In Deutschland haben wir auch Vertreterinnen und Vertreter einer illiberalen, sogar anti-liberalen Demokratie.
Sehen Sie hier also auch eine Gefahr in und für Deutschland?
Wir haben lange genug geglaubt, dass das in Deutschland nicht möglich wäre, aber seit nun zehn Jahren baut sich an den Rändern etwas auf. Inzwischen können wir nicht mehr von einem Rand sprechen, sondern es ist eine starke, etablierte rechtspopulistische Kraft. Ich weiß, dass es in unserem Land Unzufriedenheit gibt. Demokratie, ländlicher Raum, Migration, die Frage einer technologieoffenen oder immunisierten Klimapolitik – es gibt viele Spannungen in unserer Gesellschaft. Und manche glauben nun, sie bräuchten deshalb eine Alternative zu den sogenannten Altparteien. Ich habe Verständnis dafür, wenn man eine andere Politik will. Ich aber bin überzeugt, auch wenn ich hier und da eine andere Politik will, dass ich kein anderes System als unsere liberale Demokratie wollen kann. Denn heute geht es vielleicht um die Remigration von Menschen, die einmal zu uns gekommen sind. Da fühlen sich manche gar nicht angesprochen. Aber heute sind es Menschen mit Migrationsgeschichte, morgen ist es vielleicht der Selbstständige, der zu erfolgreich und zu international ist. Oder es ist die falsche sexuelle Identität. Oder auf einmal in der Zukunft sind vielleicht ältere Menschen zu teuer für die Sozialsysteme, also werden sie ausgegrenzt oder durch Entscheidungen in den sozialpolitischen Fragen benachteiligt. Wer heute bei diesen Fragen schweigt, der kann morgen erleben, dass er in einem anderen, einem antiliberalen Deutschland aufwacht. Wer schweigt, stimmt zu. Es ist jetzt eine Zeit gekommen, in der politische Neutralität zu einem Luxus geworden ist, den sich niemand mehr erlaubt.