Das Saarland hat eine lange Tradition in Sachen Inklusion. Für Bildungsministerin Christine Streichert-Clivot ist es keine Frage, ob, sondern „wie konsequent“ die Umsetzung gelingt. Das treffe bisweilen auf Widerstand und erfordere Mut.
Frau Ministerin Streichert-Clivot, Deutschland hat sich seit 2009 zur Inklusion verpflichtet. Trotzdem hält die Diskussion darüber an. Warum ist das so?
Inklusion ist ein Menschenrecht! Viel zu lang wurde in Deutschland Inklusion fast ausschließlich als Bildungsthema betrachtet. Doch Inklusion ist ein Querschnittsthema, denn es geht um weit mehr: um gleichberechtigte Teilhabe für alle in allen Lebensbereichen. Seit der UN-Behindertenrechtskonvention ist klar, dass wir unsere Systeme grundlegend verändern müssen. Zu inklusivem Handeln brauchen wir Mut. Jede und jeder profitiert von Inklusion – das wird oft übersehen. Beispielsweise kann ein Kind mit Höreinschränkungen in einer Schule durch schallschützende Maßnahmen besser verstehen. Von einem ruhigeren Umfeld profitieren allerdings alle. Auch barrierefreie Zugänge zu Gebäuden erleichtern einerseits den Zugang für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen, sind aber auch ein Gewinn für alle! Mut bedeutet, Veränderungen im System nicht nur aus der individuellen Bedarfsperspektive zu sehen, sondern klar zu machen, dass Vielfalt unsere Schulen und unsere gesamte Gesellschaft besser macht. Das kostet Geld, vor allem fordert es aber Umdenken und trifft dadurch auch auf Widerstand. Aber: Es lohnt sich! Das zeigen uns Länder, in denen Inklusion ohne Einschränkungen gelebt wird, wie zum Beispiel Kanada.
Was ist eigentlich das Ziel von Inklusion – und ist das erreichbar?
Jedes Kind hat, unabhängig von seinen Fähigkeiten, seiner Herkunft oder seinen Lebensumständen, das Recht auf gleichberechtigte Bildung und Teilhabe. Im Saarland haben wir diesen Anspruch im schulischen Bereich im Gesetz ganz klar formuliert: Unsere Schulen müssen sich an der Vielfalt der Kinder ausrichten – nicht umgekehrt. Kein Kind darf ausgeschlossen werden, weil es eine Beeinträchtigung hat. Inklusion bedeutet, dass alle Kinder gemeinsam lernen, gemeinsam leben, sich gegenseitig respektieren und gemeinsam wachsen. Denn inklusive Bildung bereitet auf ein Leben in einer Gesellschaft vor, die niemanden zurücklässt. Die Frage ist, wie wir Inklusion konsequent umsetzen.
Ist Inklusion überall möglich und sinnvoll, wo sind trotz Rechtsanspruch Grenzen?
Es darf keine Frage sein, ob wir Inklusion umsetzen, sondern wie konsequent wir es tun. Gleichberechtigte Teilhabe muss das Ziel allen staatlichen Handelns sein. Es darf nicht von Menschen mit besonderen Bedürfnissen gefordert werden, dass sie sich an Strukturen anpassen, die sie weiterhin ausschließen. Die Grenze ist dann überschritten, wo Menschen aufgrund von Behinderung, Herkunft oder anderen Merkmalen benachteiligt, ausgegrenzt und diskriminiert werden. Inklusion darf kein leeres Versprechen sein, sie muss bedeuten, dass wir unsere Systeme so umbauen, dass sie wirklich für alle funktionieren.
Welchen Weg geht das Saarland bei der Inklusion im Unterschied zu anderen Ländern und mit welchen Erfahrungen?
Im Saarland herrscht breiter Konsens: Wir wollen eine inklusive Gesellschaft! Bereits in den 1970er-Jahren haben wir die Grundlage für inklusive Bildung gelegt. Kinder mit und ohne Behinderung können seitdem gemeinsam Kitas und Schulen besuchen. Die inklusive Schulgesetzgebung aus dem Jahr 2014 hatte dann das Ziel, die Unterstützung der Regelschulen zu verbessern: mehr Handlungsmöglichkeiten, multiprofessionelle Teams, flexible Hilfen und Förderung statt Diagnosen. Hier wurde festgelegt, dass ab dem Schuljahr 2014/2015 alle schulpflichtigen Kinder in die Klassenstufe 1 der regulären Grundschule eingeschult werden – es sei denn, die Eltern beantragen ausdrücklich den Besuch einer Förderschule. Unser Ansatz, die Kind-Umfeld-Diagnostik, die den medizinischen Blick auf Beeinträchtigungen überwindet, wurde über die Landesgrenzen hinaus anerkannt und wissenschaftlich begleitet. Unser bildungspolitisches Ziel bleibt klar: diskriminierungsfreie, gemeinsame Bildung für alle, mit Unterstützung, sowohl in Schulen als auch im Kulturbereich. Inklusion bedeutet, nicht über Menschen mit Behinderung zu sprechen, sondern gemeinsam zu gestalten und sie aktiv einzubinden.
Was sind die besonderen Herausforderungen und wie werden Schulen dabei begleitet?
Herausforderungen entstehen, wenn Räume und Personal fehlen, Krisen langfristige Planungen erschweren und so die individuelle Entwicklung hintenansteht. Auch Bedürfnisse der Kinder bleiben nicht gleich. Medizinischer Fortschritt führt zu veränderten Bedarfen. Unsere Bildungseinrichtungen leisten Großartiges, um allen Kindern und Jugendlichen eine gleichberechtigte Teilhabe zu ermöglichen. Und dabei unterstützen wir sie. Im Saarland denken wir Inklusion von Anfang an. Jede politische Entscheidung, jede neue Maßnahme muss deshalb daran gemessen werden, ob sie Teilhabe ermöglicht oder neue Hürden schafft. Unser Anspruch ist es, Barrieren abzubauen. Und dazu braucht es auch eine enge Zusammenarbeit zwischen Schule, Jugendhilfe, Eingliederungshilfe und dem Gesundheitsbereich. Das Denken in unterschiedlichen isolierten Zuständigkeiten verhindert Inklusion. Zu glauben, dass Schülerinnen und Schüler eine homogene Masse sind, auch.
Wie werden Eltern begleitet?
Unsere Bildungseinrichtungen sind der primäre Ansprechpartner für Eltern. Wir haben vielfältige Angebote zur Qualifizierung des Personals geschaffen, von der Ausbildung bis hin zu Weiterbildungen und Prozessbegleitungen durch das Kompetenzzentrum Inklusion. Besonders wichtig ist die multiprofessionelle Zusammenarbeit in den Einrichtungen wie mit AFI-Kräften (Arbeitsstelle für Integrationspädagogik), Frühförderung, Sonderpädagogik und vielen weiteren Partnern. Auch im Ministerium sind wir jederzeit für Eltern da, um Lösungen zu finden und umzusetzen. Inklusion wird dabei in alle Beratungs- und Unterstützungsprozesse integriert.
Gibt es Beispiele für besonders gelungene Inklusion und/oder neue Ansätze?
Alle unsere Schulen sind gesetzlich dazu verpflichtet, Inklusion in ihre Konzepte und Praktiken zu integrieren. Diese müssen immer wieder neu hinterfragt werden, da die Lösungen vor Ort je nach Schule und ihren Bedingungen variieren. Besonders hervorheben möchte ich die Gemeinschaftsschulen, die seit Beginn in enger Kooperation mit Fortbildungsinstitutionen das Thema Inklusion kontinuierlich weiterentwickeln. Hier wird ein regelmäßiger Austausch mit Schulvertreterinnen und -vertretern gepflegt und jährlich eine Fortbildungstagung für alle Mitarbeitenden der multiprofessionellen Teams angeboten.
Welche Rolle werden künftig Förderschulen spielen?
Die Förderschulen spielen im Übergang zu einem inklusiven Bildungssystem nach wie vor eine wichtige Rolle, da sie den Eltern die Wahlfreiheit lassen und unterschiedliche Bedürfnisse berücksichtigen.
Gibt es Pläne, was noch in dieser Legislaturperiode auf den Weg gebracht werden soll?
Die Landesregierung setzt auf einen umfassenden Prozess, um Inklusion als Querschnittsthema in allen Bereichen zu verankern. Im Bildungsbereich sind bereits konkrete Maßnahmen angestoßen worden wie die Unterstützung der inklusiven Schulentwicklung, die Verbesserung der Beratungsstrukturen im Bereich Autismus und Bildung sowie die Erweiterung der personellen Unterstützung der Schulteams durch Fachkräfte. Hinzukommt der Ausbau der multiprofessionellen Arbeit in Kitas und Schulen sowie eine angemessene berufliche Orientierung auch für Kinder mit besonderen Entwicklungsbedingungen. Für den weiteren Erfolg müssen alle Verantwortungstragenden das Thema Inklusion weiterhin als handlungsleitend begreifen und in allen Maßnahmen sicherstellen, dass niemand ausgeschlossen wird. Nur so können wir die erreichten Fortschritte sichern und weiter ausbauen.