Die Nachbarin auf der Straße nicht erkannt? Solch peinliche Momente hatte wohl jeder schon mal. Für Menschen, die unter Gesichtsblindheit leiden, sind sie der Normalzustand.
Da steht die Frau und lächelt, ganz sicher kennt man sie, nur woher? Viele Menschen haben Probleme damit, Bekannte auf Anhieb zu erkennen, vor allem bei unverhofften Begegnungen in unerwarteter Umgebung. Doch Ulrich Holzbaur könnte so etwas auch mit seiner Ehefrau oder mit seinen Kindern passieren, zumindest dann, wenn sie neue Kleidung tragen oder ihre Stimmen nicht klar zu hören sind. Denn dann fehlen entscheidende Anhaltspunkte, die seine Angehörigen normalerweise für ihn erkennbar machen.
Holzbaur leidet an Prosopagnosie, im Volksmund: Gesichtsblindheit. Der Begriff ist streng genommen nicht ganz korrekt, weil keine Blindheit vorliegt. Stattdessen können Betroffene verschiedene Gesichter einfach nicht unterscheiden. Hat jemand lange Haare oder einen Bart? Markante Wangenknochen oder ein rundliches Antlitz? Blaue Augen oder braune? Die meisten Menschen speichern solche Informationen unbewusst und automatisch ab. Anders bei Gesichtsblinden. Für sie sieht jedes Gesicht gleich oder zumindest sehr ähnlich aus.
Zwei bis drei Prozent der Bevölkerung
Ein Team des Universitätsklinikums Münster hat im Jahr 2001 berechnet, dass weltweit schätzungsweise zwei bis drei Prozent der Bevölkerung an Gesichtsblindheit leiden – also Hunderte Millionen von Menschen. Mit dem „Cambridge Face Memory Test“ gibt es zudem einen wissenschaftlich fundierten Online-Test, der zeigt, ob man gesichtsblind ist. Auch Promis wie Brad Pitt oder die schwedische Kronprinzessin Victoria sind betroffen. Trotzdem ist das Phänomen außerhalb von Fachkreisen derart unbekannt, dass die meisten noch nie davon gehört haben. Was den Leidensdruck vieler Betroffener noch erhöht, weil sie nicht wissen, wo das Problem liegt. Und irgendwie ihren Alltag meistern müssen.

unter Prosopagnosie leidet - Foto: Steve Przybilla
Ulrich Holzbaur erkennt selbst sehr vertraute Menschen anhand ihrer Gestik, ihrer Stimme und ihres Ganges. Oder auch nicht. Besonders schwierig wird es, wenn er viele Bekannte auf einmal trifft. Zum Beispiel bei einer Nachhaltigkeitskonferenz im November in Stuttgart, auf die sich Holzbaur schon lange gefreut hat. Der pensionierte Professor, Schwerpunkt Nachhaltigkeit und Projektmanagement, gönnt sich an einem Stehtisch eine Limonade. Bei der Veranstaltung dreht sich alles um Streuobstwiesen, Waldwirtschaft und Wildkatzen – Themen, für die sich der 69-Jährige interessiert. Wäre da nicht diese unterschwellige Sorge, die Menschen wie ihn bei solchen Anlässen umtreibt: Hoffentlich geht alles gut. Hoffentlich kommt niemand, den er kennen müsste – und doch nicht erkennt.
Als die Mittagspause beginnt, strömen die Teilnehmenden ins Foyer. „Die Rede des Staatssekretärs hat mir gefallen“, sagt Holzbaur. „Eigentlich müsste ich jetzt die Gelegenheit nutzen, um ein paar Worte mit ihm zu wechseln. Aber keine Chance. Zu wem würde ich denn hingehen?“ Wie soll er den Politiker unter all den Anzugträgern erkennen? Ein auffällig buntes Kleidungsstück oder eine knallige Brille würden als Signal genügen. Aber bei all dem Grau-in-Grau wird’s schwierig.
Allein herumstehen muss der Professor trotzdem nicht. Schon nach wenigen Minuten stürmt ein Mann mit ausgestreckter Hand auf ihn zu – so schnell, dass Holzbaur kaum Zeit bleibt, aufs Namensschild zu achten. Während er noch zögert, legt sein Gesprächspartner los: „Wir kennen uns, wir sind sogar per Du.“ Holzbaur lächelt verlegen, dann antwortet er: „Mit Gesichtern hab’ ich echt Schwierigkeiten.“ Sein Gegenüber, das nichts von der Gesichtsblindheit weiß, reagiert locker: „Dafür habe ich immer Probleme mit Namen.“ Das ging noch mal gut. Holzbaur ist erleichtert.
Situationen wie diese kennt er schon seit seiner Kindheit. „In der Grundschule sollten wir einmal unsere Eltern zeichnen“, erzählt Holzbaur. „Ich konnte das nicht. Punkt, Punkt, Komma, Strich – das ist alles, was ich hinbekommen habe. Ich hatte ihre Gesichter einfach nicht vor Augen.“ Seine Eltern denken sich nichts dabei, selbst als er bei Familienfeiern die eigenen Verwandten nicht erkennt und sie siezt.
Holzbaurs Problem wächst sich nicht aus. Auch als Erwachsener kommt es zu solchen Erlebnissen. Mal geht er an der Hockeytrainerin seiner Kinder vorbei, ein anderes Mal steht er ahnungslos neben dem Vorstandsvorsitzenden einer Bank, mit dem er kurz vorher noch zu tun hatte: „Als er dann sagte: ,Sie wissen gar nicht, wer ich bin, oder?‘, war mir das natürlich peinlich.“ So geht es vielen Betroffenen.
Immerhin weiß Holzbaur jetzt, dass es so etwas wie Prosopagnosie überhaupt gibt. „Erst vor 15 Jahren habe ich durch Zufall einen wissenschaftlichen Artikel darüber gelesen. Plötzlich ergab alles Sinn.“ Zwar wusste er schon vorher, wie schwer ihm das Erkennen von Personen fällt. Dass er ihre Gesichter aber ganz anders sieht als die Mehrheit der Bevölkerung, war ihm nicht klar. „Wie auch? Man weiß ja nicht, wie andere Menschen ihre Umgebung wahrnehmen.“
In unterschiedlichen Ausprägungen
Obendrein wird Prosopagnosie weder als Krankheit noch als Behinderung anerkannt. „Wir müssen auch aufpassen, nicht von ,Gesunden‘ und im Umkehrschluss von ,Kranken‘ zu sprechen“, sagt Claus-Christian Carbon, Psychologieprofessor an der Universität Bamberg, der sich seit über 20 Jahren mit Prosopagnosie befasst. „Das Wichtigste“, sagt er, „ist, zu verstehen, dass Gesichtsblindheit keine Blindheit ist, sondern dass Gesichter als solche durchaus erkannt werden.“ Auch Alter, Geschlechtsmerkmale und Emotionen seien kein Problem. Nur: Das (Wieder-)Erkennen funktioniere nicht. Warum das so ist, wird seit einigen Jahren intensiv erforscht. Vieles ist noch unklar, etwa zur Frage, inwieweit genetische Faktoren eine Rolle spielen. Was mit Sicherheit feststeht: Bei Gesichtsblindheit handelt es sich um ein neurologisches Phänomen. Claus-Christian Carbon kann dies bei seinen Untersuchungen nachweisen. Er befestigt Elektroden am Kopf der Testpersonen (EEG) und durchleuchtet gleichzeitig ihr Gehirn mit einem Magnetoenzephalographen (MEG). Dabei zeigen Gesichtsblinde eine verringerte Aktivität in den Gehirn-Arealen, die für die Gesichtserkennung zuständig sind.
„Ein Mensch, der von Prosopagnosie betroffen ist, nimmt die Umwelt kaum anders wahr“, weiß Carbon, „zumindest solange sie keine Gesichter beinhaltet.“ Über Hilfsmittel wie die Kleidung können Gesichtsblinde ihre Bekannten also durchaus identifizieren. „Ich sehe alles“, betont auch Ulrich Holzbaur, während er an seinem Stehtisch auf weitere Begegnungen wartet. „Aber wenn ich die Augen zumache, kann ich die Gesichter nicht mit meiner Umgebung abgleichen.“ Auch das Fernsehen fällt ihm schwer. Den „Tatort“ schaut er nur, wenn seine Frau daneben sitzt und ihm hilft, die Charaktere zuzuordnen. Besonders bei Schauspielern mit ähnlichen Frisuren fällt ihm das schwer. Allein auf der Straße hat er diese Hilfe nicht. Doch auch dort kommt es selten zu unangenehmen Situationen: Holzbaur weiß schlicht nicht, wie oft ihn Arbeitskolleginnen oder Nachbarn für unfreundlich halten, wenn er ahnungslos an ihnen vorbeigeht. Jedenfalls hat er eine solche Reaktion noch nie erlebt. „Die Leute sagen nicht, dass sie beleidigt sind, sondern stecken es einfach weg.“ Um solche Missverständnisse zu vermeiden, hat er beschlossen, offen mit seiner Gesichtsblindheit umzugehen. Auch seinen Studierenden erzählt er davon. „Anfangs hatte ich die Sorge, dass sich bei Prüfungen jemand für jemand anderen ausgibt“, sagt Holzbaur. „Aber das ist zum Glück nicht passiert.“ Er lacht. „Jedenfalls nicht, dass ich wüsste.“
Gesichtsblindheit scheint in unterschiedlichen Ausprägungen vorzukommen. Da gibt es zum einen die leichten Fälle: Personen, die weitläufige Bekannte nicht immer zuordnen können. Zum anderen aber auch die extreme Variante: „In Facebook-Gruppen erzählen manche, dass sie ihre eigene Frau nicht erkennen oder das falsche Kind aus der Schule abholen“, weiß Holzbaur. „Das stelle ich mir richtig schlimm vor.“ Bei ihm selbst sei das noch nie vorgekommen. Wäre eine solche Verwechslung aber theoretisch möglich? „Auf einem vollen Marktplatz vielleicht“, räumt Holzbaur ein. „Oder wenn sie andere Kleidung tragen als sonst.“ Er kenne natürlich die Stimme und das Verhalten seiner Kinder. „Aber eine gewisse Unsicherheit bleibt.“
Und dann ist da noch die Selbstwahrnehmung. Der Dokumentarfilm „Lost in Face“ aus dem Jahr 2020 porträtiert eine Frau, die sich nicht einmal selbst erkennt. Beim Blick in den Spiegel sagt sie: „Die Frau trägt mein Nachthemd. Also muss ich es sein.“ Auch solche Momente kennt Ulrich Holzbaur. „Ganz so extrem ist es bei mir nicht“, sagt er. „Aber manchmal sage ich im Spaß zu meinem Spiegelbild: ‚Ich kenn dich zwar nicht, aber rasier dich trotzdem.‘“ Auch bei Fotos hat er mitunter Probleme: Selbst die engsten Verwandten erkennt er nicht immer.
Dafür konnte er während der Pandemie endlich mal durchatmen. Während andere über endlose Videokonferenzen klagten, kam er kein einziges Mal in Verlegenheit. Wie auch – die Namen der Konferenzteilnehmer wurden ja stets eingeblendet.