Schon als Kind wusste Olivia Lina Gasche, dass sie Schauspielerin werden will. Mittlerweile steht die gebürtige Schweizerin auch hinter der Kamera und hat für ihren Kurzfilm „Morgan“ 2020 den Jurypreis „Best Director“ auf dem Kliffs-Filmfestival gewonnen.
Sich ausgerechnet für den Beruf der Schauspielerin zu entscheiden, ist wohl in den wenigsten Fällen eine Frage rationaler Abwägung, lang anhaltender Zögerlichkeit und ewigen Selbstzweifels. Es ist im eigentlichen Sinne des Wortes das Gefühl einer Berufung, einer inneren Überzeugung, genau das Richtige zu tun, allem Wenn und Aber zum Trotz.
So war und ist es auch bei Olivia Lina Gasche, Jahrgang 1988, geboren im kleinstädtischen Solothurn in der Schweiz. Als junges Mädchen interessierte sie sich zunächst für viele Berufe: Archäologin wäre spannend, Ärztin wohl auch und in der Schule begeisterte sie sich für Kunst und Malerei, für Sport und Mathematik. Ein waches, aufgeschlossenes Kind, gerne mit den Nachbarkindern an der frischen Luft und kein Baum zu hoch, um nicht erklettert zu werden.
Aber als sie die ersten Male im Fernsehen Filme sieht und im Stadttheater gebannt eine Pippi-Langstrumpf-Aufführung verfolgt, spürt sie eine merkwürdige Faszination. Wie machen die Schauspieler das, wie gelingt es ihnen, die Zuschauer in eine andere Welt eintauchen zu lassen? Und ihrer Mutter erklärt sie entschlossen: Das will ich auch machen! Mit ihrer Mutter kann sie darüber offen reden, denn die bewundert sie. Weil sie vorlebt, wozu sie ihre Tochter erzieht. Andere Menschen mit Achtung zu behandeln, demütig zu bleiben. Olivias Mutter arbeitet mit kognitiv eingeschränkten Menschen, sie betreut jene, die vom Schicksal gebeutelt sind, Zuneigung und Respekt sind für sie Grundlage für Mitmenschlichkeit. Diese Werte, die ihr als Jugendliche vermittelt werden, schlagen sich später in Olivias Arbeit als ausgebildete Schauspielerin und in ihren Rollen immer wieder nieder. Wenn sie ernste Rollen spielt, haben diese stets etwas mit dem Ringen um Würde zu tun. Ihr eigener Kurzfilm „Morgan“, für den sie 2020 den Jurypreis „Best Director“ auf dem Kliffs-Filmfestival erhält, gewährt einen Einblick in das Leben einer jungen Frau, die mit sich selbst hadert und um Selbstachtung ringt.
Lernt zunächst Bürokauffrau
An eigenen schmerzlichen Erfahrungen mangelt es Olivia nicht. In der Grundschule wird sie von anderen Kindern gemobbt und erst mit dem Übergang auf das Gymnasium kann sie diese üblen Erfahrungen hinter sich lassen. Dort nimmt sie an einem Theaterkurs teil, behauptet und probiert sich erfolgreich aus. Mit 18 Jahren bekommt sie eine Nebenrolle in einem Freilichttheater und in einem weiteren Theaterstück spielt sie dann die Hauptrolle. Nun hat sie richtig Blut geleckt. Doch um abgesichert zu sein, besucht sie erst einmal die höhere Handelsschule, wird Bürokauffrau und absolviert ein Praktikum bei einer Immobilienfirma. Mit Leidenschaft hat das nicht allzu viel zu tun, die professionelle Schauspielerei bleibt ihr Ziel. Ihre Mutter ist zunächst nicht wirklich begeistert, als ihre 18-jährige Tochter auf eigene Faust für kurze Zeit nach Los Angeles aufbricht. Olivia ist einfach neugierig, wie man in den USA Film und Theater macht. Auch wenn die dortige Mentalität nicht ihr Ding ist, gibt es nun nach ihrer Rückkehr kein Halten mehr. Sie will Schauspielerin werden, unbedingt, denn das macht ihr Spaß und Freude und sie beginnt ihr Schauspielstudium in Zürich. Doch weil sie Geld braucht, arbeitet sie nebenbei in einem Supermarkt an der Kasse, bei McDonald’s oder abends in der Gastronomie. Sie vergisst niemals, wie hart normale Leute schuften und sich durchschlagen müssen, und auch das prägt später das Verständnis ihres Traumberufs. Abgehobenheit von der Realität, Traumwelten und Starallüren bleiben ihr fremd. 2013 schließt sie die Schauspielschule erfolgreich ab.
Wie oft nun hört sie die leicht bedauernde Bemerkung, sie habe sich für eine „brotlose Kunst“ entschieden, gerade so, als sei das Schauspiel kein wirklich echter Beruf, ausgeübt am Rande des Existenzminimums. Sie lacht darüber. Zwar finde man in ihrer Branche die Sicherheit einer lebenslangen Festanstellung eher nicht, dafür aber fasziniere ihr Beruf durch seine unglaubliche Vielfältigkeit und Möglichkeiten. Das ist Olivia wichtig. Schon während ihrer Zeit an der Schauspielschule taucht sie ein und versucht sich in der Welt einer Filmproduktion. Sie selbst übernimmt Statistenrollen und probiert Szenen, in denen sie nicht nur vor, sondern auch hinter der Kamera steht. Wie beeindruckt sie darüber ist, dass sich aus all den Puzzleteilen ein künstlerisches Gesamtwerk fügt. Was treibt sie an? Lust und Leidenschaft, offen bleiben, um alles spielen und sich in jede Figur verwandeln zu können, harte Arbeit. Denn als Schauspielerin muss sie sich penibel vorbereiten, den Hintergrund einer Rolle recherchieren, flexibel bleiben, Angebote machen und eben auch vom Regisseur Anweisungen entgegennehmen, eigene Ideen verwerfen können. Zusammen mit Freunden dreht sie Kurzfilme, nimmt an Wettbewerben teil, spielt in einem Improvisationstheater, gründet in Zürich mit anderen einen Kulturverein. Und nebenbei jobbt sie, um Geld zu verdienen. An einem Freilichttheater arbeitet sie als Regieassistentin, übernimmt dort später auch eine Rolle, sammelt Material von ihrer Arbeit. Denn ohne etwas vorweisen zu können, ist ein Casting, eine Besetzung unmöglich.
Ein mutiger Schritt nach Berlin
Die Zeit ist reif für einen richtigen Film. „Lass die Alten sterben“ kommt 2017 in die Schweizer Kinos. Hier spielt sie die Rolle einer Mutter, die in einer Punk-Kommune lebt. Doch da lebt sie schon aus dem Koffer und zieht weiter nach Berlin. Ausgerechnet im Winter, wo in Berlin alles grau, nasskalt und gut für Depressionen ist. Aber sie hat Lust auf etwas Neues. Ein mutiger Schritt, anfangs eine schwierige Zeit, denn an der Spree wartet niemand auf sie. Olivia sucht neue Herausforderungen, will sich weiterentwickeln. Dazu gehören nun auch psycho-physische Übungen nach Chekhov, die ihr einen neuen emotionalen und körperlichen Zugang zu künftigen Rollen ermöglichen. In „How to win Cannes in 5 easy steps“ steht sie vor und hinter der Kamera, hier geht es um Konflikte zwischen Schauspielern und einem narzisstischen Regisseur, der um jeden Preis den Erfolg und endgültigen Durchbruch sucht. Die Produktion wurde beim MDR gezeigt und war bis letztes Jahr in der ARD-Mediathek zu sehen.
Olivia selbst glaubt kaum und hofft auch nicht auf eine plötzliche, einzigartige Wende zum Erfolg. Für sie zählt eher jeder einzelne Schritt, jede Stufe eigener schauspielerischer Entwicklung, um Vertrauen für größere Rollen und Aufträge zu gewinnen. An sich arbeiten, sein Handwerk ständig und mit zäher Leidenschaft zu verbessern, nur das zählt wirklich für sie und ihren Beruf. Im motivierenden Austausch mit ihrer Berliner Agentin Celina von der Lancken (Nisha PR & Management) schickt sie ihre Arbeiten und Projekte an Castingfirmen, sie muss etwas vorzeigen können und gesehen werden – ein langer, steiniger Weg. 2021 gelingt ihr neben Rollen in „Doktor Ballouz“, „Das Haus der Träume“ und „Strafe – nach Ferdinand von Schirach“ etwas ganz und gar Außergewöhnliches. Sie arbeitet intensiv mit an dem beeindruckenden Dokumentarfilm „Glass World – Nature & Human“, der mit intensiven Bildern kritisch das Verhältnis der Menschen zur Schöpfung der Natur hinterfragt.
Gerade weil sie kaum an einen spektakulären „Durchbruch“ glaubt, sieht sie sich auf einem guten Weg. Wer Olivia begegnet, ist beeindruckt von ihrer Zähigkeit, ihrem Ernst und ihrem Humor. Die kindliche Fantasie nicht zu verlieren, ist ihr wichtig und ebenso ein Umgang miteinander, der nicht von Neid und Missgunst, sondern von Freude, Aufmerksamkeit und gegenseitiger Unterstützung geprägt ist. Das gilt für sie im Privaten wie auch in der Filmbranche.