Jan-Christoph Oetjen ist Vizepräsident des Europäischen Parlaments und als FDP-Politiker Mitglied der Fraktion „Renew Europe“. Im Interview spricht er über die Herausforderungen, vor denen die europäische Ebene steht, warum liberale Politik immer bedeutsamer wird und wieso Entbürokratisierung so wichtig ist.
Herr Oetjen, was bedeutet Europa für Sie?
Europa ist für mich vor allen Dingen gelebte Freiheit. Denn wir leben heute in einem Europa, in dem man leben kann, wo man will, arbeiten kann, wo man will, studieren kann, wo man will, heiraten kann, wen man will. Die Europäische Union verteidigt diese Rechte und Freiheiten.
Wo sehen Sie denn die größten Herausforderungen der EU in den kommenden Jahren?
Ich glaube, dass wir zwei große Herausforderungen haben. Das eine ist, unsere Wettbewerbsfähigkeit wiederzugewinnen. Wir haben in den letzten Jahren gesehen, dass die Wettbewerbsfähigkeit Europas zurückgegangen ist. Das hat mit Regulierung aus Brüssel zu tun, aber auch mit hohen Energiekosten und ähnlichen Dingen. Die Wettbewerbsfähigkeit nicht erhalten, heißt, dass Arbeitsplätze drohen, verloren zu gehen, und mit Arbeitsplätzen Familieneinkommen, Steuereinnahmen und unser Wohlstand damit schwindet. Das andere ist, Europa gegenüber seinen Gegnern zu verteidigen – von innen und von außen. Deswegen ist auch Marie-Agnes Strack-Zimmermann die Spitzenkandidatin für die FDP, weil wir der Überzeugung sind, dass wir beim Thema Verteidigung in Europa viel enger zusammenarbeiten müssen.
Sie haben es ja schon angeschnitten: Marie-Agnes Strack-Zimmermann hat ihren Fokus unter anderem auf die Verteidigung gelegt. Dabei fordert sie auch eine europäische Armee. Wie sehen Sie das?
Ich bin der Überzeugung, dass eine gemeinsame europäische Armee langfristig das richtige Ziel ist und vor allen Dingen auch eine Versicherung der europäischen Staaten gegenüber sich selbst. Wir wollen nie wieder gegeneinander Krieg führen. Und die beste Methode, das zu verhindern, ist, dass wir eine gemeinsame Armee haben. Aber dafür müssen natürlich ganz viele Schritte gemacht werden. Wir starten jetzt mit solchen Dingen wie gemeinsamer Beschaffung und gemeinsamer Forschung. Das ist auch richtig so. Ich glaube, dass nun dazukommen muss, dass wir gemeinsame Einheiten aufstellen. Eine schnelle Eingriffsgruppe beispielsweise. Dazu muss aber auch kommen, dass wir gemeinsame Waffensysteme entwickeln und dass wir viel stärker kooperieren. Eine europäische Armee lässt sich nicht von heute auf morgen aufstellen, aber uns langfristig dahin zu entwickeln, ist wichtig.
Der Krieg in der Ukraine hat das Thema auch wieder ganz nah an die Europäische Union gerückt. Wie muss die EU mit dieser Situation, aber auch der sich zuspitzenden Lage im Nahen Osten umgehen?
Wichtig ist es, die Geschlossenheit der Europäischen Union nach vorne zu stellen. Und diese Geschlossenheit ist ja auch da, auch wenn Einzelne ab und an mal kritisch sind, Stichwort Viktor Orbán aus Ungarn. Aber im Großen und Ganzen sind wir uns einig, in welche Richtung es gehen soll, und diese Einigkeit ist extrem wichtig. Aber der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine hat auch gezeigt, dass wir als Europäer nach wie vor verteidigungspolitisch von den Amerikanern abhängig sind. Uns da stärker unabhängig zu machen, auch gerade vor dem Hintergrund, was in den Vereinigten Staaten bei der nächsten Präsidentschaftswahl passieren könnte, ist aus meiner Sicht sehr, sehr wichtig. Das Thema des Nahen Ostens ist da stärker umstritten in der Europäischen Union, auch gerade aufgrund verschiedener geschichtlicher Hintergründe der verschiedenen Mitgliedsstaaten. Als Deutsche haben wir eine historische Verantwortung, an der Seite Israels zu stehen, und gerade die aktuellen Angriffe des Iran auf Israel haben gezeigt, dass die internationale Gemeinschaft ebenfalls an der Seite Israels steht. Auch in Zukunft darf das nie infrage gestellt werden.
Sie sprachen Ungarn ja bereits am Rande an. Immer häufiger wird ein gewisser Rechtsruck in verschiedenen EU-Mitgliedstaaten bemängelt. Wie sehen Sie das?
In der Tat gibt es in einigen Ländern eine politische Verschiebung – und das nicht nur innerhalb der EU. Ich glaube nicht, dass es die Lösung ist, dass wir aus der politischen Mitte heraus das wiederholen oder versuchen nachzuahmen, was am rechten Rand gesagt wird. Aber auf der anderen Seite kann es auch keine Lösung sein, Probleme wegzudiskutieren oder wegwischen zu wollen. Ich glaube, das beste Mittel gegen Politikverdrossenheit und gegen das Verstärken der Extreme ist es, die Probleme, die da sind, tatsächlich praktisch zu lösen. Wenn ich mir beispielsweise das Thema Migration anschaue, was ja sozusagen ein Treiber von Menschen ist, die unzufrieden sind. Gerade beim Thema Migration haben wir in der vergangenen Woche einen historischen Erfolg auf den Weg gebracht. Wir haben es geschafft, das gemeinsame europäische Asyl- und Migrationssystem zu reformieren, das dafür sorgt, dass wir stärkere Kontrollen an den europäischen Außengrenzen bekommen. Das ist beispielsweise Teil eines Testrezepts dafür, wie wir die Extremen kleinhalten können.
Macht diese Verschiebung in die extreme Richtung vielleicht auch liberale Politik wichtiger denn je?
Davon bin ich überzeugt. Wir leben in komplizierten Zeiten mit komplizierten Fragestellungen. Und komplizierte Fragestellungen benötigen differenzierte Antworten. Eine einfache Antwort auf eine schwierige Frage ist meistens die falsche Antwort. Die Werte der Europäischen Union, die Freiheit in der Europäischen Union, die Rechtsstaatlichkeit hochzuhalten, ist gerade in Zeiten, wo wir auch von innen die Bedrohung auf die Errungenschaften der EU haben, umso wichtiger und deswegen braucht es auch starke Liberale im Europäischen Parlament.
Wie schwierig ist es, die verschiedenen politischen Interessen der liberalen Parteien am Ende in Form einer Fraktion – in Ihren Fall der Renew Europe – zu bündeln?
Es gibt in den verschiedenen Ländern der Europäischen Union unterschiedliche politische Kulturen, unterschiedliche Geschichten, unterschiedliche Herangehensweisen an Probleme. Und diese Unterschiede finden sich in allen politischen Fraktionen im Europäischen Parlament, da bilden die Liberalen keine Ausnahme. Wir sind uns aber in den wichtigen Punkten im Kern einig. Zum Beispiel darin, dass wir Europa und dessen Errungenschaften verteidigen müssen. Beispielsweise gegenüber denjenigen, die zum Teil mithilfe ausländischer Kräfte versuchen, die Meinung in der Europäischen Union zu beeinflussen und deren politische Kultur zu untergraben. Und da kämpfen wir gemeinsam als Liberale. Auch wenn es immer mal politische Unterschiede in einzelnen Sachfragestellungen gibt, so ist doch der gemeinsame Wertekanon vorhanden und wird gemeinsam verteidigt.
Stichwort gemeinsam: Wie würden Sie dann die Zusammenarbeit zwischen dem EU-Parlament und den nationalen Parlamenten beschreiben?
„Ausbaufähig“ ist das, was mir da spontan einfällt. Natürlich arbeiten wir beispielsweise mit den Kollegen im Deutschen Bundestag eng zusammen, aber wir haben doch auch viele Themenfelder, wo wir zwischen EU-Parlament auf der einen Seite und der Herangehensweise aus den Mitgliedstaaten deutliche Diskrepanzen haben. Die zu überbrücken ist manchmal auch schwierig. Wenn uns das dann gelingt, wie beispielsweise beim Asyl- und Migrationspakt, dann kommen auch gute Ergebnisse dabei heraus. Manchmal haben wir in Brüssel Themen schon entschieden, bevor sie dann auf der nationalen Ebene diskutiert werden. Dieser zeitliche Unterschied, der damit zusammenhängt, dass europäische Regelungen erst später im nationalen Recht umgesetzt werden müssen, macht es manchmal schwierig in der Kommunikation.
Sehen Sie darin auch einen der Gründe, warum die Beteiligung an den Europawahlen länderübergreifend eher mäßig ausfällt?
Nein, ich glaube, das liegt eher daran, dass Bürgerinnen und Bürger nicht auf den ersten Blick erkennen, wofür die europäische Ebene wichtig ist. Ganz viele Entscheidungen in Brüssel haben direkte Auswirkungen auf die Lebenswirklichkeit der Menschen. Migration ist jetzt ein großes Thema, aber da geht es bis hin zu den kleinen Dingen: Dass man keine Roaming-Gebühren mehr bezahlen muss in der Europäischen Union, dass alle Smartphones einen einheitlichen Stecker bekommen. Oftmals ist das gar nicht so bekannt und das führt dazu, dass Bürgerinnen und Bürger denken, die europäische Ebene ist nicht wichtig. Aber das Gegenteil ist der Fall. Gerade die europäische Ebene ist eine wichtige Ebene in einer Zeit, in der es politische Kräfte gibt, die diese Europäische Union und ihre Errungenschaften abschaffen wollen. Es ist wichtig, gerade im Europäischen Parlament Demokraten stark zu machen und sich an Wahlen zu beteiligen.
Muss die EU vielleicht auch ein Stück weit bürgernäher werden, damit das auch ankommt?
Ja, bürgernäher und vor allen Dingen unkomplizierter. Häufig haben die Bürgerinnen und Bürger das Gefühl, da werden bürokratische Entscheidungen getroffen, die sie im Betrieb, in der Arbeit oder im Verein belasten. Wir machen die Sachen zu kompliziert in Brüssel. Das heißt nicht, dass sie nicht wichtig sind, aber das heißt, dass es eigentlich auch andere Wege gäbe, sie zu lösen. Unbürokratischer, einfacher. Da müssen wir dringend ran. Wir als Freie Demokraten wünschen uns eine Entbürokratisierungsoffensive von der europäischen Ebene. Aber unter Ursula von der Leyen ist an dieser Baustelle so gut wie gar nichts passiert.