Prof. Dr. C. Katharina Spieß, Direktorin des Bundesinstituts für Bevölkerungsentwicklung, spricht über die zuletzt gesunkene Geburtenrate, Beispiele einer familienfreundlichen Politik und die Lebenszufriedenheit von Paaren mit Kindern.
Frau Prof. Spieß, wie hat sich im Lauf der vergangenen Jahrzehnte die Geburtenrate hierzulande entwickelt und welche Hauptgründe sehen Sie für diese Entwicklung?
Wenn Sie die letzten Jahrzehnte betrachten, verzeichnen wir einen Anstieg der Geburtenrate. Am Ende der Pandemie ist die Geburtenrate allerdings auf den tiefsten Stand seit 2009 gesunken. 2023 lag sie bei 1,35 Kindern pro Frau. Das ist eine niedrige Rate. Woran liegt das? Dazu gibt es unterschiedliche Gründe: Der rapide Abfall hängt damit zusammen, dass wir zurzeit viele Krisen in der Welt erleben. Die Verunsicherung bei den Menschen wirkt sich nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Ländern wie zum Beispiel Schweden negativ auf die realisierten Geburten aus.

Wie wirkt sich nach Ihren Daten die demografische Entwicklung Deutschlands auf die Geburtenrate in Zukunft aus?
Dadurch dass wir als Bevölkerung älter werden, die Babyboomer in den Ruhestand gehen und überdies schon seit einiger Zeit nicht mehr in gebärfähigem Alter sind, werden weiterhin auch weniger Kinder geboren werden. Allein aufgrund der Tatsache, dass es weniger Paare gibt, die sich überhaupt für Kinder entscheiden können. Außerdem verzeichnen wir einen leichten Rückgang darin, wie viele Kinder Menschen sich wünschen.
Heißt das, wirtschaftliche Unsicherheiten, Kriege und steigende Lebenshaltungskosten beeinflussen schon die Entscheidung für Kinder und Familiengründung?
Wie wir anhand mehrerer Studien sehen können, beeinflusst die eigene wirtschaftliche Situation gerade bei Männern sehr stark die Entscheidung mit ihrer Partnerin ein Kind zu bekommen. Man weiß inzwischen, dass sich auch bei Frauen die allgemeine wirtschaftliche Situation, aber auch die Unsicherheit über die eigene wirtschaftliche Situation auf Kinderwünsche auswirkt.
Inwiefern nehmen neuere, modernere Arbeitsmodelle Einfluss auf die Familienplanung von Paaren heutzutage?
Vorab muss ich dazu anmerken, dass die aktuelle Studienlage dazu noch nicht viel hergibt, um die Frage wissenschaftlich fundiert beantworten zu können. Die Möglichkeiten, im Homeoffice zu arbeiten, haben sich durch Corona sehr stark verändert. Sie können sich vorstellen: Bis wir dazu verlässliche und repräsentative Daten haben, wird es noch etwas dauern. Aber wir wissen, dass die Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbsarbeit ganz wichtig ist bei der Entscheidung ein Kind zu bekommen. Damit würden vermutlich die vermehrten Möglichkeiten für Homeoffice, die eine bessere Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbsarbeit ermöglichen, dazu führen, dass sich Menschen eher entscheiden, ihre Kinderwünsche umzusetzen. Das hängt aber noch von anderen Faktoren ab.

Vor welchen Herausforderungen stehen Paare, die einen Kinderwunsch haben, aber aufgrund beruflicher Anforderungen noch zurückhaltend sind, den umzusetzen?
Es gibt unheimlich viele Gründe, warum Kinderwünsche umgesetzt werden oder nicht. Es gibt unerfüllte Kinderwünsche, das heißt Paare können beispielsweise aufgrund von biologischen Gegebenheiten ihre Kinderwünsche nicht realisieren. Was häufig außer Acht gelassen wird, ist, dass nicht der richtige Partner da ist, mit dem man einen Kinderwunsch umsetzen will oder dieser sehr spät gefunden wird. Daneben können auch psychologische Gründe eine Rolle spielen. Auch die Rahmenbedingungen für Familien haben eine Bedeutung, sie werden durch die Familienpolitik beeinflusst. Auch vieles, was der Arbeitgeber, und die Arbeitsmarktpolitik beeinflussen kann, haben einen Einfluss. Man weiß zum Beispiel, dass befristete Arbeitsverhältnisse Paare daran hindern können, den Kinderwunsch zeitnah umzusetzen. Bei familienpolitischen Maßnahmen sind es vor allem Infrastrukturangebote, wie Kindertageseinrichtungen, die für Paare mit Kinderwunsch wichtig sind. Bekannt ist so zum Beispiel, dass der Ausbau der Kindertagesbetreuung dazu beigetragen hat, dass die Geburtenrate vor einigen Jahren zugenommen hatte.
Welche psychischen Belastungen erleben werdende Eltern heutzutage und welche Unterstützungsmöglichkeiten gibt es?
Lassen sie mich hier das Beispiel Südkorea nennen, welches die niedrigste Geburtenrate weltweit hat. Warum ist das so? Einer von mehreren Faktoren ist, dass der gesellschaftliche Druck auf Eltern sehr groß ist: Es wird von ihnen erwartet, dass sie selbst sehr viel in die Bildung ihrer Kinder investieren. Auch in Deutschland fühlen einige Paare, die sich für ein Kind entschieden haben, einen großen Druck. Nicht verlässliche Öffnungszeiten von Kindertageseinrichtungen stellen so beispielsweise eine große Belastung für Eltern dar. Gerade Eltern mit jungen Kindern waren in der Pandemiezeit extrem belastet, bei ihnen war ein großer Rückgang in der Lebenszufriedenheit festzustellen.
Wo steht Deutschland mit Blick auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf im EU- und internationalen Vergleich?
Im EU-weiten Vergleich liegen wir im Mittelfeld. In den letzten Jahren hat sich in Deutschland sehr viel getan. Wir sind mit dem Ausbau der Kindertagesbetreuung gerade im U3-Bereich massiv vorangeschritten. Was allerdings dabei vergessen wird, dass durch diesen Ausbau die Nachfrage zugenommen hat, weil Kindertageseinrichtungen immer besser angenommen wurden. Aus diesem Grund sind viele Bedarfe trotz Ausbau immer noch ungedeckt. Wir ziehen jetzt mit dem Ausbau der ganztätigen Betreuung von Grundschulkindern nach. Das ist wichtig, denn oft wird vergessen, dass es für Eltern sehr schwierig ist, die Betreuung nach dem Grundschulunterricht zu organisieren, nachdem das Kind in einer Kita ganztags betreut wurde. Ab 2026 gilt in Deutschland der Rechtsanspruch auf eine ganztägige Betreuung von Grundschulkindern. Ganz wichtig ist mir zu betonen, dass das gut umgesetzt wird. Auch Arbeitgeber können noch einiges mehr für die Vereinbarkeit von Erwerbs- und Familienarbeit tun.

Was meinen Sie mit „guter Umsetzung“ des Rechtanspruchs?
Darunter verstehe ich eine gute pädagogische Qualität. Dies ist auch für Eltern wichtig, sie wollen wissen, dass ihr Kind gut betreut wird. Erst recht dann, wenn die Angebote stark in Anspruch genommen werden. Wir am BiB haben Studien veröffentlicht, die zeigen, dass Eltern bereit sind ihre Arbeitszeit auszudehnen, wenn zum Beispiel Kitas sich durch eine gute pädagogische Qualität auszeichnen.
Von welchen Best-Practice-Beispielen kann Deutschland lernen, um familienfreundlicher zu werden?
Generell relevant ist das familienpolitische Klima in einem Land. Oft herangezogen wird Frankreich, ein Land, in dem mehr Paare drei oder mehr Kinder bekommen. Ein Zweig der Sozialversicherung ist dort eine Familienkasse, das heißt der Familie wird dort ein hoher Stellenwert beigemessen. Auch das hat einen Einfluss auf die Geburtenraten eines Landes. Vielfach werden auch die skandinavischen Länder genannt, da sie beim Ausbau der Infrastruktur für Familien vorangeschritten sind, was zum Beispiel die Kindertagesbetreuung anging.
Wenn Sie auf die staatlichen Maßnahmen zur Förderung von Familien schauen, sehen Sie da Verbesserungsbedarf?
Ja, ich sehe weiterhin einen großen Verbesserungsbedarf bei der Kindertagesbetreuung und bei der Betreuung von jungen Schulkindern. Da muss sowohl in der Quantität, also bei der Anzahl der Plätze, als auch bei der pädagogischen Qualität noch mehr gemacht werden. Zudem ist wichtig, dass das Elterngeld erhalten bleibt, ich erinnere dabei an die Debatte kurz vor der vorgezogenen Bundestagswahl. Eine verlässliche Politik ist ganz wichtig, damit sich Eltern darauf verlassen können, wie lange sie in Elternzeit gehen können. Das Kindergeld hat keinen signifikanten Einfluss auf die Geburtenrate, auch wenn es wichtig ist für bestimmte Gruppen. Aber die große Evaluation der Familienpolitik vor einigen Jahren hat gezeigt, dass insbesondere die Kindertagesbetreuung sehr effektiv ist, wenn wir unterschiedliche familienpolitischen Ziele betrachten.
Sehen Sie auch Reformbedarf, wenn es darum geht, vor allem Frauen den Wiedereinstieg in den Beruf nach der Geburt ihres Kindes zu erleichtern?
Der Wiedereinstieg hat viel mit der Kindertagesbetreuung zu tun. Deshalb ist für Frauen wie für Männer sehr wichtig, dass wir diesen nach der Elternzeit, also ab dem zweiten Lebensjahr ermöglichen. Wir wissen zwar, dass in manchen Regionen – insbesondere in Ostdeutschland – vor dem Hintergrund der sinkenden Geburtenrate teilweise zu viele Kitaplätze vorhanden sind. Aber gerade in den Städten gibt es immer noch ungedeckte Bedarfe im Kita-Bereich. Es geht jedoch nicht so sehr um den Wiedereinstieg. Der wird durchaus realisiert, aber vielfach „nur“ in Teilzeit oder auch als Minijob. Frauen verharren vielfach darin, auch wenn ihre Kinder nicht mehr in einem Betreuungsalter sind. Das hat viel mit der deutschen Familienpolitik zu tun, weil durch das Ehegattensplitting oder die Minijob-Regelung, es für Paare attraktiv sein kann, wenn Mütter ihre Erwerbsarbeit nicht weiter ausdehnen. Da muss familienpolitisch noch viel mehr getan werden, um Anreize zu schaffen, das Erwerbsvolumen zu erweitern.
Inwiefern wirken sich unbefristete Arbeitsverhältnisse und unsichere Job-Perspektiven auf die Familienplanung aus? Gibt es dazu Studienmaterial?
Studien haben gezeigt, dass sich Unsicherheiten diesbezüglich in der Tat auswirken können, da dies ja etwas mit der eigenen wirtschaftlichen Situation zu tun hat.

Hat sich in den vergangenen Jahrzehnten die Einstellung junger Menschen gewandelt, also darauf bezogen, Kinder zu bekommen und eine Familie zu gründen?
Letztendlich ist Familie immer noch sehr en vogue. Wenn Sie auf die Zahl der gewünschten, idealen Kinder schauen, ist da ein leichter Rückgang von 2,1 auf 1,9 Kinder festzustellen. Es hängt auch sehr stark davon ab, welche Altersgruppe man befragt. Die Studienlage zeigt, dass religiöse Paare sich durchaus mehr Kinder wünschen als weniger religiöse Paare. Es gibt einen gewissen Trend, doch den würde ich nicht überbewerten, weil Familie immer noch für viele Jugendliche einen sehr hohen Stellenwert hat.
Wie zufrieden sind Familien in Deutschland mit ihrem eigenen Leben?
Zunächst einmal möchte ich vorweg sagen, dass es ein ganz wichtiger Indikator für die mentale Gesundheit ist, wie zufrieden man mit dem eigenen Leben ist. Wir wissen, dass im Durchschnitt bei Paaren, die mit Kindern zusammenleben, durchaus der Anteil der sehr Zufriedenen höher ist als bei Paaren ohne Kinder. Auf der anderen Seite weiß man auch, dass im Mittel bei Alleinerziehenden der Anteil der wenig zufrieden sehr hoch ist. Gerade diese Gruppe hat einen großen Unterstützungsbedarf.
Entscheiden sich tendenziell immer mehr Paare dazu, eher spät oder gar nicht Eltern zu werden?
Das ist sehr stark vom Bildungshintergrund abhängig. Es ist so, dass aufgrund der Bildungsexpansion (bezeichnet die enorme Ausdehnung des Bildungswesens in den vergangenen Jahrzehnten, vor allem der Ausbau der Realschulen, Gesamtschulen, Gymnasien, Fachschulen, Fachhochschulen und Universitäten; Anm. d. Red.) auch Frauen gleichauf mit Männern liegen, was Studienquoten angeht. Da ein Studium eine gewisse Zeit in Anspruch nimmt, dauert es heutzutage länger bis die Lebenssituation eingetreten ist, in der sich Paare entscheiden, eine Familie zu gründen. Gleichwohl gibt es Bemühungen, ein Studium mit Kind zu fördern. Ein wenig mag auch die „Individualisierung der Gesellschaft“ dazu beitragen, dass Menschen sich keine Familie wünschen. Grundsätzlich verschiebt sich primär bei höher gebildeten Paaren der Wunsch Eltern zu werden ein wenig nach hinten, wenn wir dies im historischen Kontext betrachten.
Wie beeinflussen die Trends wie Individualisierung, Work-Life-Balance und Selbstverwirklichung die Geburtenrate?
Die beeinflussen diese sicher auch. Aber es gibt auch heute einen großen Anteil von Individuen, die sich ein Leben in der Familie wünschen. Mitnichten ist es so, dass wir nur noch eine Gesellschaft von Egoisten sind. Eigentlich muss sich Politik fragen, warum in Deutschland viele ihren Kinderwunsch, der ja durchaus vorhanden ist, nicht umsetzen. Das hat eben viel damit zu tun, wie sich Paare zutrauen, das Modell Familie zu leben.
Welche Rolle spielt die zunehmende Technologisierung mit Blick auf Kinderwunschbehandlung und künstlicher Befruchtung für die Geburtenrate und die Entscheidung für ein Kind?
Kinderwunschbehandlungen helfen, Kinderwünsche umzusetzen, aber es ist immer noch ein relativ kleiner Anteil im Vergleich zu den Gesamtgeburten. Mit dem technischen Fortschritt nehmen die Möglichkeiten der künstlichen Befruchtung zu beziehungsweise werden die Methoden weiterentwickelt, das ist wichtig für Paare, die sich für diese Methoden entscheiden.